Das vietnamesisch geprägte Leben in Deutschland ist wesentlich mehr als nur gutes Essen. Es ist bunt, vielgestaltig, einfallsreich und eine enorme Bereicherung für dieses Land. In loser Folge wird Prof. Dr. Birgitt Röttger-Rössler ab November 2019 unter dem Übertitel „Vietdeutsche(s) Leben“ Einblicke in die Vielfalt geben und von unterschiedlichen Veranstaltungen, Filmen, Theaterbesuchen, Netzwerktreffen und Gesprächen berichten.
Eine Detonation und dann kommt Rauch auf uns zu, immer näher, immer dichter, bedrückender, beengender, undurchdringlich, Brandgeruch – schließlich lichtet sich der Rauch ein wenig und gibt den Blick frei auf Flammen, die an einem Gebäude hochlecken, und auf menschliche Silhouetten.
Es ist der 4. November 2019 und ich sitze gemeinsam mit einer Freundin in der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Gespielt wird das Stück „Danke Deutschland“ von Sanja Mitrović, welches die Geschichte der vietnamesischen Gemeinschaften in Deutschland und die zwischen ihnen existente Kluft thematisiert. So wird zum einen der Weg der südvietnamesischen „Boatpeople“ vergegenwärtigt, die ab 1975 nach der Übernahme ihres Landesteils durch das kommunistische Regime in Booten über das süd-chinesische Meer flüchteten und im Rahmen von Hilfsprogrammen des UNHCR in die BRD gelangten. Zum anderen wird der Migrationsweg und die Lebenssituation der (zumeist aus Nordvietnam stammenden) Vietnames*innen skizziert, die in den 1980er Jahren als temporäre Vertragsarbeiter*innen in die ehemalige DDR kamen und nach dem Mauerfall in Deutschland blieben. Während den Bootsflüchtlingen durch vielfältige Hilfsprogramme die Integration in deutsche Lebensverhältnisse erleichtert werden sollte, sah das bilaterale Abkommen zwischen den sozialistischen „Bruderländern“ DDR und Vietnam keinerlei Integration vor: die Vertragsarbeiter*innen wurden in betriebseigenen Wohnheimen untergebracht, ihre Aufenthaltsgenehmigung war auf fünf Jahre befristet und schloss Familienzusammenführung ebenso wie Familiengründungen aus, auch Kontakte zur ehemaligen DDR-Bevölkerung waren unerwünscht. Bis heute gibt es zwischen den Communities der einstigen Bootsflüchtlinge und Vertragsarbeiter*innen kaum Berührungen. Die Gruppen trennen unterschiedliche Migrationswege und Ankunftserfahrungen, die mit der politischen Geschichte Vietnams sowie Deutschlands eng verzahnt sind. Im Rahmen dieser Aufführung kommen sie jedoch auf der Bühne zusammen und treten in einen Dialog.
Das Stück beginnt mit der Darstellung des Brandanschlags auf eine Asylunterkunft in Hamburg-Billbrook im Jahr 1980 durch Angehörige der rechtsextremen Terrorzelle „Deutsche Aktionsgruppen“, bei dem zwei junge Vietnamesen zu Tode kamen. Ihr qualvoller Tod infolge der erlittenen Verbrennungen wird in einer Tanz-Sequenz von Denis Kuhnert verdichtet und in einer Intensität verkörpert, die beklemmend wirkt.
Ausgehend von diesem Anschlag spannt das Recherche-Stück den Bogen zum Brand des Sonnenblumenhauses in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992. Projiziertes Bild- und Video-Material erinnert an die Geschehnisse, die zu den rassistisch motivierten Ausschreitungen führten, in deren Folge das Sonnenblumenhaus, in dem ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter wohnten, durch Molotowcocktails in Brand geriet.
Zwischen die szenische Verarbeitung dieser beiden Ereignisse sind mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters vielfältige Einblicke in die Diversität vietnamesisch-deutscher Wirklichkeiten montiert. Die Regisseurin Sanja Mitrović verwebt in diesem Stück, das wie die meisten ihrer Produktionen an der Schnittfläche von Drama, Tanz, Performance und visueller Kunst angesiedelt ist, Archivmaterial, Zeitzeugenberichte sowie Lebensgeschichten und persönliche Fotografien von Darstellerinnen aus den vietnamesischen Communities Deutschlands zu einer eindrücklichen Beschreibung ihrer unterschiedlichen Migrationswege nach sowie verschiedenen Lebenswelten in Deutschland. Das Stück wird gespielt vom Ensemble der Schaubühne sowie von Laienschauspielerinnen, die den beiden vietnamesischen Communities angehören und auf der Bühne Einblicke in ihre persönlichen Biografien geben.
Die eindringliche Vergegenwärtigung der Geschehnisse in Hamburg-Billbrook und in Rostock-Lichtenhagen, das die persönlichen Erzählungen rahmt, bewirkt, dass die Zuschauer*innen diese nicht losgelöst von einer rassistischen Grundbedrohung wahrnehmen können, die als affektive Konstante das Leben von nach Deutschland migrierten oder geflüchteten Menschen prägt. Vor diesem Hintergrund wird auch die Dankbarkeit gegenüber Deutschland fragwürdig, die z.B. vietnamesische Bootsflüchtlinge motivierte, den Verein „Danke Deutschland e.V.“ zu gründen; die aber auch – ihren eigenen Aussagen zufolge – viele der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen empfanden, da Deutschland ihnen Chancen bot, die sie in Vietnam nicht hatten. Die Frage der Dankbarkeit gegenüber Deutschland versucht das Stück nicht eindeutig zu beantworten, sie wird mal ironisiert, mal kritisiert als implizite Unterwerfung, dann aber auch als verständliches Gefühl zugelassen. Gerade durch diese Ambivalenz regt die Inszenierung zur Auseinandersetzung mit dem titelgebenden Topos der Dankbarkeit an.
Das Thema Dankbarkeit steht auch im Mittelpunkt unseres Gesprächs mit Mai Phu’o‘ng Kollath, einer der Hauptdarstellerinnen, mit der wir im Anschluss noch auf ein Glas Wein verabredet sind. Mai Phu’o‘ng Kollath ist eine der Laienschauspielerinnen in der Produktion. Sie kam 1981 als Vertragsarbeiterin in die DDR und wohnte selbst etliche Jahre im Sonnenblumenhaus. Sie erzählt, dass viele Vertragsarbeiter*innen sehr dankbar waren für die Möglichkeit nach Deutschland zu gehen, der heimatlichen Enge und schwierigen Situation im Vietnam der 1980er Jahre zu entkommen und die Lebensverhältnisse in der DDR vor diesem Hintergrund als „absolut paradiesisch“ empfanden. Während in dem Theaterstück Dankbarkeit als ein den vietnamesischen Einwanderern – insbesondere den „Boatpeople“ – auferlegtes Gebot dargestellt und als Herrschaftsgestus kritisiert wird, hebt Mai Phu’o’ng hervor, dass die von vielen Vietnames*innen gezeigte Dankbarkeit keineswegs nur als reaktives Verhalten, sondern als aktive Strategie anzusehen sei. Zurückhaltend, unauffällig, freundlich, dankbar zu sein und „das Essen immer mit einem Lächeln zu servieren“ – wie es in dem Recherche-Stück heißt – habe sich als Mittel bewährt, um sich abzuschotten und in diesen spezifischen Migrationsregimen zurechtzukommen. Keine Reibungsflächen zu bieten, leise zu sein und sich politisch nicht einzumischen sei zentraler Bestandteil dieser „Strategie der Unsichtbarkeit“. Mai Phu’o’ng sieht diese Taktik kritisch. Sie selbst engagiert sich, mischt sich ein, durchbricht das Schweigen, mit dem vietnamesische Migrant*innen ihre vielfachen Verletzungen, Ausgrenzungen und Leiderfahrungen überdecken. So spricht sie nicht nur auf der Schaubühne über bisher Beschwiegenes und steht z.B. auch In der Inszenierung „Atlas des Kommunismus“ in der Regie von Lola Arias am Berliner Gorki Theater auf der Bühne, sondern wirkt auch in dem Dokumentarfilm „Der zweite Anschlag“ von Mala Reinhardt mit, der sich mit den Morden der NSU-Terrorzelle auseinandersetzt. Viele aus ihrer Generation, erzählt sie, würden ihre Haltung nicht nachvollziehen können. Sie seien der Ansicht, dass man die Vergangenheit besser ruhen lassen und sich auf die Zukunft konzentrieren solle, was sich auch auf in Vietnam erlittene Verletzungen erstreckt. Eine Einstellung, die sich in vielen (Nach-)Kriegsgenerationen zeigt und durchaus verständlich ist.
Kritisiert wird diese doppelte Form aktiver Unsichtbarkeit auch von der jüngeren Generation, die ihren Eltern ein hohes Maß innerfamiliären Schweigens und mangelnde Bereitschaft zu politischer Partizipation vorwerfen. Sie wünschen sich mehr von den Lebenswegen und Verletzlichkeiten ihrer Eltern zu erfahren und hinterfragen zunehmend die strikte Trennung der beiden vietnamesischen Communities. Und sie beginnen auf vielfältige und sehr kreative Weise, die Unsichtbarkeit zu überwinden, sei es in Form von Filmen wie „Obst und Gemüse“ oder „Entwurzelt“ des Regisseurs Duc Ngo Ngoc, von Ausstellungen wie z.B. „No War No Vietnam“, von Buchveröffentlichungen wie z.B. „Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond“ von Kien Nghi Ha, von Podcasts wie z.B. „Rice and Shine“ von Vanessa Vu und Minh Thu Tran oder auch in Form der Gründung gemeinnütziger Gesellschaften wie z.B. dem „VLab Berlin“ von Dieu Linh Daò und Julia Behrens, das sich dem vietnamesisch-deutschen Kulturtransfer verschrieben hat. Vieles mehr ließe sich hier noch ergänzen.