Affekte und Forschungsdaten: Über das Ausgraben und Archivieren von Affektivität

Forschungsfragen prägen das wissenschaftliche Wissen, das wir über bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Phänomene erlangen können. Sind theoretische und methodologische Ansätze zu Affekten und Emotionen konzeptuell in der Forschung verankert, so können bisher verborgene oder ausgeblendete Dynamiken in den Blick gerückt werden.

Affektsensible Forschungsfragen können aber nicht nur in einer eigenen empirischen Forschung gestellt werden, sondern sie können auch an bereits existierendes Datenmaterial gerichtet werden. Was hier als Sekundäranalyse bezeichnet wird, umfasst unterschiedliche Formen der Nachnutzung von Forschungsdaten. So können andere Auswertungsmethoden eingesetzt werden, bestehende Daten mit selbst generierten Daten verknüpft werden oder vergleichende Metaanalysen durchgeführt werden (Bambey et al., 2017). Insbesondere die Sekundäranalyse von qualitativen sozialwissenschaftlichen Forschungsdaten erlaubt bei hoher Informationsdichte, geringem Verarbeitungsgrad und der Vollständigkeit der Daten die Generierung neuer Erkenntnisse. Beispielhaft sei eine Sekundäranalyse von sieben Interviews, die vom Soziologen Ray Pahl (1984) mit einem arbeitslosen britischen Ehepaar in den 1970er und 1980er Jahren geführt worden waren, erwähnt. Das ursprüngliche Forschungsinteresse an staatlicher Wohlfahrt als Armutsfalle wich nun dem Forschungsziel, den Umgang eines Ehepaares mit den emotionalen und psychologischen Herausforderungen von Langzeitarbeitslosigkeit zu analysieren (Elliott & Lawrence, 2016). Die größere emotionale Distanz zum Datenmaterial erwies sich in der Sekundäranalyse als Vorteil, denn die ambivalenten Haltungen der Interviewpartner*innen – einerseits der Widerstand gegen Stigmatisierung, andererseits die Abwertung von anderen Wohlfahrtsempfänger*innen und Migrant*innen – konnten thematisiert werden, ohne dem Gefühl eines Vertrauensbruchs zu unterliegen. Das Datenmaterial, das auf den Transkriptionen narrativer Interviews basierte, bot die besten Voraussetzungen für neue Fragestellungen, denn die Fülle des Datenmaterials war durch die primäre Forschungsfrage längst nicht erschöpft. Der Fokus auf Affekte und Emotionen ermöglichte detailreiche neue Einsichten in altes Datenmaterial. Eine Sekundäranalyse qualitativer Forschungsdaten dient daher weniger einer Überprüfung von Forschungsergebnissen als vielmehr einer Ausweitung des interpretativen Horizonts.

Forschende mögen mit der Neu- und Umdeutung ihrer Forschungsdaten häufig nicht einverstanden sein, doch könnte im Sinne der Forschungsfreiheit argumentiert werden, dass Forschende keine exklusive Deutungshoheit über ihre Forschungsdaten haben können – ebenso wenig wie sie die Rezeption ihrer Publikationen beeinflussen können. Grundlegend ist allerdings die Frage, welche Rückwirkungen die wissenschaftliche Forschung (sei es die Primärforschung, sei es eine Sekundärauswertung der Daten) auf die Forschungsteilnehmenden haben kann. Forschungsethische Fragen hatte beispielsweise Scheper-Hughes 1977 erschienenes Buch „Saints, Scholars, and Schizophrenics: Mental Illness in Rural Ireland“ aufgeworfen, denn die Publikation der Forschungsergebnisse hatte unter den Forschungsteilnehmenden zahlreiche affektive Dissonanzen, insbesondere Gefühle der Entblößung ausgelöst. In der überschaubar kleinen irischen Dorfgemeinschaft waren die einzelnen Personen zwar pseudonymisiert worden, aber der Wiedererkennungswert innerhalb des Dorfes war dadurch nicht vermindert. Darüber hinaus waren die Forschungsdaten in einer Art und Weise aufbereitet worden, die sie auch für die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit verständlich machten, wie dies die Society for Applied Anthropology anerkennend feststellte. Für die Forschungsteilnehmenden hat das Buch mit seiner Offenlegung der zwar allgemein bekannten, aber nie öffentlich thematisierten affektiven Verstrickungen und Geheimnisse der Nachbar*innen zu einer nachhaltigen Veränderung der Selbstwahrnehmung beigetragen. Im Vorwort der zweiten Auflage aus dem Jahr 1982 berichtet Scheper-Hughes von ihrem erneuten Besuch fünf Jahre nach Veröffentlichung des Buches im Dorf. Naive Selbstbilder seien einer differenzierteren und durchaus auch von Zweifeln behafteten Selbstreflexion gewichen. Im forschungsethischen Dilemma zwischen der Auswahl an Informationen (bis hin zur Selbstzensur) und der Aufklärung der Community (mit dem Risiko der Desillusionierung) hatte sich Scheper-Hughes für letzteres entschieden und auch in späteren Auflagen den ursprünglichen Text nicht verändert.

Sekundäranalysen, die sowohl das Datenmaterial als auch die Reaktionen der Forschungsteilnehmenden auf die publizierten Forschungsergebnisse berücksichtigen, sind in ihrem Erkenntnispotential über die sich entfaltenden affektiven Dynamiken besonders aufschlussreich. Eine soziologische Forschung über die Vorstellungen von Zeit, Identität, Freundschaft und Privatsphäre von Männern in Langzeithaft (Cohen & Taylor, 1972) war beispielsweise bestrebt, Verständnis für Menschen in extremen Lebensbedingungen zu schaffen. Die Forschenden wollten auf der Grundlage von Gruppendiskussionen und Briefwechseln mit knapp fünfzig Gefangenen ein „Überlebenshandbuch“ für zukünftige Inhaftierte schreiben. Das Buch wurde von vielen Forschungsteilnehmenden gelesen und die schriftlichen Rückmeldungen in Folge der Veröffentlichung erlaubten einer Sekundäranalyse (Fielding & Fielding, 2000) ausgesparte Themen wie z.B. die belastenden Auswirkungen der Trennung auf die Ehepartner*innen, aber auch emotionale Stabilisierungsfaktoren wie die Korrespondenz mit Brieffreundinnen aufzunehmen. Verallgemeinernde Interpretationen über Gefängnisaufseher konnten anhand der Rückmeldungen der Häftlinge korrigiert und selbst „unwahre“ Aussagen („atrocity tales“) anderer Häftlinge relativiert werden. Allerdings zeigen die Briefe auch, dass manche Häftlinge ihre Offenheit gegenüber den Forschenden als mögliche Ursache für eine andauernde Inhaftierung sahen.

© Elisabeth Huber

Forschungsethische und methodologische Fragen beschränken sich somit nicht nur auf die Datenerhebung und die Darstellung der Forschungsergebnisse, sondern betreffen auch die Aufbereitung und Auswertung der Daten. Insbesondere partizipative Forschungsdesigns spannen ein Dreieck an affektiven Relationen zwischen den Forschenden, den Forschungsteilnehmenden und den Daten. Die Anforderung, diese Beziehungen zu dokumentieren, um sie als Kontextinformationen in der Analyse berücksichtigen zu können, stößt oft auf Grenzen in der Erschließung intuitiven, impliziten, prozeduralen und relationalen Wissens (Broom et al., 2009). Zeitliche Aspekte sind in Hinblick auf Affektverläufe besonders relevant. Welche Gültigkeit haben Notizen, die unmittelbar nach affizierenden Ereignissen und Begegnungen entstanden sind, im Vergleich zur verschriftlichten Analyse aktualisierter Affekte nach einem längeren Reflexionsprozess im Forschungsprozess? Wenn die Transkription von Interviews zu einem intensiveren affektiven Erleben führt als die Interviewsituation selbst (Dickson-Swift et al., 2007), wie sind die affektiven Praktiken des Erinnerns zu gewichten? Und wie kann ein solches Wieder- und Durchleben von Affekten während der Datenverarbeitung und -analyse dokumentiert und archiviert werden? Wenn Affektivität integraler Bestandteil eines Forschungsprozesses ist, dann kann Nachvollziehbarkeit nur hergestellt werden, wenn Zugang zu den affektiven Dynamiken und Relationen gewährt wird: „Hence, while certainly personal, the thoughts, feelings, and actions of the researcher comprise a core part of the data, and cannot be extracted from the dataset without undermining its utility entirely” (Broom et al., 2009: 1174). Feldnotizen ethnographischer Forschung hätten, indem sie emotionale Zustände der Erschöpfung, Unzulänglichkeit, Schuld, Abneigung oder auch Verwirrung enthielten, oft eine „Malinowskian garbage-can function“ (Jackson, 1990). Jean Jackson verweist mit dieser Metapher auf das posthum erschienene Feldtagebuch des Anthropologen Bronislaw Malinowski, das Einblick in seine persönlichen Vorurteile und Abwehrstrategien während seiner Forschung auf den Trobriand Inseln gibt. Feldnotizen können als methodisches Werkzeug der Introspektion für die Erkenntnisgewinnung und die Reflexion der Positionalität einen großen Nutzen haben, allerdings zeigen Gefühle wie Angst vor dem Verlust von Feldnotizen und Erleichterung nach dem Verlust von Feldnotizen (ebd.) wie ambivalent Forschende ihren Feldnotizen häufig gegenüberstehen. Die Archivierung und Veröffentlichung von Feldnotizen kann zum Schutz der Forschungsteilnehmenden und der Forschenden daher auch die Kuratierung von Affekten zur Voraussetzung machen. Erfahrungen, wie die Affekte der Forschenden und Forschungsteilnehmenden über einen längeren Zeitraum hinweg in einem digitalen Archiv repräsentiert werden können, fehlen bisher. In einem Projekt zur Archivierung von Interviews mit Studierenden und Frauen im ländlichen Raum Finnlands (Kuula, 2010) wurde aber offensichtlich, dass es Differenzen in der Einschätzung der affektiven Aufladung der Forschungssituation geben kann. So hatten finnische Soziolog*innen die Interviewsituationen als intim und emotional beschrieben, die Interviewpartner*innen hingegen betrachteten das Gespräch als institutionalisierte Form einer Erzählsituation. Abhängig von der Forschungsfrage, der methodischen Herangehensweise, dem Forschungsfeld und dem disziplinären Selbstverständnis sind viele Szenarien von affektiven Arrangements denkbar. Im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der Langzeiterhaltung von digitalen Forschungsdaten sollten auch verstärkt Überlegungen getroffen werden, wie Affekte nicht ausgespart oder sogar aus dem Datenmaterial entfernt, sondern als Kontextinformation zu den Daten eine wichtige Ergänzung für ein besseres Verständnis der Forschung liefern können.

 

Literatur:

Bambey, Doris, Meyermann, Alexia, & Porzelt, Maike. (2017). Potentiale der Sekundärforschung mit qualitativen Daten – ein Workshopbericht. forschungsdaten bildung informiert, 7(Dezember 2017). Retrieved from https://www.forschungsdaten-bildung.de/files/fdb-informiert_nr-7.pdf

Broom, Alex, Cheshire, Lynda, & Emmison, Michael. (2009). Qualitative Researchers‘ Understandings of Their Practice and the Implications for Data Archiving and Sharing. Sociology: the Journal of the British Sociological Association, 43(6), 1163-1180.

Cohen, Stanley, & Taylor, Laurie. (1972). Psychological Survival: The Experience of Long-Term Imprisonment. New York: Pantheon Books.

Dickson-Swift, Virginia, James, Erica L., Kippen, Sandra, & Liamputtong, Pranee. (2007). Doing sensitive research: What challenges do qualitative researchers face? Qualitative Research, 7(3), 327-353.

Elliott, Jane, & Lawrence, Jon. (2016). The Emotional Economy of Unemployment: A Re-Analysis of Testimony From a Sheppey Family, 1978-1983. SAGE Open, 6(4).

Fielding, Nigel G., & Fielding, Jane L. (2000). Resistance and Adaptation to Criminal Identity: Using Secondary Analysis to Evaluate Classic Studies of Crime and Deviance. Sociology, 34(4), 671-689.

Jackson, Jean. (1990). I am a Fieldnote: Fieldnotes as a Symbol of Professional Identity. In Roger Sanjek (Ed.), Fieldnotes: The Makings of Anthropology (pp. 3-33). Ithaca, N.Y. u.a.: Cornell University Press.

Kuula, Arja. (2010). Methodological and Ethical Dilemmas of Archiving Qualitative Data. IASSIST Quarterly, 34(3), 12-17.

Pahl, Raymond Edward. (1984). Divisions of labour. Oxford u.a.: Blackwell.

Scheper-Hughes, Nancy. (1982). Saints, Scholars and Schizophrenics: Mental Illness in Rural Ireland. Berkeley: University of California Press.