Dieser Text ist aus meiner ethnografischen Forschung zum Sterben und Tod in vietnamesisch-buddhistischen Lebenswelten heraus entstanden, zugleich aber auch geprägt von meiner eigenen Praxis als Sterbebegleiter und der Reise meines Vaters in den Tod. Es handelt sich daher um meine ganz persönliche Sichtweise auf diese Erfahrungen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass jeder Sterbeprozess auf seine eigene Weise verläuft und jede Erfahrung des Loslassens einzigartig ist. Dieses zutiefst persönliche und doch universell geteilte Ereignis in Worte zu fassen, ist somit ein unglaublich schwieriges Unterfangen. Dennoch wollte ich nach dem Tod meines Vaters meine bisherigen Erkenntnisse jenseits wissenschaftlicher Fachtexte aufschreiben – in einem Text, der affektiv aufgeladen ist und Emotionen unmittelbar anspricht.
Die bewusste Wahl der „Du“-Anrede soll die Lesenden affizieren, sie aktiv in das Beschriebene einbinden. Es ist eine geleitete Meditation über das Sterben und das, was jenseits davon liegen könnte – eine Annäherung an das Unaussprechliche, die buddhistische Perspektiven mit wissenschaftlicher Reflexion verbindet, um den Moment des Abschieds in seiner tiefsten Affektivität erfahrbar zu machen.
Weil jeder Mensch eigene Erfahrungen und Prägungen mitbringt, kann diese buddhistisch geprägte Sichtweise durchaus tröstlich sein, muss aber nicht in jeder Situation passen. Ob dein eigener Sterbeprozess oder der deiner Zugehörigen irgendwann plötzlich und ohne Vorwarnung eintritt oder ob er behutsam und von vertrauten Menschen begleitet sein wird – ich lade dich ein, diese Zeilen mit Offenheit zu lesen, sie auf dich wirken zu lassen und deine eigenen Empfindungen dabei im Blick zu behalten.

Vielleicht bist du jung und hast noch dein gesamtes Leben vor dir, oder du bist bereits älter und spürst, dass sich jetzt ganz natürlich ein neuer Abschnitt nähert. Unabhängig von deinem eigenen Weg hierher teilen wir jedoch alle das Finale des Lebens: das Sterben – den Gang in den Tod. Für manche Menschen kommt er ohne Vorwarnung, als abrupter Tod auf der Autobahn oder als gewaltvolles Ende auf der Straße, andere gleiten über Wochen und Monate hinweg in die letzte Phase. Dies gibt dir die Möglichkeit, die Veränderungen in deinem Körper und Bewusstsein aufmerksam zu verfolgen. Dann stellst du vielleicht fest, dass du deinen Appetit schon vor einiger Zeit verloren hast. Du fühlst dich schwächer und schläfst viel. Du spürst, wie die Kraft deine Glieder langsam verlässt, und vielleicht erfüllt dich das mit Ruhe – oder auch mit Sorge. Denke dann an eine Wolke, die sich darauf vorbereitet, abzuregnen und vertraue darauf, dass sie nicht verschwindet. Stattdessen wird sie wieder eins mit den Kreisläufen der Erde, den Bächen und Flüssen, den Seen, den alten Gletschern und dem weiten Ozean. So ist im Moment auch dein Körper in Transformation begriffen, der Übergang in eine neue Form des Seins. Es ist jetzt, als würde die Schwerkraft sanft nachlassen; das Element Erde beginnt, sich in deinem Körper aufzulösen. Manchmal fühlst du dich fast schwerelos, als würdest du schweben. In diesen Momenten kann es wohltuend sein, wenn jemand deinen Körper wieder einfängt und sanft Druck ausübt: ein behutsames Halten deiner Füße, eine warme Hand in deiner. Deine Stimme versagt dir zunehmend und es fällt dir immer schwerer zu reden. Die Botschaften deines Nervensystems werden leiser, ein sanftes Flüstern ersetzt das laute Rauschen deines Lebens.
Während sich das Element Erde in dir auflöst, beginnt das Element Wasser ebenfalls seinen Rückzug. Das Blut versorgt jetzt vor allem deine inneren, lebenswichtigen Organe mit Sauerstoff. Dein Puls wird schwächer. Du bemerkst, wie das Wasser in dir sich zurückzieht; die Feuchtigkeit in deinem Körper schwindet. Deine Haut wird spröde und die Lippen immer rissiger. Vielleicht spürst du noch einen leisen Durst oder er ist nur noch eine ferne Empfindung. Die behutsame Pflege deines Mundes und Rachens ist jetzt ein Segen, eine liebevolle Geste der Menschen um dich herum. Der allmähliche Ausfall deiner Leber führt zum Anstieg von Giftstoffen in deinem Körper. Diese gelangen ins Gehirn und verändern schleichend dein Bewusstsein. Vielleicht macht dir das Angst. Doch so wie die Wolke sich nicht davor fürchtet, in den Regen überzugehen, kannst auch du darauf vertrauen, dass jede Veränderung nur eine neue Form des Seins bedeuten wird. Eine Reise ohne Anfang und Ende, in der das Unbekannte nicht mit Schrecken, sondern mit Neugier betrachtet werden kann. Schenke diesem Moment deine ganze Aufmerksamkeit. Nehme wahr, wie deine Sinne beginnen zu verblassen; Geräusche gedämpfter werden, Lichter zu weichen Schatten verschwimmen. Dein Blut fließt ruhiger, der Puls verlangsamt sich.
Dann nimmt die Wärme deines Körpers ab, das Element Feuer brennt allmählich in dir aus. Eine kühle Brise beginnt dich zu umhüllen, während die Hitze des Lebens sich zurückzieht. Es ist, als könnten selbst die wärmsten Decken diese innere Kälte nicht mehr zurückdrängen. Deine Hände und Füße werden kalt, deine Lippen verfärben sich blau. Dein Geruchssinn schwindet, während sich dein Hunger- und Durstgefühl weiter verabschieden. Deine Nieren schalten jetzt langsam ab und die Balance deines Wasserhaushalts gerät ins Wanken. Das Ausscheiden fällt dir immer schwerer. Wasser sammelt sich in deinem Körper an, in den Beinen, in der Lunge, und dein Atem beginnt zu rasseln. Hoffentlich sind die dich pflegenden Personen sich dessen bewusst, dass Infusionen und jegliches überflüssiges Wasser dein Gehen jetzt nur noch unnötig verkomplizieren. Hoffentlich lassen sie dich als Akt der Liebe friedvoll gehen. Die Energie, die dich einst befeuerte, wandelt sich in stille Gelassenheit.
Dein Atem wird flacher, die Luft strömt sanfter in deine Lungen, jeder Zug ein leises Säuseln. Das Element Luft beginnt, sich aufzulösen. Die Pausen zwischen den Atemzügen werden immer länger. Vielleicht bemerkst du ein Gefühl der Loslösung, als würde eine sanfte Hand dich in eine andere Sphäre führen. Das Gefühl, nicht atmen zu können, setzt möglicherweise ein. Atemnot, Angst, Panik – wirst du ersticken? Es hilft, wenn jemand das Fenster öffnet und frische Luft auf die Nervenzellen deiner Haut strömt oder deine Liebsten um dich herum gemeinsam mit dir ruhig atmen. Vielleicht kämpfst du weiter gegen das Unausweichliche an. Du rebellierst, bist unruhig und willst nicht akzeptieren. Oder du lässt es zu, dass sich die Verspannungen deines Lebens jetzt allmählich lösen. Gedanken an Sorgen und ungelöste Konflikte verblassen. Stattdessen breitet sich ein tiefes Gefühl der Akzeptanz und des Annehmens aus, als würde sich der letzte Knoten deines Daseins lösen. Die Aufmerksamkeit auf den Atem hilft dir, im Moment zu bleiben, während dein Bewusstsein sich weitet und deine körperlichen Grenzen beginnen zu verschwimmen. Jeder Atemzug trägt dich jetzt sanft durch die Erfahrung des Übergangs, wird zu einem Anker des Bewusstseins. Ein und aus – dein Atem bleibt mit dir bis zuletzt. Dein Herzschlag ist kaum noch spürbar, ein leises Echo in der Ferne. Jede Sterbephase ist individuell, jeder Tod läuft anders ab. Doch das Ende teilen wir alle: Irgendwann, der letzte Atemzug, kurz darauf setzt dein Herzschlag aus. Für viele bist du von außen nun gestorben.
Wenn die finale Sterbephase begonnen hat, kann dies nur wenig aufhalten. Sterben bedeutet schlussendlich immer Loslassen. Ein Kontrollverlust, dem wir uns alle hingeben müssen. Ein Prozess der Akzeptanz, nicht nur für dich, sondern auch für deine Zugehörigen und die dich behandelnden Personen. Im besten Fall hast du daher im Leben dein Bewusstsein schon auf diesen Moment vorbereitet. Denn dann weißt du, dass während der aktiven Sterbephase in dir das nach buddhistischer Lesart fünfte Element erwacht: dein Bewusstsein. Hormone und Neurotransmitter fluten deinen Körper, senden Wellen der Ruhe und Euphorie in dein Gehirn aus. Endorphine lindern jeglichen Schmerz und schenken dir ein Gefühl tiefer Zufriedenheit. Serotonin und Dopamin verstärken die Empfindungen von Geborgenheit. Deine körpereigenen Drogen hüllen dich sanft in Glückseligkeit. Sie begleiten dich, während die physische Welt um dich herum langsam verblasst. Diese Substanzen wirken wie ein Schutzmechanismus, der den Übergang leichter macht. Eine letzte Umarmung deines Körpers, das finale Feuerwerk in deinem Kopf. Und dann ist die Energie aufgebraucht. Während deine letzten Nervenzellen nach und nach unumkehrbar absterben, erlischt im Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn das Leben. Die letzten Impulse deines Körpers komponierten für dich den Abschiedsgesang der Synapsen. Jetzt erst ist dein Körper wirklich tot.
Und dann tritt eine tiefe innere Ruhe ein – das erste Bardo. Du bist eingehüllt in ein sanftes Licht, ein klares Strahlen, das von innen kommt. Dies ist die wahre Natur deines Bewusstseins, die Essenz deines Daseins. Du bist nun nicht mehr an die Erde gebunden, sondern Teil eines größeren Ganzen, ein Funke im weiten Juwelennetz des Universums. Sei wachsam, denn in diesem Moment hast du die Möglichkeit, dein Bewusstsein mit dem unendlichen Ozean des Seins zu verschmelzen. Ein Gefühl der Heimkehr. Die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten durch die Erkenntnis des klaren Lichts.
Die Systeme deines Körpers sind sanft heruntergefahren, wie ein Lied, das leise verklingt. Hoffentlich bist du auf dem Weg hierhin nicht allein gewesen. Wenn du es zulassen konntest, waren deine Liebsten an deiner Seite, begleiteten dich, trugen dich langsam in diese urmenschliche Bewusstseinserfahrung. Wenn du diesen Weg allein gehen wolltest, du erst loslassen konntest und verstirbst, wenn deine Angehörigen nicht mehr bei dir sind, ist das auch in Ordnung. Der Buddhismus, als eine der tiefsten Wissenschaften des Bewusstseins, flüstert still von Fortbestehen, von Wandel und Erneuerung. Während der Körper deines alten Lebens sanft zur Ruhe kommt, begibst du dich jetzt auf den Weg in ein neues Kapitel. In der buddhistischen Lehre ist dies der Augenblick, in dem das Bewusstsein sich allmählich vom materiellen Körper löst, über die Fontanelle austritt und in einen neuen Daseinszustand übergeht. Frei von dem Gefängnis deines Körpers erhebt sich dein Bewusstsein dann über die irdischen Beschränkungen. In verschiedenen Kulturen und spirituellen Traditionen wird dieser Moment unterschiedlich beschrieben. Vielleicht zieht dein gesamtes Leben im Schnelldurchlauf an dir vorbei. Zeit hört auf, in der dir bekannten Weise zu funktionieren. Du erlebst Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch schon Zukunft zeitgleich – das ewige Wechselspiel von Geburt, Kindheit, Jugend, Alter, Krankheit und Tod. Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten oft von einem Licht am Ende eines Tunnels. Manche erzählen dann von Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen, andere erleben eine Geborgenheit, als würde etwas Größeres sie empfangen und behutsam leiten.
Losgelöst von deinem Körper wandelst du jetzt in der Bardo-Welt, einem Zwischenreich, in dem sich dein Bewusstsein bis zu 49 Tage nach dem körperlichen Tod bis zur nächsten Wiedergeburt befindet. Doch deine Wahrnehmung hat sich verändert. In deinem irdischen Leben wurde dein Bewusstsein über deine fünf Sinnesorgane gespeist. Nach dem Abstreifen deines Körpers bleibt nur noch dein sechstes Sinnesorgan – dein Bewusstsein. Du bist vielleicht verwirrt, verstehst aufgrund dieser veränderten Wahrnehmung nicht sofort, was mit dir geschieht. Dein Bewusstsein ist jedoch auch nach dem Verlassen deines Körpers weiterhin vorhanden und so auch deine Gefühlswelt. Im Buddhismus ist daher die Trauerbegleitung nicht nur für deine Hinterbliebenen, sondern auch für dich wichtig. Es hilft, wenn deine Liebsten dich mit Ritualen, Gebeten und Zuspruch sanft daran erinnern, dass du gestorben bist, sie dir dadurch Orientierung geben und deine Bewusstseinsreise unterstützen. Auch wenn die dir altbekannte Wahrnehmung nun nicht mehr vorhanden ist, so kannst du mit dem Sinnesorgan deines Bewusstseins noch immer die Gedanken und Gefühle der lebenden Menschen wahrnehmen. Hoffentlich begegnen sie dir daher weiterhin in Liebe und ohne Angst. Verletzende Gedanken können dich traurig werden oder Verzweiflung aufkommen lassen. Andersherum geben dir mitfühlende Gedanken und liebende Güte Kraft für die nächste Zeit. Deine Liebsten können so durch Rituale und Gebet die Bardoreise deines Bewusstseins unterstützen und positiv beeinflussen.
Dies ist nötig, da im zweiten Bardo jetzt karmische Altlasten aus deinem Bewusstsein aufkommen. Visionen, Symbole und Bilder strömen in dein Bewusstsein. Je nachdem, ob dein Bewusstsein durch heilsame oder unheilsame Tugenden geprägt ist, können diese wohltuende beziehungsweise beängstigende Formen annehmen. Die Kultivierung von Mitgefühl und liebender Güte während deines Lebens kommt dir jetzt zugute. Unabhängig vom genauen Inhalt, laden dich diese Erfahrungen ein, dich von letzten Bindungen zu lösen und das Wesen deines Seins zu erkennen. Im dritten Bardo schließlich kannst du die Reise des Bewusstseins in die nächste Existenz erleben. In diesem Prozess der Wiedergeburt ist dein Bewusstsein von einer strahlenden Klarheit geprägt, doch es ist auch mit der Verlockung neuer Formen und Geburten verbunden. Dieses karmische Momentum bestimmt jetzt dein nächstes Leben. Du begegnest deinen zukünftigen Eltern in dem Moment der geschlechtlichen Vereinigung. Visionen der neuen Inkarnation erscheinen – die Türen zu anderen Daseinsformen öffnen sich und du wählst, ob und wie du weitergehen möchtest.
In der buddhistischen Philosophie ist dein Bewusstsein das fortbestehende Element, das den körperlichen Tod überdauert. Der vietnamesische Zenmeister Thích Nhất Hạnh lehrt, dass eine Wolke niemals stirbt, sie wandelt nur ihre Gestalt. Daher erinnere dich: Der Klang deines inneren Wesens bleibt bestehen, trägt dich weiter auf einer Reise jenseits des Greifbaren. Die Energien, die du im Leben ausgestrahlt hast, verweilen in den Erinnerungen und Gefühlen derer, die dich kannten und geliebt haben. Sie tragen sich fort in den Erzählungen, in geteilten Momenten und in den Herzen der Menschen, die Wege deines Lebens mit dir mitgelaufen sind. So bleibst du ein Teil ihrer Welt, auch wenn dein Körper längst Teil der Kreisläufe der Erde geworden ist. Du bist jetzt heimgekehrt in die Elemente: Eingesickert in die Tiefe der Erde, findest du dich im Rauschen des Wassers unseres Planeten wieder, das Feuer der Sonne lässt dich erneut aufsteigen und du wirst Teil der Luft, der Wolken, die sich über dem Land abregnen. Du fühlst dich geborgen in der Weite der Natur. Alles, was du warst, verwebt sich mit der Unendlichkeit des Lebens – und wird eines Tages wieder auftauchen; transformiert und doch gegenwärtig. Wie die Wolke, die sich sanft am Horizont auflöst und dann erneut am Himmel erscheint, wirst auch du eines Tages in einer neuen Form wiedergeboren.
Mit einem geschulten Bewusstsein können du und deine Zugehörigen schon jetzt im gegenwärtigen Leben das Fortbestehen deiner Wolke in allen Dingen wiedererkennen: In jedem Tropfen, in jedem Sonnenstrahl oder Windhauch lebt ein Teil deiner Erfahrung weiter, dies ist Inter-Sein. Lass die Angst los. Du wirst nie wirklich fort sein, nur in anderer Gestalt.

Wenn du magst, nimm dir jetzt einen kurzen Moment der Ruhe und höre hier rein
Inspiriert durch:
Schulz, Roland. 2018. So sterben wir: Unser Ende und was wir darüber wissen sollten. München: Piper.
Sogyal Rinpoche, Thomas Geist und Andrea Behrends. 2020. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod. München: Knaur.
Thích Nhất Hạnh. 2002.No Death, No Fear: Comforting Wisdom for Life. New York: Riverhead Books.
Thích Nhất Hạnh. 2017.The Other Shore: A New Translation of the Heart Sutra with Commentaries. Berkeley: Parallax Press. https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=6108627.