Wachsendes Befremdungsempfinden von Fußballfans anlässlich der Europameisterschaft 2016

Das Jahr 2016 war für den Fußball ein Jahr der Unsicherheiten. Nur ein Jahr zuvor, am 13. November 2015, erschütterten die Anschläge in Paris das Freundschaftsspiel Frankreich gegen Deutschland im Stade de France. Ein Gefühl von Unsicherheit war aber auch Folge zahlreicher sportpolitischer Entscheidungen: die Neubesetzungen der Fédération Internationale de Football Association (FIFA), der United European Football Association (UEFA) und auch der Korruptionsskandal im Deutschen Fußballbund (DFB) bestimmten die Schlagzeilen im Vorfeld dieser Europameisterschaft. Viele Fans und Besucher*innen beschlich daher ein Gefühl von Befremdung, welches auch mich vor Ort immer wieder durchdrungen hat. In der Medienberichterstattung wurde dieses Gefühl nur am Beispiel kurzfristiger Exzessformen thematisiert, wie etwa bei den Ausschreitungen von englischen, russischen und deutschen Hooligans in Lille und Marseille. Mittel- und langfristige Formen dieser befremdlichen Gefühlslage fanden, zumindest in den Leitmedien, kaum Beachtung, obwohl gerade im Fußball das „gemeinsame Erleben“, auch oftmals medial beworben, im Vordergrund steht. Dies erscheint aber zu kurz gegriffen, wenn nicht beachtet wird, so Bette und Schimank (1995), dass gerade der Sport als Teil von Gesellschaftssystemen durchdrungen ist von anderen Bereichen, die einen Einfluss auf den Sport ausüben können. Ein Aspekt ist dabei vor allem stets omnipräsent wahrnehmbar: die Hyperkommerzialisierung.

Hyperkommerzialisierung des Profifußballs

Die wirtschaftlichen Einflüsse auf den Sport lassen sich bereits durch das Schauen eines professionalisierten Fußballspiels ausmachen. Spieler*innen tragen Werbung auf ihren Trikots, die Banden in den Stadien sind „geschmückt“ von verschiedenen Werbeträgern und auch der Zugang zum Fußballspiel selbst, zumindest in seiner Livefassung, ist geregelt durch entsprechende Medienrichtlinien, um nicht zu sagen „Werbeverträge“ der Deutschen Fußballliga (DFL) (Abb. 1). Die ökonomische Durchdringung des Fußballspiels schlägt sich so auch in den Preisentwicklungen der letzten Jahre in den verschiedenen europäischen Ligen nieder. So müssen etwa Fans des FC Barcelona in Teilen bis zu 900 (!) Euro für ein Ligaspiel ausgeben (Abb. 2).

Abb. 1: Durchführungsbestimmungen zu Medienrichtlinien der Saison 2016/2017 der Deutschen Fußballiga (DFL)

Abb. 2: Ticketpreise für aktuelle Spiele der Vereine FC Bayern München (links), FC Barcelona (Mitte) und FC Chelsea (rechts). Quelle: Viagogo.com, Stand: 13.03.2017

Diese Mechanismen steigern sich sogar noch in den Ausrichtungen einer Fußballwelt- oder Europameisterschaft. Neben den exzessiven Ausgaben, die ein Ausrichterland tätigen muss, um strukturelle Vorgaben der FIFA oder UEFA zu erfüllen, was z.B. in Brasilien vor der WM 2014 zu enormen Protesten gegen die restriktive Sozialpolitik der Regierung führte, ist auch die Ticketvergabe inzwischen zu einem „Lotteriespiel“ geworden. Der Ticketerwerb für die Spiele der Fußballeuropameisterschaft kann, auch vom Zugang per „Bewerbung“ her, kaum exklusiver sein. So konnte ein Ticket zwischen 25 Euro (Kategorie 4) und 145 Euro (Kategorie 1) kosten, und dies galt nur für die Vorrunde. Eine Preissteigerung von fast 35% bei der höchsten und sogar 80% bei der niedrigsten Kategorie schlugen ab den Viertelfinalspielen für die Fans zu Buche (Abb. 3).

Abb. 3: Preiskategorien für Tickets zur Europameisterschaft 2016

Entsprechend dieser Entwicklungen lässt sich auch das Entstehen nationaler, fanpolitischer Aktionen wie „Kein Zwanni fürn Steher“ oder gruppenspezifische Proteste, etwa von verschiedenen Ultra-Gruppierungen, erklären, welche aber auch nur einen kleinen Teil der Reaktionen auf die längerfristigen Entwicklungen gegenüber einem „Fußballsystem“ darstellen, welches eine zunehmende Befremdung der eigenen Fans, in Form von Protestaktionen, Ausdrücken von Wut, Frust und auch Enttäuschung fördert. So verwundert es auch kaum, dass dieser Befremdungsprozess inzwischen auch die so genannten Fanmeilen, Orte der potentiellen Zusammenkunft verschiedener Fankulturen, erreicht. Obwohl kostenfrei betretbar, blieben viele Fans – nach meinen Beobachtungen – diesen öffentlichen Orten, auch eventuell wegen Warnungen vor Terroranschlägen, häufig fern, wie etwa in Berlin, aber auch in Bordeaux am Place des Quinconces (Abb. 4).

Abb. 4: Place des Quiconces (Fanmeile Bordeaux) vor einem Spiel, © Michael Wetzels

Stattdessen wurden die eigenen fußballspezifisch geprägten Gepflogenheiten kultiviert, wie etwa das gemeinsame Fußballschauen in zum Teil von den Fans selbst als „national“ gekennzeichneten Pubs (Abb. 5). Dies führte in der Konsequenz dazu, dass ein interkulturelles Zusammentreffen der verschiedenen Fans nicht stattfand, im Gegenteil: Es kam vielmehr zu einer Verstärkung der Besinnung auf mehr „nationale“ Zusammenhalts-Gefühle, was auch, wie Ismer (2016) am Beispiel der WM 2006 in Deutschland zeigt, keine neue Tendenz ist. Die massiven, auch von den Großverbänden gewollten, Eingriffe und Gestaltungsansprüche wirtschaftlicher Unternehmen, wie etwa des Getränkeherstellers Coca-Cola Company als Premium Sponsor (Abb. 6) markieren die auf die Spitze getriebene Kommerzialisierung und Eventisierung des Profifußballs.

Abb. 5: Irische Fans in einem Pub in Bordeaux, © Michael Wetzels

Abb. 6: Schirme des Premium Sponsors Coca-Cola Company auf der Fanmeile in Bordeaux, © Michael Wetzels

De-lokalisiertes versus lokalisiertes Publikum

Auch die mediale Gestaltung dieser Events, z.B. auf der Fanmeile in Bordeaux durch das Engagieren einer DJane, verbunden mit der Teilnahmemöglichkeit an verschiedenen Gewinnspielen der jeweils ansässigen Unternehmen (Abb. 7 und 8), ist nicht nur durchsetzt von Werbeblöcken der entsprechenden Premium-Sponsoren, sondern ist auch ein vielfach kritisierter Aspekt unter Fußballfans. Viele Fans fragen sich: Was hat das eigentlich noch mit Fußball zu tun?

Abb. 7: DJane-Pult auf der Fanmeile Bordeaux, © Michael Wetzels

Abb. 8: Teilnahmemöglichkeiten für Fans an verschiedenen kommerzialisierten „Freizeitaktivitäten“, © Michael Wetzels

Die wirtschaftsstrukturellen Prozesse, welche zur Weltmeisterschaft 2006 noch zu einem euphorisch geteilten Zusammenstehen, dem Erfahren des Neuen auf der Fanmeile führten, haben inzwischen zu einer komplett durchkommerzialisierten und auch homogenisierten Veranstaltungsform geführt, was mit Florschütz (2015) auch als „Amerikanisierung des Fernsehsports“ beschrieben werden kann. Den Veranstaltern geht es längst nicht mehr nur um die Erreichung eines lokalen Publikums vor Ort. Der Großteil der Zielgruppen ist inzwischen in einem de-lokalisierten Publikum zu finden, welches auch die entsprechenden finanziellen Einnahmen ermöglicht. So erreichte alleine in Deutschland die Übertragung des EM-Finales zwischen Portugal und Frankreich einen Zuschauerschnittwert von fast „schwachen“ 17,66 Millionen Zuschauern, welche aber im Vergleich zu 81.338 Zuschauerplätzen im Stade de France, Paris, wo das Finale stattfand, exorbitant erscheinen. Die Möglichkeitsräume für Entfaltungen von Seiten der Fans sind durch die beschriebenen Mechanismen in einem „Top-Down“-Prozess stark beeinträchtigt. Dies hat zur Folge, dass viele Fans, wie auch ich selbst, ein emotionales Befremden teilen: Die fehlende Partizipation, das ausbleibende gemeinsame Schaffen und wirkliche Zusammenseins mit „Anderen“, lässt über die vergangenen Jahre immer mehr an diesen großen, interkulturellen „Rendez-Vous des Fans“ wie etwa auf der Berliner Fanmeile 2006 zweifeln. Die Liebe zum Spiel hat sich inzwischen verschoben, zu einer Wut gegenüber dem System selbst.

Counterculture: Gegen das System!

Sind Fans in diesem Sinne also einem schier übermächtigen System schutzlos ausgeliefert? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen, doch sie kann zumindest derzeit noch mit einem klaren „Nein!“ beantwortet werden. Dies zeigte das Eröffnungsspiel Wales gegen Slowakei im Matmut Atlantique, dem Austragungsort der EM-Spiele in Bordeaux. Während des Vorprogramms vor dem Anpfiff des Spiels, welches nicht zuletzt mit seinen Sounds zur Animation und somit auch zur atmosphärischen und emotionalen Einstimmung des Publikums im Sinne einer Aktivierung diente (Abb. 9), ereignete sich, als die Musik leiser wurde, ein Moment gelebter „Counterculture“ (Whiteley 2012): Die walisischen Fans wendeten sich gegen das durch die Stadionlautsprecher abgespielte Musikprogramm und besangen ihr Team mit den Anfeuerungsrufen „Wales, Wales, Wales“.

Abb. 9: Eröffnungszeremonie im Matmut Atlantique (Stade de Bordeaux), © Michael Wetzels

Zwar dauerte dies nicht länger als zehn Sekunden, doch es wurde deutlich, dass hier wehrhaftes Potential abgerufen wurde. Gegen ein spürbar zu stark regulierendes System, für eine tatsächliche Fan-Kultur der gemeinsamen Teilnahme und so auch gegen das von mir geteilte wachsende Befremdungsempfinden gegenüber den vorherrschenden, strukturellen Mechanismen eines Fußballsystems, das dem Sport selbst und der Leidenschaft seiner Fans entgegenläuft.

 

Quellen

(1) Bette, K.-H.; Schimank, U. (1995): Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

(2) Ismer, S. (2016): Wie der Fußball Deutsche macht. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 in der Fernsehberichterstattung. Campus Verlag: Frankfurt am Main/New York.

(3) Florschütz, G. (2015): Sport in Film und Fernsehen. Zwischen Infotainment und Spektakel. Deutscher Universitäts-Verlag: Wiesbaden.

(4) Kirschner, H.; Wetzels, M. (2017, im Erscheinen): „We sell emotions“. Die kommunikative Konstruktion von Sportübertragungen am Beispiel Fußball und eSport. In: Reichertz, J.; Tuma, R. (Hrsg.): Der Kommunikative Konstruktivismus bei der Arbeit. BeltzJuventa: Weinheim/Basel, p. 256-290.

(5) Whiteley, S. (2012): Countercultures: Music, Theory and Scenes. In: Volume! The French journal of popular music studies, 9 (1), p. 6-16.