In der Interview-Reihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten Wissenschaftler*innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir Dr. Christa Binswanger von der Universität St.Gallen vor, die vor kurzem im Rahmen des Symposiums „Affect and Gender between Academia, Arts and Activism“ bei uns am SFB zu Gast war.
1. Welche Forschungsfrage bewegt Sie / Dich aktuell? Worin besteht ihre gesellschaftliche Bedeutung?
In meiner Habilitation, die gerade fertig geworden ist, stelle ich die Frage nach dem Zusammenhang von Gefühl, Geschlecht und Sexualität und verbinde drei Felder, die meine wissenschaftliche Arbeit prägen: Geschlechterforschung, Affect Studies und Critical Sexualities Studies. In allen drei Feldern wird die Position vertreten, dass sich das Private auch als das Politische verstehen lässt. Dies ist m.E. nach wie vor gesellschaftlich relevant. In westlichen Gesellschaften wird heute beispielsweise praktisch alles, was wir konsumieren, mit einer sexy Komponente ausgestattet und dabei geschlechtertypisch aufgeladen. Das heißt, dass die Rollen, die männlicher und weiblicher ‚sexiness’ in meist stereotyper Weise im kommodifizierten Mainstream zugeschrieben werden, qua Geschlecht sehr unterschiedlich sind. Und dies wirkt auf die Geschlechterverhältnisse in der Intimität zurück. Gleichzeitig gibt es aber auch ganz andere Entwicklungen, die ich viel positiver wahrnehme. So sind heute vormals sanktionierte oder auch pathologisierte Formen gelebter Sexualität – wie Homosexualität, SM-Praxen, Bisexualität, Asexualität usw. – viel akzeptierter. Hier hat insgesamt eine Demokratisierung von Sexualität stattgefunden. In meiner Habilitation frage ich nach männlich oder weiblich kodierter Scham, nach männlich oder weiblich kodierter Angst und auch nach geschlechterspezifischen Formen des undoing affect in der Sexualität. Dabei interessieren mich immer sowohl Restriktionen und Einschränkungen als auch Möglichkeitsräume, wie agency oder Potentialität, die im Zusammenwirken von Geschlecht, Gefühl und Sexualität entstehen. Im Sinne der Affect Studies möchte ich negative Gefühle nicht aus dem Blick verlieren, sondern sie als konstitutiven Teil von Sexualität verstehen. Ann Cvetkovich hat dafür eine schöne Formel geprägt. Sie spricht von einer „sex positivity which can embrace negativity, including trauma” (Cvetkovich 2003: 63).
2. Die Relevanz welcher Emotion hat Sie / Dich in letzter Zeit überrascht?
Es mag jetzt etwas paradox erscheinen, da ich gerade auf die Notwendigkeit der Anerkennung negativer Gefühle hingewiesen habe: Aber ich möchte hier über eine überraschende emotionale Erfahrung sprechen, die ganz stark mit positiven Gefühlen verbunden ist. Am 14. Juni 2019 fand in der Schweiz zum zweiten Mal – nach 28 Jahren – ein nationaler Frauen*streiktag statt. Ungefähr ein Jahr lang hatten unterschiedlichste Akteur*innen von privaten Initiativen über NGOs, Gewerkschaften, politischen Gruppierungen etc. diesen Tag vorbereitet. In meinem Wohnort Zürich wurde um 17 Uhr zur grossen Kundgebung aufgerufen. Die ganze Innenstadt war bereits mittags vollkommen lahmgelegt, Autos und öffentlicher Verkehr standen still. Über hunderttausend Demonstrierende hatten sich alleine in Zürich versammelt; schweizweit waren es mehrere Hunderttausend. Ein Meer von Lila, Pink und anderen Farben, Personen aller Altersgruppen und Kontexte fand sich zusammen, Menschen, die sich mit Trillerpfeifen, Songs, Rhythmen und Skandierungen Luft verschafften, dass sich in der Schweiz in puncto Chancengleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe endlich etwas ändern sollte. Was mich wohl am positivsten überrascht hat: es gab keine zentrale Figur oder Organisation, die für sich beanspruchen konnte, die Bewegung zu dominieren. Es war ein kraftvoller Moment der emotionalen und politischen Solidarisierung ganz unterschiedlicher Gruppen miteinander, der strukturelle Diskriminierungen von Frauen* aus ganz unterschiedlichen Kontexten in diesem Land breit ansprach und als Utopie formulierte, dass die Kategorisierung von Menschen in Geschlechter und andere Gruppen endlich überwunden werden sollte. Am 14. Juni hat sich eine geballte Energie entfaltet, die ich als eine emotional getragende Solidarität und affektive Überwindung von Differenz erlebt habe, von der ich noch lange zehren werde.
3. Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Schranken in Ihrer/ Deiner Forschungsarbeit?
Da ich mich in meiner Forschungsarbeit mit Sexualität befasse und diese Thematik trotz aller Sexualisierung unserer Kultur immer noch teilweise tabuisiert ist, gibt es auf jeden Fall affektive Schranken. Vor dieser Tabuisierung bin ich als Forscherin auch nicht gefeit. Dies betrifft einerseits die Wahrnehmung von außen, andererseits aber auch Dynamiken, die mich intrapsychisch affizieren. Elspeth Probyn hat diesbezüglich sehr schöne Reflexionen dazu angestellt, wie die Auseinandersetzung mit Scham bei d*er Forscher*in auch körperliche Symptome der Scham auslösen kann. Auch bei der Auseinandersetzung mit Gewalt, die im Kontext von Sexualität auftreten kann, gibt es für mich immer wieder affektive Grenzen. Meine Forschungsarbeit ist affektiv herausfordernd und gerade dadurch sehr bereichernd.
4. Welches Buch hat Sie zuletzt stark affiziert?
Erinnerung eines Mädchens (Mémoire de fille) von Annie Ernaux. Eine sprachlich unglaublich luzide formulierte Erinnerungsarbeit zu ihrem Erleben weiblicher Sexualität vor dem Hintergrund einer sehr negativen Erfahrung in ihrer Jugend. Es gelingt ihr erst fünfundfünfzig Jahre später, diese ganz individuelle Erfahrung, die sich in der Folge in Form von Scham in ihren Körper und ihre Selbstwahrnehmung einschreibt, sowohl als Folge der individuellen Handlung ihres damaligen Gegenübers, wie auch als Folge gesellschaftlicher Wertungen zu verstehen. In sehr eindringlicher Weise macht sie nachvollziehbar, wie stark intime Gefühle und Erlebnisse gesellschaftlich eingebettet sind, wie also das Private gerade im Hinblick auf Sexualität immer auch politisch ist.
5. Auf welche Stimmungen und / oder Gefühle würden Sie / würdest Du im Moment gerne verzichten?
Auf Hass. Gender und Diversität oder Intersektionalität sind Themen, die gesellschaftlich polarisieren. Wenn es um die Einforderung der Überwindung von diskriminierenden Binarismen geht – sei dies nun bezüglich Geschlecht, bezüglich kultureller Zuordnung oder bezüglich weiterer Differenzkategorien –, löst dies teilweise Reaktionen von Hass aus, die ich schwer auszuhalten finde.