Die affektive Macht des „Martyriums“. Was wir von der Debatte um eine Kunstinstallation lernen können

Märtyrermuseum Berlin 2017, © Henrik Grimbäck

In Berlin-Kreuzberg werden Massenmörder zu Märtyrern erklärt,“ titelte am 29. November 2017 die Welt. Und weiter: „Eine Kunstinstallation im Berliner Bezirk Kreuzberg präsentiert islamistische Terroristen als Märtyrer – und hebt sie auf eine Stufe mit Martin Luther King und anderen Widerstandskämpfern.“ Wie bitte? Auch der BILD-Autor Gunnar Schupelius gibt sich „fassungslos“ und verkündet: „In Kreuzberg sind die Bataclan-Mörder ‚Märtyrer’“. Grund der Aufregung ist das „Märtyrermuseum“, eine vom dänischen Künstlerkollektiv TOETT – The Other Eye of The Tiger konzipierte Installation, die schon bei ihrer Eröffnung in Kopenhagen 2016 für Furore sorgte und jetzt auch in Berlin eine Welle der Empörung provozierte. Was ist dran am aufgeblasenen Skandal um die Installation?

Im Rahmen des NORDWIND-Festivals war eine kleinere, mobile Version des „Märtyrermuseums“ zuerst im Kunstquartier Bethanien und anschließend in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel zu sehen. Der Aufbau der Installation ist schnell erklärt: Anhand von Texttafeln, Fotografien und Objekten werden Personen vorgestellt, die zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Perspektiven als „Märtyrer*innen“ bezeichnet wurden. Neben Sokrates, Imam Hussein, Martin Luther King oder Rosa Luxemburg hängen dort auch Fotos von Selbstmordattentäter*innen wie Mohammed Atta, der an den Anschlägen vom 11. September 2001 beteiligt war. Unter einem Bild der Heiligen Apollonia von Alexandria ist eine Fotografie der tschetschenischen Attentäterin Dzhennet Abdurakhmanova zu sehen, die sich am 29. März 2010 in einer Moskauer U-Bahn mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagte und 40 Menschen mit sich in den Tod riss; daneben ein Portrait von Omar Ismael Mustafa, einem der Attentäter, die am 13. November 2015 den Pariser Musikklub Bataclan stürmten und wahllos Menschen mordeten. Der Vergleich will provozieren, keine Frage. Und so sind die aufgebrachten Stimmen, die sich in den letzten Wochen im Netz überschlugen, erst einmal wenig überraschend und vorhersehbar (zumal das Künstlerkollektiv mit ähnlichen Reaktionen schon in Kopenhagen konfrontiert wurde). Vorläufiger Höhepunkt der hitzigen Debatte ist die Anklage, die Beatrix von Storch nun gegen die Veranstalter*innen des NORDWIND-Festivals und die verantwortlichen Künstler*innen gestellt hat. Am 1. Dezember 2017 twitterte die AfD-Politikerin: „Ich habe soeben Strafanzeige gegen die Märtyrerausstellung erstattet: Das öffentliche Billigen von Mord ist Straftat gem. 140 Nr. 2 StGB. Und wer die Bataclan-Massenmörder zum Märtyrer verklärt, billigt auch deren Taten. Es reicht!“

Man kann die plakative Gegenüberstellung durchaus geschmacklos finden und es ist kaum vorstellbar, wie sich die Angehörigen von Anschlagsopfern in dieser Ausstellung fühlen müssen. Dennoch ist der Vorwurf einer „Islamisten-Glorifizierung“, wie die BILD am 18. Dezember 2017 titelte, absurd. Es ist nun mal traurige Wahrheit, dass auch die gezeigten Attentäter*innen von ihren jeweiligen Unterstützer*innen als Märtyrer*innen, als „shaheed“ (arab.) oder „schachidki“ (russ.) beschrieben und verehrt werden. Das „Märtyrermuseum“ vermittelt also zunächst nur die – eigentlich banale – Botschaft, dass Martyrien immer Zuschreibungen sind: Wer von den einen als „Märtyrer*in“ verehrt wird, kann für die anderen ein/e Terrorist*in oder Mörder*in sein. Dass dies ebenso für christliche „Märtyrer*innen“ gelten kann, dass beispielsweise der Wikingerkönig Olav der Heilige (995-1030), der ebenso in der Ausstellung zu sehen ist, im Namen seines Glaubens Menschen tötete, wird von den echauffierten Kritiker*innen anscheinend weniger problematisch gesehen.

Das Martyrium wird vom Künstlerkollektiv als ein wandelbares Narrativ vorgeführt, das von unterschiedlichen Akteur*innen angeeignet und für die unterschiedlichsten Zwecke instrumentalisiert wird. In der Installation wird dies durch ein Zitat des Religionssoziologen Paul Middleton auf den Punkt gebracht, der das Martyrium als narrative „Konstruktion“ beschreibt: „Die entscheidende Figur ist dabei nicht der Tote, sondern der Erzähler.” Entgegen der Vorwürfe will das „Märtyrermuseum“ also keine Hagiographie entwerfen und darüber entscheiden, wer als Märtyrer*in gelten kann und wer nicht. Märtyrer*innen werden hier nicht „erklärt“ – wie etliche Presseberichte verkürzt behaupten. Im Gegenteil: „Wenn man sagt, das ist ein ‚echter’, das ist ein ‚falscher’ Märtyrer; das ist ‚gut’, das ist ‚böse’, dann begibt man sich auf Glatteis“, so betont Hendrick Grimbäck vom Künstlerkollektiv TOETT im Interview mit dem NDR: „Und das endet in Fanatismus – islamistischem oder christlichem.“

Die emotionale Ablehnung der „schockierenden“ Ausstellung bringt daher gerade die Macht des Märtyrerkonzepts ans Licht, das von vielen Kritiker*innen als essentialistische Kategorie affirmativ aufgerufen wird. Mit der klaren Grenzziehung zwischen ‚wahren’ und ‚falschen’ Märtyrer*innen wird immer auch das ‚Eigene’ gegenüber dem ‚Anderen’ klar zementiert: „Für uns ist klar: Es gibt gute Märtyrer,“ so die Kommentatorin der Berliner Zeitung. Die Frage, wer sich hinter diesem „uns“ verbirgt, erklärt sich allein durch die Liste derer, die zu den „guten“ Märtyrer*innen, den „großen, mutigen Geistern“ gezählt werden und allesamt der christlich-abendländischen Erzählung entstammen: Sokrates, die Heilige Apollonia von Alexandria, Giordano Bruno, Jeanne d’Arc, Rosa Luxemburg oder Martin Luther King.

Das eigentlich Beachtliche am „Märtyrermuseum“ ist die hitzige Debatte selbst: Sie führt vor Augen, dass das Martyrium in erster Linie eine affektive Kategorie ist, die gemeinschaftsbildend wirkt, an die Grundfesten unseres Selbstverständnisses geknüpft ist und klare Grenzziehungen mit sich bringt. Genau dieses affektive Potential macht sich das Künstlerkollektiv um Ida Grarup Nielsen und Hendrick Grimbäck zu Nutze und nur so ist die ganze mediale Aufregung zu erklären. Denn die Installation selbst bleibt in ihrer Umsetzung erstaunlich inkonsequent und wirkt vor dem Hintergrund der medialen Erregungsspirale geradezu enttäuschend unspektakulär.

Dass von den sieben Plätzen, die für den einstündigen Time-Slot eigentlich zur Verfügung stehen, insgesamt nur vier belegt sind, zeugt bereits von einem eher mittelmäßigen Interesse an der tatsächlichen Installation. Mit Kopfhörern sitzen wir in einem kleinen Kubus, der wie ein Andachtszimmer ausgeleuchtet ist und einige „Märtyrer*innen“ mit Spotlight und Soundcollage vorstellt. Per Surround-Sound werden wir auf den Moskauer U-Bahnhof und in den Kopf der tschetschenischen Selbstmordattentäterin versetzt, kurz bevor sie ihren Sprengstoffgürtel zündet oder sollen – untermalt von Rockmusik und buntem Stroboskoplicht – die Perspektive des Bataclan-Attentäters kurz vor dem Morden einnehmen. Die Soundcollagen wirken teils pathetisch, teils plakativ oder, wie in den beschriebenen Fällen, einfach nur geschmacklos. Vor allem aber lösen sie das proklamierte „Ziel der Ausstellung“, die „verschiedensten Märtyrer zu hinterfragen“ nicht ein. Denn statt gerade die „Erzähler“-Stimmen hörbar zu machen, die Mörder*innen zu Märtyrer*innen ernennen, wird der Fokus dann doch wieder auf die vermeintlichen Märtyrer*innen selbst gelegt. Warum ich mich in die subjektive Erlebniswelt der jeweiligen Märtyrer*innen hineinversetzen soll, bleibt mir schleierhaft. Statt gerade die unterschiedlichen Perspektiven auf das Martyrium zu markieren und dieses als relationales Konstrukt in den Vordergrund zu rücken, wird dann doch wieder die Frage nach den Motiven und inneren Beweggründen der individuellen „Märtyrer*innen“ gestellt. Sowohl konzeptuell als auch ästhetisch ist das „Märtyrermuseum“ daher wenig herausfordernd und letztlich belanglos. Aus künstlerischer Sicht hätte die Ausstellung wohl kaum mediale Aufmerksamkeit bekommen. Der Skandal, das wurde spätestens beim Besuch der Installation deutlich, findet anderswo statt.