Zum Affekt des Ressentiments: Psychoanalytikerin Cynthia Fleury zu Gast

„Man muss das Bittere begraben.

Und darauf wächst etwas anderes. Kein Boden ist jemals für immer verflucht.“

                                                                       (Fleury 2023)

Können Groll, Hass und Verbitterung überwunden, können politische Ressentiments geheilt werden?

„Raus aus der Verbitterung, rein in die Gesellschaft!“, lautete eine vorläufige Antwort in Form einer Doppelveranstaltung, organisiert vom SFB „Affective Societies“ und dem Institut Français Berlin. Zusammen luden sie die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury zum Gespräch mit der Journalistin und Autorin Carolin Emcke sowie zu einem Workshop an der FU Berlin ein. Anlass des Gesprächs war Fleurys jüngst übersetztes Buch Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung (2023), das die wachsende gesellschaftliche Bedrohung durch Ressentiments analysiert, ohne den Versuch zu unternehmen, „die Politik zu psychologisieren“, wie Fleury es im Workshop betont. Aktuell ist bereits ihr nächstes Buch, Die Klinik der Würde (Dez. 2024), im Erscheinen.                       

Mit der Psychoanalytikerin Fleury lud der SFB eine spannende Ergänzung zu der interdisziplinären Erforschung von Affekten und Emotionen zu sich: Psychoanalytische Perspektiven und Konzepte sind hier bisher kaum präsent. Die Analyse der Gesellschaft durch Emotionen und Affekte haben die Wissenschaftler*innen des SFB und Cynthia Fleury gemein, doch bringt Fleury zudem eine therapeutische Perspektive ein. Als praktizierende Psychoanalytikerin und Philosophieprofessorin an dem von ihr gegründeten Chaire de Philosophie am Krankenhaus Saint-Anne in Paris vereint Fleury klinische Analyse mit Gesellschaftsanalyse und kombiniert Theorie und Praxis in Form einer politischen Psychoanalyse.

Zunächst möchte ich jedoch den Begriff des Ressentiments präzisieren: Im psychoanalytischen Sinne Fleurys wird dieser vor allem als eine psychische und kollektive Struktur der Wiederholung definiert – im Workshop spricht sie genauer von „Affektstrukturen und -ökonomien des Ressentiments“, denen ein Erleben von „Viktimisierung“ zugrunde liege. Carolin Emcke beschreibt diesen Zustand im Maison de France auch als ein „sich-laben“ an wahrgenommenem Unrecht. Das Ressentiment entstehe „durch eine Diskrepanz zwischen den anerkannten und gleichen politischen Rechten und der Realität konkreter Ungleichheiten“. Doch glaubt die Analytikerin Fleury, „dass das Ressentiment mehr strukturell im Menschen angelegt“ sei (Fleury 2023).

Greifbarer wird es, wenn Fleury diese Struktur am Zustand einer ‚Wunde‘ beschreibt, an der eine beständige Wiederholung des Symptoms, etwa in Form einer Depression, sichtbar werde: Dort komme das Subjekt aus der Wiederholung der Verletzung nicht mehr heraus. Sich aus einer depressiven Struktur nicht selbst ‚befreien‘ zu können, soll hier keinen Vorwurf formulieren, sondern vielmehr eine Struktur verdeutlichen. Im Ressentiment handele es sich um eine negativistische Wiederholung im Sinne einer Handlungsunfähigkeit. Doch, und das hebt Fleury hervor, liege dem Ressentiment im Unterschied zu einer depressiven Struktur nicht unbedingt eine tiefe Verletzung, oder ein echter Schmerz zugrunde: Es gebe Menschen „ohne traumatische Erfahrung“, die „voller Ressentiment“ seien. Ressentiment könne daher nicht zwangsläufig mit einem Leidenszustand übersetzt werden. Hier bringt Carolin Emcke nun das populistische Narrativ an, ‚man müsse die Sorgen und Ängste der Leute ernst nehmen‘, eine politische Vereinnahmung von Gefühlslagen, die von „false prophets“ vorangetrieben werde – und doch extrem wirkmächtig sei. Doch zurück zum Zustand der – gewaltvollen – Handlungsunfähigkeit: Was das Ressentiment nach Fleury so gefährlich mache, sei, dass man in ihm Gefahr laufe, sich mit ihm zu identifizieren. Also auf individueller und kollektiver Ebene auf eine Reaktion zu verzichten, im Glauben an die „überbordende Phantasie“, dass ein vermeintlich Anderer die Verantwortung für das empfundene Unrecht trage (Fleury 2023). Im Ressentiment gehe es daher nie um eine Problemlösung, sondern dort sind stets die anderen schuld. Fleurys Haltung liegt daher ein Axiom zugrunde, welches sie an den Anfang ihres Buches setzt:                                                                                                               

„Der Mensch kann, das Subjekt kann, der Patient kann […]

Er kann, er ist Akteur, der Akteur par excellence.“ (Fleury 2023)

Handlung ist möglich; die Veränderung habitualisierter Gefühlslagen ist möglich – auch in der politischen Arbeit. Wenn das Leid nur zur Klage wird, droht man nur, von ihm „zerfressen zu werden“ (Fleury 2023). Carolin Emcke, die in ihrem ebenfalls kürzlich erschienenen Buch Was wahr ist. Über Gewalt und Klima (2024) für eine Praxis des utopischen Denkens – ein Denken in Handlungsmöglichkeiten – plädiert, betont auf der Bühne nicht nur einmal, für wie notwendig sie Fleurys Intervention hält: Der eigene Affekt, das eigene Ressentiment muss befragt werden. Die politische Taktik sei es daher, aufzuzeigen, dass das Bestätigen des Ressentiments an der sozialen Misere nichts ändere. Sonst werde das Ressentiment zu einer Naturgewalt, die gar nicht mehr hinterfragt werden dürfe. Für Emcke mache es sich aber auch noch an etwas ganz anderem fest: „Das Ressentiment kennt keinerlei Ironie!“, sagt sie ins Publikum. Hier stellt sich die Frage, ob diejenigen, an die sich Fleury richtet, überhaupt ansprechbar seien für ihre klinische und politische Intervention. Fleury ist der Auffassung, dass es in der Fähigkeit, zum eigenen Ressentiment auf Distanz zu gehen zwischen den Menschen radikale Unterschiede gebe (Fleury 2023), doch fragt sich eben, ob es einen Willen zur Veränderung gibt.

Verstellt Fleurys Axiom ihr den Blick gegenüber der gegebenen Realität, in der die meisten Menschen wohl gar kein Interesse haben, zum eigenen Ressentiment auf Distanz zu gehen?

„Ils, qui sont manger par le ressentiment, c’est mon travail!“, hält Fleury im Maison de France dennoch fest und lässt so durchscheinen, was sie den von Ressentiments Durchtränkten empfiehlt: Raus aus der Verbitterung, rein in die Analyse!

Literatur:

Emcke, Carolin (2024): Was wahr ist. Über Gewalt und Klima, Göttingen: Wallstein Verlag.

Fleury, Cynthia (2023): Hier liegt die Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Berlin: Suhrkamp.

Beitragsbild, © Institut français Berlin