Wie können wir trotz grundstürzender Erschütterungen der Zeit verbunden sein? Wie können wir die Zeit teilen? Gestern, Heute oder Morgen? In Minuten oder Stunden? Wie kann man Teil der Zeit sein? Und inwiefern ist die geteilte Zeit eine gemeinsame Zeit? Das Geteilte verbindet und trennt. Das hat die Zeit mit den Gefühlen gemein. Sie erscheint womöglich zu Unrecht im Singular, führt die geteilte Zeit doch zu vielfältigen Gefühlen der Zeit und der Zeitgenossenschaft.
Im literatur- und theaterwissenschaftlichen Teilprojekt „Affektive Zeitgenossenschaft“ arbeiten wir an einem Konzept, das sich auf ästhetische Formen und Verfahren der Gegenwart bezieht. Es zielt darauf, wie Literatur und Theater Konflikte um Gefühle und das gesellschaftliche Zusammenleben aufrufen und verhandeln. Zeitgenossenschaft affekttheoretisch zu verstehen, bedeutet aus unserer Sicht, die zeiträumliche Gebundenheit von Gefühlen zu betonen und diese zugleich in ihrer Prozesshaftigkeit zu erfassen.
Vor diesem Hintergrund bedeutet affektive Zeitgenossenschaft zunächst eine Pluralisierung der Zeit und der zeiträumlichen Gebundenheit von Gefühlen, die zur Sprache gebracht und verhandelt werden müssen. Gefühle in ihrer Prozesshaftigkeit zu erfassen, in ihrem Wandel und ihrer Relationalität öffnet den Begriff der Zeitgenossenschaft auf seine historische und soziale Dimension. Zeitgenossenschaft ist nicht allein intensive Gegenwärtigkeit, sondern im doppelten Sinn geteilte Zeit.
Diesen Zusammenhang hebt der Titel „Gleichzeit“ deutlich hervor, der die Überschrift zu einem Briefwechsel zwischen Sasha Salzmann und Ofer Waldman nach dem 7. Oktober 2023 bildet und im Frühjahr 2024 veröffentlicht wurde. Ihr Austausch setzt unmittelbar nach dem Angriff der Hamas auf Israel ein und umfasst die ersten drei Monate danach. Adressiert wird auch die deutsche Öffentlichkeit, denn eine Grundlage des Bandes bilden Blog-Beiträge, die beide auf Einladung der Klassik-Stiftung Weimar verfasst hatten. Zum ersten Jahrestag des Angriffs waren Salzmann und Waldman zusammen auf Lesereise.
Die Zeit, die beide teilen, ist nicht dieselbe Zeit. „Gleichzeit“ verweist vielmehr genau auf diese Differenz, auf die eine Zeit und ihre verschiedenen Wahrnehmungen sowie die verschiedenen Gefühle, die sie auslöst. Für die Frage nach der geteilten Zeit wird an diesem Beispiel deutlich, dass Gleichzeitigkeit noch nicht Zeitgenossenschaft bedeutet. Letztere entsteht vielmehr im Austausch über die Zeit und die mit ihr verbundenen Gefühle, die einen wichtigen Teil der Korrespondenz bilden.
Ihr Austausch kann somit auch als Aushandlung von Gefühlen gelesen werden: Sie ist ein Prozess der Verständigung, der sich auf die Zukunft richtet. Diese Aushandlung ist grundlegend für das Konzept affektiver Zeitgenossenschaft, das wir in unserem Forschungsprojekt entwickeln wollen. Zeitgenossenschaft als Prozess der Aushandlung zu verstehen, bedeutet in „Gleichzeit“, Gefühle wechselseitig wahrzunehmen und zu kommunizieren. Darüber hinaus besteht Zeitgenossenschaft hier auch darin, einander beizustehen, und die Vorstellung einer gemeinsamen Zeit, einer gemeinsamen Welt nicht aufzugeben. Zeitgenossenschaft beansprucht, nicht bloß „Bittsteller“ (Salzmann/Waldman 2024: S. 98) gegenüber der Zeit zu sein, sondern Rechte zu haben und auf die eigene Teilhabe zu pochen. Dieser Anspruch auf Teilhabe bildet den Kern der Aushandlung von Gefühlen, wie sie „Gleichzeit“ vollzieht.
In dieser Form der Auseinandersetzung kommt der Literatur und hier der Form des Dialogs eine besondere Bedeutung zu. Dabei geht die Vielschichtigkeit der Gefühle der Trauer, der Verzweiflung, der Wut, der Ohnmacht, der Hoffnung mit einer Vielfalt unterschiedlicher literarischer Formen innerhalb der Korrespondenz einher. „Gleichzeit“ besteht in diesem Sinne nicht nur aus Briefen per E-Mail und Gesprächen per Chat, sondern aus Erzählungen, aus Berichten, aus Gesten der Zuwendung in Texten. Das Schreiben selbst wird dabei zum Medium dieser Zuwendung und geteilten Resonanz, die affektive Zeitgenossenschaft ist.
Die Differenz innerhalb der „Gleichzeit“ gilt auch für die zeiträumliche Gebundenheit der Schreibenden in Europa und Israel. Sie bringt unterschiedliche Pluralitäten von Zeit mit sich, so schreibt Salzmann zu Beginn aus Budapest, schildert etwa eine Begegnung am Mahnmal für die am Donauufer erschossenen, jüdischen Menschen. Waldman reflektiert darüber, was über Nacht aus dem Zukunftsversprechen Israels geworden ist. Er thematisiert anhand der Jerusalemer Grenze von 1967, welche Abgründe und welche Zukünfte damals offenstanden (vgl. ebd. S. 68f.). Der Dialog der beiden wird so immer wieder auch zu einem Austausch über Verbindendes und Trennendes zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Der Band „Gleichzeit“ ist damit auch ein gutes Beispiel für die Überlegungen von Sandro Zanetti zur Zeitgenossenschaft, für die der Dialog zwischen den Zeiten maßgeblich ist. Sein Entwurf einer „poetischen Zeitgenossenschaft“ (Zanetti 2011) zeichnet sich durch Zukunftsoffenheit aus, die er als Dialog und Begegnung fasst. Genosse der Zeit zu sein, bedeutet ihm zufolge, affektiv an die Zeit gebunden zu sein und die grundsätzliche Affektivität von Zeit wahrzunehmen.
In diesem Sinne ist Zeitgenossenschaft eine Form der Zugehörigkeit, wobei das Beispiel des 7. Oktober zeigt, dass diese Gebundenheit keineswegs immer gesucht wird, sondern auch eine Fessel sein kann. Auf das Moment von Hierarchie und Unterwerfung im Begriff der Zugehörigkeit haben wir in anderen Arbeiten aus unserem Projektzusammenhang hingewiesen (Acker 2022: S. 19f.). Auf die Bedeutung des Datums als „gegeben“ und als „prägendes Ereignis“ geht Zanetti (2011: S. 45) anhand von Paul Celans Büchnerpreis-Rede (1960) ein, in die das Datum des „20. Jänner“ (Celan 2014: S. 48) eingelassen ist. Es bezieht sich auf den historischen Dichter Lenz ebenso wie auf Büchners „Lenz“, während Celans „20. Jänner“ das Datum der Wannseekonferenz 1942 meint. Markiert wird damit die Differenz in der Gleichzeitigkeit, der im erinnernden Schreiben und in der jeweiligen Begegnung mit dem literarischen Text nachzugehen und nachzudenken ist.
Ein solches Schreiben kann Zeitgenossenschaft beanspruchen, als Einspruch und Hoffnung erscheinen. So gehört zur Sammlung der Texte in diesem Briefwechsel auch ein Brieftext von Salzmann, der die Vorbereitung auf Chanukka – das Fest des Lichts – ein Jahr später imaginiert (Salzmann/Waldman 2024: S. 53-57) und damit über den Zeitraum des Briefwechsels hinaus in die Zukunft weist. Die Zäsur des eingeprägten Datums bleibt dabei bestehen und wird in der Korrespondenz in die knappe, mehrfach wiederholte Formel „am und seit“ gefasst: „Am und seit“ bezeichnet eindringlich den Angriff der Hamas und seine Folgen, ein Angriff, der nicht vorbei ist und dessen Prozesshaftigkeit ebenfalls in der Form des Briefwechsels reflektiert wird: „Aber auch unsere Briefe, Sasha, zeigen, dass die Zeit fließt. Sie zeichnen einen Weg. Eine Bewegung, und sei es die Bewegung des Schreibens, von der Shiva zurück in die zerbrochene Welt.“ (Ebd.: S.103)
Dass es im Kontext von Zeitgenossenschaft als Form der (Nicht-)Zugehörigkeit immer auch um das Hören und Zuhören geht, verdeutlichen sowohl die Beiträge von Salzmann als auch von Waldman. Sie stellen damit Resonanz und Dissonanz – als akustische ebenso wie als affektive Beziehungen – in ihrem poetischen Entwurf von Zeitgenossenschaft heraus. Neben verschiedenen Beispielen wie dem Geräusch von Drohnen oder Luftalarm, aber auch Konzertbesuchen oder der Gewalt gesprochener Worte im Streit, wird dies ganz am Ende des Bandes in ein interessantes Bild gefasst, welches das Schreibprojekt der beiden mit dem Reparieren von Radios auf der Titanic vergleicht: eine sehr kleinteilige, feine Arbeit, die dazu dient Kommunikation herzustellen und „Signale“ zu empfangen (vgl. ebd.: S. 132): rettend und zukunftsbezogen zugleich.
Die „Briefe zwischen Israel und Europa“ von Sasha Salzmann und Ofer Waldman legen nicht nur Zeugnis nach dem 7. Oktober ab, sondern tragen gleichzeitig zum Verständnis affektiver Zeitgenossenschaft bei.
Verwendete Literatur:
Acker, Marion (2022): Schreiben im Widerspruch. Nicht-/Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa: Tübingen: A. Francke Verlag.
Celan, Paul: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, in: Paul Celan Werke. Historisch-kritische Ausgabe, 15. Band, 1. Teil: Prosa I, hg. von Andreas Lohr und Heino Schmull (2014) in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt: Suhrkamp, S. 33-51.
Salzmann, Sasha & Waldman, Ofer (2024): Gleichzeit. Briefe zwischen Europa und Israel. Berlin: Suhrkamp.
Zanetti, Sandro: Poetische Zeitgenossenschaft, in: Variations 19 (1)/2011, S. 39-53.