In ihrer Monographie Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte (2024) legt Dagmar Herzog eine beeindruckend weitreichende Ideengeschichte zum gesellschaftlichen Umgang mit geistiger und körperlicher Behinderung vor. Die Historikerin zeigt, dass Diskriminierung, Pathologisierung und Entmündigung tief in bürgerlich-christlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts verwurzelt sind – und bis heute andauern. Sie sind konstitutives Kontinuum behindertenfeindlicher1 Denkmuster, die sich in Kategorien wie „Nützlichkeit“, „sexuelle Kontrolle“ und „Rassenhygiene“ manifestieren. Die Analyse reiht sich damit in Herzogs Arbeit zur Sexualmoral im europäischen Faschismus und der Rolle von Sexualität in der „Vergangenheitsbewältigung“ ein. Nicht zuletzt war diese auch Thema des Workshops „Faschismus in den Köpfen“ am SFB Affective Societies der Freien Universität Berlin – organisiert von Jandra Böttger –, in dessen Nachgang dieser Beitrag entstand. Darin betonte Herzog insbesondere die Kontinuitäten ableistischer Stereotype in der deutschen Dominanzgesellschaft nach 1945 und deren Rückwirkung auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgung von Jüdinnen, Juden und Menschen mit Behinderung.2

Nützlichkeit, Rassifizierung und die ideologischen Grundlagen
Zentrales Motiv der deutschen Geschichte der Eugenik ist die Vorstellung einer gesellschaftlichen Hierarchisierung, die sich danach richtet, ob die Gesellschaftsmitglieder ökonomisch „nützlich“ sind. Sie bildete im ausgehenden 19. Jahrhundert die Grundlage gesellschaftlicher und medizinischer Diskurse über Menschen mit Behinderung – und ist daher auch Ausgangspunkt von Herzogs Analyse. Statt zu einer „Last“ für die Gesellschaft zu werden, sollten geistig Behinderte zur „Brauchbarkeit“ erzogen werden und wurden anhand der ihnen zugesprochenen „Bildungs- und Erziehungsfähigkeit“ in die entsprechenden Einrichtungen einsortiert.
Um die Jahrhundertwende wurde dieser Gedanke zunehmend rassifiziert. Die von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche verfasste Schrift Die der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920) manifestierte schließlich diesen Paradigmenwechsel in der deutschen Fürsorgedebatte. Sie rechtfertigten den Mord an Menschen mit Behinderung als eine Erlösung im doppelten Sinne: Zum einen würden Behinderte dadurch von Leid und Schmerz erlöst, zum anderen werde die Gesellschaft auf diesem Weg von diesen „Ballastexistenzen“ befreit. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem dadurch gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften erreichte diese Darstellung einen breiten gesellschaftlichen Konsens und wurde richtungsweisend für die Entwicklung der Eugenik im „Dritten Reich“. Später diente sie als Legitimationsgrundlage für die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten im Rahmen der „Aktion T4“ – dem systematischen Mord an kranken und behinderten Menschen in Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1939 und 1941 – und der daran anschließenden „dezentralen Euthanasie“.
Auch nach 1945 blieb das Denken in Nützlichkeitskategorien bestehen – in Ost wie in West. Trotz der explizit antieugenischen Haltung der SED wurden Pflegeheime und -anstalten massiv ausgebaut. Hauptsächlich um Eltern von der Pflege ihrer Kinder zu entbinden, da ihre Arbeitskraft für den Aufbau des „Arbeiterstaates“ benötigt wurde. In der Bundesrepublik schritt die kritische Auseinandersetzung mit dem postfaschistischen Erbe nur langsam voran. Erst eine Bundestagsstudie (Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, 1975), die die Zustände in bundesdeutschen Anstalten dokumentierte, stieß ein Umdenken an. Vorreiter dabei waren die Pädagogen Georg Feuser und Wolfgang Jantzen, die sich mit ihrem antipostfaschistischen und inklusiven Ansatz (vgl. Feuser: Erziehung und Unterricht geistig behinderter Kinder, 1970 o. Jantzen: Aufbewahrung oder Therapie, 1972) jeglicher Hierarchisierung von Menschen widersetzten und stattdessen individuelle Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellten. Trotz der positiven Effekte ihres pädagogischen Ansatzes auf die Entwicklung geistig Behinderter, wurden sie bisweilen wenig ernstgenommen.
Sexualität, Sterilisation und die Pathologisierung (weiblichen) Begehrens
Ein weiterer wiederkehrender Aspekt in der Geschichte geistiger Behinderung ist die ihrer Sexualisierung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts spielte dabei die Kirche – insbesondere die Innere Mission, eine evangelische Missionierungsinitiative in dessen Trägerschaft sich eine Vielzahl von Einrichtungen befand – eine zentrale Rolle.
Ihrer Auffassung nach gründete (geistige) Behinderung in moralischer Schuld und sexueller Sünde. Die Kirche nutze ihre Machtposition, um Menschen mit Behinderung zu einem Gegenstand der Abscheu zu diffamieren und sie anschließend für ihre sexuellen Moralvorstellungen zu instrumentalisieren: Geistig Behinderte sollten Nichtbehinderten eine „wertvolle Lektion in Keuschheit“ (Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 78) erteilen, so das Urteil der „Treysaer Resolution“, die auf einer Konferenz evangelischer Kirchenvertreter:innen im Jahr 1931 verabschiedet wurde. Vor diesem Hintergrund sprach sich die Innere Mission lange gegen die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung aus.
Ebenso lehnte die Innere Mission die Sterilisation von Menschen mit Behinderung lange Zeit ab. Seit den 1850er Jahren diente die lebenslange Unterbringung in Anstalten und Heimen als gängige Praxis zur Vorbeugung von Sexualkontakten. Dazu wurde ab dem 20. Jahrhundert die Sterilisation als eine Form der Verhütung eingeführt. Die Ablehnung der Kirche gegenüber dieser Praxis gründete in ihrem Kontrollzwang über die weibliche Sexualität. Sie behauptete, dass geistig behinderte Frauen in Folge ihrer Sterilisation nichts mehr von einem promiskuösen Leben abhalten würde und sie dadurch außerdem anfälliger für Vergewaltigungen würden. Spätestens unter dem Einfluss von Binding und Hoche erreichte die Sterilisation allgemeine Legitimität und wurde schließlich im Nationalsozialismus flächendeckend durchgesetzt (vgl. Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 46f. u. S. 77).
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Sterilisation als medizinisch legitime Praxis im Feld geistiger Behinderung. Bis in die 1980er Jahre wurden meist Minderjährige ohne ihre Einwilligung oder medizinische Aufklärung sterilisiert. Das Perfide: Dies geschah unter dem Vorwand, man wolle geistig Behinderten den Zugang zu Liebesbeziehungen und das Recht auf sexuelle Begegnung erleichtern. Dabei zeigt die Tatsache, dass dieser Eingriff gerade Eltern geistig behinderter Töchter nahegelegt wurde, dass ihre Sexualität nach wie vor als Problem begriffen wurde, das es zu kontrollieren gelte. Gleichwohl erhob die Innere Mission nun den Anspruch die „sexuelle Sicherheit“ (Schutz vor Vergewaltigung) ihrer weiblichen Schutzbefohlenen zu gewährleisten (vgl. Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 182f.). Unabhängig davon, ob diese Motivation der Wahrheit entsprach oder lediglich ein Vorwand war, um ihre Arbeitskraft auszubeuten, bleibt die Frage danach, inwieweit es in den Anstalten selbst zu Übergriffen und sexualisierter Gewalt kam, von Herzog leider unbeantwortet.
Ableismus und Antisemitismus: Verschränkung in der nationalsozialistischen Ideologie
Die Verknüpfungen zwischen Holocaust und „Euthanasie“ sind in der Forschung zahlreich untersucht worden. So finden sich unterschiedliche Studien zu den personellen und organisatorischen Kontinuitäten der Morde in den Gaskammern der Heil- und Pflegeanstalten und der Vernichtungslager. Und auch in der zeitlichen Folge des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden auf die Krankenmorde sehen Historiker:innen, wie beispielsweise Henry Friedlander, einen Zusammenhang; bezeichnen sie gar als „erste[s] Kapitel des Genozids“ (Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, 1997).
Ihre ideologisch-ideengeschichtliche Verstrickung findet dabei eine weniger prominente Stellung. Dabei erfüllt Antisemitismus in der Tradition des Ableismus eine wichtige Funktion. Herzog hebt den Stellenwert der wegweisenden Analyse des nationalsozialistischen Mutterkults von Gisela Bock hervor. In Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik (1986) unterscheidet Bock zwei Ausprägungen des Rassismus: einen „anthropologischen“, der sich gegen Jüdinnen, Sintizza, Romnja und Schwarze richtete, sowie einen „hygienischen“, der Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke betraf. Diese beiden Ideologien standen nicht isoliert nebeneinander, sondern wurden in der NS-Propaganda eng miteinander verknüpft – wie bereits Gerhard Schmidt in Selektion in der Heilanstalt 1939-1945 (1965) herausarbeitete. Juden, Jüdinnen und Menschen mit Behinderung wurden gleichermaßen als Bedrohung für die „Volksgemeinschaft“ inszeniert. Eine Komplementarität, die auch nach 1945 lange Zeit unbeachtet blieb.
So vermutet Herzog z.B. hinter der ablehnenden Haltung, die dem pädagogischen Ansatz von Feuser und Jantzen entgegengebracht wurde, eine antisemitische Haltung gegenüber deren jüdischen Hauptideengebern Karl Marx und Martin Buber.
Späte Aufarbeitung und neue Debatten
Der „Faschismus in den Köpfen“3 überdauerte das Jahr 1945. In der Bundesrepublik fehlte über Jahre ein Konsens über die moralische und juristische Bewertung der NS-Verbrechen an geistig Behinderten. NS-Täter:innen erfuhren eine breite öffentliche Unterstützung, wohingegen Menschen mit Behinderung und ihre Familien weiterhin stark stigmatisiert wurden. Die ersten Aufarbeitungsversuche Anfang der 1960er Jahre, getragen unter anderem durch den Juristen Fritz Bauer oder den Anstaltsleiter Ludwig Schlaich, blieben zunächst erfolglos (vgl. Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 107-110).
Erst mit dem Erscheinen der Monographie ‚Euthanasie‘ im NS-Staat. Die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ (Ernst Klee, 1983), die die böswilligen Grausamkeiten gegenüber wehrlosen Menschen detailliert darstellte, setzte eine Neuausrichtung der öffentlichen Debatte um den Umgang mit der nationalen Vergangenheit ein, die von einem neuen Maß an Empathie geprägt war. Auch in der DDR begann in den 1980er Jahren ein diskursiver Wandel – allerdings vordergründig im Zuge moralischer Abgrenzung vom Westen. Zuvor spielte die Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ eine ebenso geringe Rolle wie in der Bundesrepublik, da sich ihre Opfer im Sinne einer sozialistischen Erinnerungspolitik kaum instrumentalisieren ließen (vgl. Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 188-212).
Erst 1988 erkannte der Deutsche Bundestag das Sterilisationsgesetz, das Ausdruck „der rassistischen Wahnidee der ‚Reinigung des Volkskörpers‘“ gewesen war, als „nationalsozialistisches Unrecht“ an (Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, DRS 16/3811).
Im Januar 2025 stimmte der Bundestag einem Antrag des Ausschusses für Kultur und Medien einstimmig zu: Neben der Systematisierung und Ausweitung der Erfassung von Archivalien sowie der nachhaltigen Förderung von Gedenkstätten sieht dieser eine Intensivierung der Erforschung „der Rolle von medizinischem und pflegerischem Personal sowie von kommunalen Meldestellen, von Pflege-, Fürsorge- und Betreuungseinrichtungen sowie der Nachgeschichte gerade im Bereich der Zwangssterilisationen“ (Opfer von NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation, DRS 20/11945) vor.
Dagmar Herzog gibt mit Eugenische Phantasmen eine erste umfassende Antwort auf diese Fragen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur „Euthanasie“-Forschung und somit zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Dennoch gelingt es Herzog, ihre Darstellung nicht auf den Nationalsozialismus, in dem der eugenische Rassenwahn seinen eliminatorischen Höhepunkt fand, zu verkürzen, sondern in eine ideengeschichtliche Gesamtdarstellung einzubetten, die in dieser Form bisher einmalig ist. Dadurch wird deutlich, dass die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde nicht als Bruch zu verstehen sind, sondern sich in eine Kontinuität von Stigmatisierung und Diskriminierung einreihen. Herzog zeigt damit einen tradierten Ableismus auf, der bis heute andauert und fordert die Leser:innen damit letztlich auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den fortbestehenden Strukturen der Ausgrenzung auf.
Anmerkungen
1 Herzog verzichtete in ihrer Studie bewusst auf den Begriff Ableismus und ordnet ihn als zu harmlos ein. Trotz dieser validen Kritik ist der Begriff weitreichend etabliert und wird daher im Folgenden verwendet (Maskos 2023).
2 Das Zitat im Titel stammt von dem Theologen Paul Althaus, der sich ab 1933 durch die öffentliche Kritik an der Sterilisation und Ermordung von Menschen mit Behinderung und ihrer Diffamierungen als „unwert“ hervortat. Gleichwohl war er in den 1920er Jahren noch durch antisemitische Äußerungen aufgefallen, worin er von einer „jüdische[n] Bedrohung unseres [deutschen] Volkes“ sprach (Herzog: Eugenische Phantasmen, S. 79).
3 Feuser und Jantzen bezeichneten damit die hartnäckige Nachwirkung der NS-Erziehung, mit welcher einer ganzen Generation vermittelt worden war, die Schwachen zu verachten und zwischen „Fleißigen und Arbeitswilligen“ und jenen mit einer mit einem „sinnlosen“ Dasein zu unterscheiden.
Literaturangaben
Karl Binding und Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Felix Meiner 1920.
Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.
Deutscher Bundestag: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland („Psychiatrie-Enquête“), Bundestagsdrucksache 7/4200, 25.11.1975.
Georg Feuser: Erziehung und Unterricht geistig behinderter Kinder. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 21.1 (1970), S. 1-17.
Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Aus dem Amerikanischen von Johanna Friedman. Berlin: Berlin Verlag 1997.
Wolfgang Jantzen: Aufbewahrung oder Therapie? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 23.4 (1972), S. 267-271.
Ernst Klee: ‚Euthanasie‘ im NS-Staat. Die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Frankfurt am Main: Fischer 1983.
Rebecca Maskos: Ableismus und Behindertenfeindlichkeit. Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen, Bundeszentrale für politische Bildung, 28.02.2023: https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/behinderungen/539319/ableismus-und-behindertenfeindlichkeit/
Gerhard Schmidt: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1965.


