Fragmente der Immersion: Viraler Paranoia Punk trifft auf meine Corona-Leseliste

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Abschottungs-Masken

Auch Zeiten wie diese haben ihren Humor. Akzente des Humorvollen, Facetten des Lächerlichen und Komischen zeigen sich hier und da in einigen flüchtigen Momenten, in einem kurzzeitigen Vergessen dieser merkwürdigen, schwer beschreibbaren „Krise“. In ihnen wird die Unsinnigkeit, das Komische, vielleicht auch Verzweifelte dieser krisenhaften Situation sichtbar. Ich denke hierbei an die viral gewordenen Bilder all der selbstgebauten Abschottungs-Masken aber auch an die in manchen Youtube-Videos implementierte Erinnerung an die aus Plexiglas bestehende, beheizbare Grippe-Abwehr-Haube, die einst von einem Franzosen zu Beginn der 1960er erfunden wurde. Virus-Performanzen der eigenen Art.

Es gibt einen Teil in mir, der diese selbst gebauten Plastik-Helme und die dahinterstehenden Macher*innen faszinierend, vielleicht nahezu avantgardistisch findet. Schließlich kommt es seitens der Macher*innen zur kreativen Wieder-Nutzung von Material, zu einem Anti-Gebrauch gegen Einmalverwendung, zu einer Erweiterung der Wege einer angedachten Nutzung, zur Erfindung und Umsetzung von Schutzmöglichkeiten ohne großen Arbeits-, Produktions-, und Kapitalaufwand. DIY-Taktiken, die die Unmöglichkeit des Schutzversprechens des Nationalstaates aufzeigen. Paranoia-Punk in Zeiten von Corona.

Der Zweck dieser Masken ist offen-sichtlich: Schutz durch Isolierung, Abtrennung, Abspaltung, Einkapselung. Schutz vor den unsichtbaren, nicht menschlichen Entitäten einer global geteilten Welt, die – hervorgebracht von kapitalistischen Produktionsprozessen und deren immanenten Ungleichverteilungen – nun selbst in Gefahr zu geraten scheint. Und mit ihr zuallererst die Subjekte, die von diesem System kaum bis wenig profitieren.

Aber im Corona-Stimmengewirr gibt es auch andere Aussagen. Beispielsweise hebt der Intendant des HKW, Bernd Scherer, in einem im März für die Zeitschrift Tip gegebenen Interview die Unmöglichkeit des Entkommens, die Ausweglosigkeit der Flucht für alle Menschen gleichermaßen hervor. „Wir sind immer mittendrin“, äußert er und verbindet diese Innen-Außen-Dichotomie im Zeitalter des Anthropozäns mit Corona. Das Virus bringe uns die Erfahrung des Anthropozäns nahe, indem es „die planetarische Dimension unseres Handelns“ erfahrbar mache.

Ich habe ein großes Begehren dafür, dass die Pronomen „wir“ oder „unser“ irgendwann einmal Ausdrucksformen bekommen werden, die auf Dissonanzen im Chor der Gleichheit hinweisen, um komplexere Rahmungen, Gefüge und Geschichten hörbar sowie sichtbar zu machen und um schließlich einer universalistischen Vereinnahmungs-Maschine zu entgehen. Merkwürdige Zeiten wie diese reichern dieses Begehren in mir an.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Incidents_pirated_british_edition_1862.jpg

Unknown artist, Hodson & Son publishers / Public domain

Abschottung vor einem inhumanen System

In den letzten Wochen habe ich die Geschichte der Harriet Jacobs gelesen. „Incidents in the Life of a Slave Girl“ ist die in Worte transformierte Autobiografie von Jacobs, die 1861 erschienen ist. Das Buch, das wahrscheinlich zur Standardliteratur in amerikanischen Schulen gehört, beschreibt nicht nur die Ungeheuerlichkeit des Systems Sklaverei, sondern vor allem auch den Versuch, diesem zu entkommen. Sieben Jahre ihrer Flucht verbrachte Harriet Jacobs in einem winzig kleinen Dachboden-Raum im Haus ihrer Großmutter, um dort vor einem weißen, männlichen, besitzergreifenden Tyrannen und dessen Netz der Tyrannei Schutz zu suchen. Endziel war die Flucht in die Nordstaaten. Auf Wikipedia kursiert das Bild einer nicht offiziellen Ausgabe des Buches von 1862, auf dem die Einkapselung von Harriet Jacobs, ihre schmerzliche Abkapselung und Abtrennung von der Welt der Südstaaten während ihres langwierigen Versteckens gezeigt wird. Harriet Jacobs isolierte sich von einem System, in das das janusköpfige Gesicht der Moderne eingeschrieben ist. Sie kapselt sich von einem zweischneidigen Gebilde des Inhumanen ab, das auch heute noch im Versprechen der Gleichheit und Freiheit für alle die Ungleichheit des Systems Mensch-Menschlichkeit-Unterwerfung verdeckt und dadurch immer wieder hervorbringt.

Situierung

Es ist natürlich kein Zufall, dass ich mich als Theaterwissenschaftlerin für Formen und Performanzen der Abkapselung, Abtrennung und Isolation interessiere. Vordergründig scheinen sie zunächst einen Gegenpol zu dem, was in einem relativ umgangssprachlichen Verständnis unter dem Begriff Immersion (=Eintauchen) verhandelt wird, zu bilden. Es zeigt sich aber, dass es eine Vielzahl an immersiven Strategien gibt, die einen Einschluss der Betrachter*innen, eine Abkapselung und Distanz einfordern. Das Phänomen Immersion ist in derartigen Spannungsverhältnissen situiert. Aber Spannungsverhältnisse allein sagen noch nichts über die klebrigen Färbungen der Geschichte aus, die bis heute die Gegenwart tönen. Erst wenn ihre Varianz als ein Ausgangspunkt genommen wird, kann die Un/Einheitlichkeit der Pronomen „wir“ oder „unser“ kenntlich und mit ihr andere Äußerungsgefüge möglich werden – und das auch im Diskurs Immersion.

 

Literatur:

Jacobs, Harriet (2014): Incidents in the Life of a Slave Girl, 1861 Edition. Breslau: CreateSpace Independent Publishing Platform.

Links:

AV Your Source of news and entertainment: The Most 35 DIY Hilarious Protective Equipment People Decided To Wear During Coronavirus Outbreak. Upload vom 02.04.2020. https://www.awkwardvibes.com/30-funny-diy-protective-equipment-against-coronavirus/ Aufgerufen am 22.04.2020

Neue Deutsche Wochenschau 613/1961 vom 27.10.1961. Online auf: https://www.filmothek.bundesarchiv.de/video/586509?start=00%3A03%3A34.17&end=00%3A04%3A00.06 Aufgerufen am 22.04.2020

Wahjudi, Claudia: Kultur in Berlin am Kipp-Punkt: Bernd Scherer im Gespräch über Corona und die Auswirkungen. 21.03.2020. https://www.tip-berlin.de/kultur-am-kipp-punkt-bernd-scherer-uber-corona-und-die-auswirkungen/?fbclid=IwAR2h1ya0m_Rwnkb4Put81zGi6Nh2RJyCGIQy4tMT8oeAzB34eT_Zwz8DKFQAufgerufen am 22.04.2020