Ich falle heute auf ganz ungewohnte Weise direkt mit der Tür ins Haus und beginne mit einem Aufruf: Liebe Leser*innen, bucht euch einen Slot für die Produktion „Parzelle 62“ von Barbara Lenartz, koproduziert vom Berliner Ballhaus Ost. Am besten sofort. Die immersive Rauminstallation ist noch bis zum 8. Dezember 2019 für Besucher*innen geöffnet und die Tram-Fahrt nach Berlin-Weißensee lohnt sich. Wer sich im Dunklen gruselt, der möge einen Nachmittagsslot wählen. Sonst überdeckt Unwohlsein möglicherweise den offenen Vorgang des Entdeckens und das wäre schade. Schon überzeugt? Dann jetzt bitte aufhören zu lesen. Ehrlich. Denn für alles Weitere gilt eine Spoiler-Warnung: es beschreibt, erklärt, nimmt vorweg, mutmaßt und wird ziemlich sicher die eigenen Wahrnehmungen vor Ort beeinflussen und das wäre schade.
Zu Gast in der Kleingarten-Kolonie „Grüne Wiese“
Meinem Besuch in der titelgebenden Parzelle Nummer 62 in der Kleingartenanlage „Grüne Wiese“ in Berlin-Weißensee geht ein E-Mailkontakt mit Parzellen-Besitzer Dieter Pe voraus. Unter dem Mail-Namen „Wahrheitssucher62“ bedankt er sich für meine Unterstützung, erklärt mir, wie ich Zugang zu seiner Parzelle finde und lädt mich ein, vorweg seinen Blog zu konsultieren. Dieser lässt vermuten, dass Dieter einen Hang zu Verschwörungstheorien hat und offenbar etwas herausgefunden hat, das er mit mir und anderen Parzellen-Besucher*innen teilen möchte. Also mache ich mich am 22. November um 14 Uhr auf den Weg nach Weißensee.
Unweit von der Tramstation Am Steinberg ist auch die Kunsthochschule Weißensee, an der Barbara Lenartz studiert hat. Sie ist Szenografin und arbeitet als freie Bühnen- und Kostümbildnerin in Berlin. Für ihre Diplomarbeit, die Rauminstallation „Frau E.“, lud sie 2015 Besucher*innen in eine gestaltete Plattenbau-Wohnung im Osten der Stadt, um sich über den materiellen Nachlass von Frau E. etwas über ihr Leben erzählen zu lassen. „Frau E.“ und „Parzelle 62“ sind narrative spaces, womit eine Genre-Bezeichnung für erzählende Rauminstallationen (ohne Involvierung von Performer*innen) aufgerufen ist, die in den vergangenen Jahren vor allem mit den Arbeiten der Szenografin Mona el Gammal verbunden wurde. Ich werde Dieter in seiner Parzelle also nicht persönlich antreffen, werde mir lediglich einen Eindruck von ihm verschaffen, indem ich – für die begrenzte Dauer von 35 Minuten – in seinen Wohnraum eindringe.
Schwellenritual Orgonakkumulator
Nachdem ich den Schlüssel gefunden, das Areal der Parzelle betreten und (wie mir geheißen wurde) hinter mir abgeschlossen habe, folge ich der Anweisung, zuerst zum Orgonakkumulator hinter der Laube zu gehen. Hierbei handelt es sich um eine silberne Styropor-Box, in welcher ein Kassettengerät bereitsteht. Wenn man so will, ist es eine Retro- Immersionsmaschine, die mich in die Welt von Dieter einführen soll. Hierfür bittet mich eine verzerrte Männerstimme in Esoterik-Sprech, Platz zu nehmen und mich in diesem geschlossenen Schutzraum meditativ von aller negativen Energie des „Außen“ zu befreien. Ich soll „meinen Kopf leeren, mich mit dem Universum verbinden und dreimal tief ein- und ausatmen“ – und mein Smartphone mit einem bunten Blume des Lebens-Aufkleber „entstören“, bevor ich mit dem Schlüssel, an dem die tickende Eieruhr hängt, sein Heim betrete. Der Sehschlitz der Box ist direkt auf das Grab von Dieters Hund Pavel ausgerichtet. Er hatte mir in der Mail bereits vom Tod seines geliebten Vierbeiners berichtet, und davon, dass er glaubt, dass „SIE ihn umgebracht“ hätten. In der Laube finde ich Fotos von Pavel. Und ich stoße auf einen Brief, ausgestellt von einem Onkologen der Berliner Charité, der Dieter eine Prostata-Krebs-Diagnose bescheinigt.
Auf Spurensuche
Ich spüre, dass der Raum dafür eingerichtet wurde, erkundet zu werden. Eine B.Z.-Zeitung vom 7.11.19 sowie ein aufgeschnittener, verrunzelter Apfel weisen darauf hin, dass Dieter noch nicht allzu lange weg sein kann. Der Ascher auf dem Couchtisch ist voller Zigarettenkippen, weshalb es unschön muffelt. Der in die Jahre gekommene Heizkörper ist aus, der Wasserhahn in der Küche tropft, und das Kassettengerät im Orgonakkumulator setzt eine Klangspur fort, die mich zwingt, immer wieder einen überprüfend-schreckhaften Blick zur Tür zu werfen: Ist da wer?
Eine Überwachungskamera zeichnet mein Eindringen in die Privatsphäre auf und überträgt das Bild auf Dieters Rechner. Mit einer handgeschriebenen Notiz bittet er mich, ein Foto von mir zu machen (als Beweis dafür, dass ich da war) und mir das Passwort für geschlossene Seiten auf seinem Blog zu merken. Die Dingansammlung auf dem Couchtisch erzählt, dass Dieter Sallos-Lakritz-Bonbons mag und an die Wirkung von Bachblüten-Notfalltropfen glaubt, dass er mit Wachsmalstiften entweder Mandala-Vordrucke ausmalt oder bunte Ornamente im Dreieck-Format zeichnet, um sein Schlafzimmer damit zu tapezieren. Offenbar in der Hoffnung, dass die Energie der Farben und Formen ihn besser schlafen lässt. Das Bücherregal markiert sein Interesse an Astral-Projektion, Buddhismus, gesunder Ernährung, Tarot und extraterrestrischem Leben und die Einweggläser in der Küche lassen Mutmaßungen über seine Essensgewohnheiten zu. Eine aufwendige Collage an der Wohnzimmerwand ist mit „Flugverhalten der Zugvögel unter Einfluss von Chemtrails“ überschrieben.
Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Parzelle mit all ihren Materialien, Stoffen, DDR-Mustern, mit den leeren Bierflaschen in der Küche und der B.Z. und Buchauswahl stereotype Assoziationen eines tendenziell vereinsamten, einkommensschwachen, weißen Mannes zwischen 50 und 60 Jahren aufkommen lässt. Ich nehme dies als eine über den repräsentierten Raum evozierte soziale Milieu-Zuschreibung wahr, die ich aber seitens der Installation zunächst nicht als wertend auffasse.
Auf Wahrheitssuche
Auf Dieters Parzellen-Areal befindet sich noch ein zweiter Verschlag. Dort tut sich neben der Toilette ein Arbeitsraum auf, an dessen Wänden sich Dieters Suche nach Antworten und (alternativen) Wahrheiten materialisiert. Als drei zentrale Themenbereiche lassen sich „Chemtrails“, „HAARP“ und das „Prinzip der synchronen Ordnung“ identifizieren. Offenbar vertritt Dieter die umstrittene Ansicht, dass es sich bei den Kondensstreifen, die Flugzeuge am Himmel hinterlassen, um Sprühspuren chemischer Substanzen handelt, mit denen Menschen vergiftet werden sollen. Deshalb auch die Collage im Wohnzimmer. Offenbar hat ihn das Beobachten von Chemtrails am Berliner Himmel darin bekräftigt, in ihnen die Erklärung für Erkrankungen des menschlichen Immunsystems, auch seines eigenen, gefunden zu haben.
Die Abkürzung HAARP steht für das US-amerikanische „High Frequency Active Auroral Research Program”, das in Alaska zur Erforschung der oberen Atmosphäre, der Ionosphäre, Radiowellen einsetzt und von Seiten verschwörungstheoretisch anfälliger Menschen für eine moderne Waffe gehalten wird, mit der Wetter gezielt manipuliert werden könne. Der Eingriff in die Atmosphäre verursache Krankheiten und sei für die Zunahme von Überschwemmungen und extremen Unwettern verantwortlich (und nicht der Klimawandel!). Dieser alternativen Wahrheit scheint auch Dieter anheimgefallen zu sein.
Und mit dem Stichwort „Prinzip der synchronen Ordnung“ rekurriert Dieters wandgewordene Wahrheitssuchen-Collage auf die in den 1940er Jahren von Wilhelm Reich entwickelte Orgontherapie, womit sich der Bogen zum Beginn des Parzellenbesuchs, zum Orgonakkumulator, schließt. Dieter hat Reichs Orgonakkumulator nachgebaut und versucht(e) ganz offenbar, sich damit selbst zu therapieren und zu heilen.
Dieters „Wahrheitssucher“-Blog ist die Verlängerung seines begonnenen Kartografierens „alternativer Wahrheiten“ in den digitalen Raum des Internets. Dort nimmt vor allem ein verschwörungstheoretischer Zugriff auf das Thema Ernährung (Stichwort Lebensmittellügen) viel Platz ein. Austausch scheint Dieter fortan – auch mit uns Parzellen-Besucher*innen – in den anonymen Weiten des Internets suchen zu wollen, nicht in einer realen Begegnung. Mein Parzellenbesuch endet damit, dass ich aus dem im Garten befestigten Lautsprecher Zeilen wie „Ich kann mich kaum rühren“ und „Lass mich wieder gefrieren zu Tod“ aus Henry Purcells „The Cold Song“ vernehme (auf deutsch gesungen von Nanette Scriba) und so mit einem sehr ambivalenten, etwas melancholischen Gefühl in den kalten Winterabend entlassen werde.
Immersion und Worldbuilding
Die Kraft von immersiven Rauminstallationen wie diesen – und auch von immersiven Theateraufführungen wie z.B. „Meat“ von Thomas Bo Nilsson (Schaubühne am Lehniner Platz 2014) oder „Das halbe Leid“ von SIGNA (Schauspielhaus Hamburg 2017/18) – liegt nicht zuletzt darin, dass sie ihren Zuschauer*innen Zugang zu ‚anderen‘ Lebenswelten eröffnen, dass Repräsentationen von exemplarischen, fiktionalisierten Biografien im künstlerisch gestalteten Umfeld dazu einladen, temporär Einblick in jemandes Privatsphäre zu erhalten. Wodurch mir als Besucherin buchstäblich eine Welt geöffnet wird, die einen Ausschnitt von Wirklichkeit zeigt, der mit meiner eigenen Lebenswelt sonst in keinerlei Austausch oder Verhältnis steht. Immersion – im Sinne der Diskurs der Kunstrezeption prägenden Metapher des „Eintauchens“ – ist in solchen Fällen vor allem das Eintreten, ja das Eindringen in eine andere Lebenswelt.
Der Besuch von Dieters fiktivem Mikrokosmos führt exemplarisch vor, wie sich jemand, der scheinbar alleine lebt, mehrere Schicksalsschläge erfahren hat und sich mit einer schweren Krankheit konfrontiert sieht, versucht, sich in der Welt von heute zurechtzufinden. Woran hält er sich? Woran soll er glauben, an wen sich halten, welchen Wahrheiten vertrauen? Und wie ist es möglich, dass er sich über Recherchen im Internet und selektierte Lektüren – sinnbildlich am Rande der Gesellschaft in seiner kleinen Parzelle – seine ganz eigene kleine Welt der Wahrheiten und Anschauungen bauen kann? Welche Menschen sind warum für „alternative Fakten“ und Verschwörungstheorien anfällig? Wie kann man ihrer Abschottung entgegenwirken? Welche Verantwortung hat eine Gesellschaft hier? Das sind in Zeiten von Fake News, Rechtsruck und technologiebasierten Radikalisierungsmaschinen eminent wichtige, gesellschaftlich Fragen, zu der „Parzelle 62“ auf sehr intelligente, da zu keinem Zeitpunkt be- oder verurteilende Weise, anregt.