Wandel der Institutionen

Eine Interview-Reihe zum Theater der Gegenwart, seinen Strukturen, Kämpfen und Visionen

konzipiert und durchgeführt von Karina Rocktäschel und Theresa Schütz

Institutionen sind komplexe Gebilde, die soziales Verhalten regeln, normativ bewerten und relationale Beziehungsweisen des Affizierens und Affiziert-Werdens nachhaltig mitbeeinflussen und regulieren. Ihre Wirkungsweise ist mit gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prozessen aufs Engste verflochten. Deshalb stehen gesellschaftliche Umbrüche und der Ruf nach einem Wandel einzelner Institutionen häufig in engem Zusammenhang. Diese Interview-Reihe möchte sich verschiedenen Institutionen in Gesprächsformaten zuwenden und aktuellen Aushandlungsprozessen des Wandels nachspüren. Verschiedene Akteure aus der Szene geben Einblick in die Spezifik des Arbeitsumfeldes Theater, erläutern, welche Strukturen überwunden werden sollten, welche Themen derzeit hart umkämpft sind und welche Visionen es für ein (Stadt-)Theater der Zukunft gibt.

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Teil 6: Tools für ökologisch nachhaltige Produktion freier Performanceprojekte

Bei der Produktion „reEDOcate me! Ein postfossiler Themenpark“ handelt es sich um ein kollaboratives Projekt der beiden Dramaturgen Aljoscha Begrich und Christian Tschirner, der Kuratorin Makiko Yamaguchi, dem Architekten Benjamin Foerster-Baldenius, der Darstellerin Dido Aquilanti (künstlerisches Team) sowie weiteren Kooperationspartner*innen. Der immersive Parcours konnte im Oktober 2022 auf dem Gelände der Floating University in Berlin-Tempelhof besucht werden. Im Zuge ihrer Forschung sprach Theresa Schütz mit Aljoscha Begrich über ein beispielgebendes Projekt an der Schnittstelle künstlerischer Forschung, immersiv-angewandter Wissensvermittlung, Aktivismus und gelebter, nachhaltiger Praxis.

Theresa Schütz: Im Kulturbetrieb existieren inzwischen einige online frei zugängliche Leitfäden wie „Einfach machen. Ein Kompass für ökologisch nachhaltiges Produzieren im Kulturbereich“ von der Kulturstiftung des Bundes, der auf seinem Vorgänger „Über Lebenskunst Leitfaden: Nachhaltig Produzieren im Kulturbereich“ von 2012 aufbaut sowie den internationalen Leitfaden für ein Nachhaltiges Kulturmanagement „Inspirador 1.3“ von 2015, an denen sich Theaterschaffende orientieren können. Waren Leitfäden wie diese für Eure Arbeit am Projekt „reEDOcate me!“ zur Orientierung oder Inspiration relevant?

Aljoscha Begrich: Ja, es war ein großes Thema in unserer Produktion, wonach wir uns richten. Wir haben auch viel über CO2-Bemessung und CO2-Budget gesprochen. Ich finde letzteres sehr sinnvoll. Denn was spräche dagegen, ähnlich wie finanzielle Mittel auch CO2-Budgets durch Zuteilung zu begrenzen? Uns wurde dann im Verlauf bewusst, dass wir ja keine Institution mit einem hohen Verbrauch sind. Gemeinsam mit Benjamin Foerster-Baldenius von raumlabor haben wir uns dann entschieden, diesen Komplex vor allem künstlerisch zu lösen. Für die Größe unseres Projekts wäre der Zusatzaufwand sonst unverhältnismäßig gewesen.

TS: „reEDOcate me!“ umfasste im Wesentlichen drei Teile: ein Symposium, in dem sich mit Verteter*innen kapitalistischer Wachstumskritik sowie Forscher*innen zu Japans Edo-Zeit gemeinsam mit Konzepten ressourcenschonender Kreislaufwirtschaft beschäftigten[i], einem Camp, in dem Studierende verschiedener Kunsthochschulen Workshops zu Stoffkreisläufen und Recycling absolvierten sowie einen immersiven Themenpark, der wie ein kleines Festival künstlerische Arbeiten z.B. von Christophe Meierhans, Anna Kpok oder Metis mit konkreten Praktiken von Initiativen aus der Region zur Kreislaufwirtschaft zusammenbrachte.

Übersicht des Themenparks mit den verschiedenen Stationen und ihren künstlerischen Positionen

Dabei hattet Ihr u.a. die Idee, für die Kompensation Eures CO2-Ausstoßes einen „Wald des schlechten Gewissens“ (unter künstlerischer Leitung von Andreas Greiner) in den ehemaligen Rieselfeldern Berlins zu pflanzen. Wie habt Ihr Euren Verbrauch gemessen? Was bildet die Grundlage für die geplante Kompensation durch Baumpflanzung?

AB: Wir haben im Vorfeld Gespräche mit Nachhaltigkeitsexpert:innen wie Annett Baumast und Andreas Greiner geführt. Und dabei stellte sich heraus, dass Berechnungen zum CO2-Verbrauch letztlich leider sehr willkürlich sind. Denn wo fängt man an, den Verbrauch zu messen? Setzt man bei der Reise des Künstlers an oder bereits vorher bei der Kommunikation: Wann wurden Telefon, Zoom oder Co. genutzt? Welche Werte nimmt man auf, welche nicht? Letztlich haben wir den erwarteten Verbrauch also überschlagen. Umgekehrt ist auch der Wert, wie viele Bäume wie viel CO2 kompensieren im Grunde fiktiv. Es lässt sich zwar ein Mittelwert errechnen, aber es ist am Ende doch ungewiss. Deshalb haben wir entschieden, uns in diese Arithmetik nicht hineinzubegeben, sondern diesen Komplex künstlerisch zu lösen. Auch, weil es aktuell noch so ist, dass man künstlerische Fördermittel nicht für Kompensationszwecke aufwenden darf.

Unsere Setzlinge befinden sich aktuell noch in der Floating University; es sind sogar noch mehr geworden unterdessen. Machen wir uns aber nichts vor: Wenn wir davon ausgehen, dass bei 20 Setzlingen pro Kasten einer durchkommt, dann ist auch das schon äußerst spekulativ. Gerade nach den regenlosen Wochen im Mai diesen Jahres ist das einfach nicht sicher. Die Setzlinge werden drei Jahre vorgezogen, bevor sie dann ausgesetzt werden. Das sind also die Mühen des Alltags, mit denen man es dann zu tun hat. Das eine ist, bei Atmosfair etwas zu spenden, das andere, einen Baum zu pflanzen. Denn letzteres ist wirklich ein langer Weg. Wir möchten gerade auch vermitteln, wie kompliziert diese Prozesse sind.

TS: Habt ihr im Zuge der Produktion auch mit Initiativen wie der Material Mafia oder den Kunst-Stoffen Berlin zusammengearbeitet, die wichtige Einrichtungen für die Transformation des Kulturbereichs hin zu nachhaltiger, an Kreislaufwirtschaft orientierter Produktion sind? Gerade in den Bereichen Bühnen-, Kostümbild oder Requisiten lassen sich Strategien der Kreislaufwirtschaft ja bereits gut umsetzen.

AB: Da durch die Kooperation mit der Floating University für „reEDocate me!“ kaum etwas gebaut werden musste, und wir und die Künstler:innen vieles vor Ort nutzen konnten, war unsere Produktion einfach schlicht nicht materialintensiv. Aber natürlich sind uns diese Initiativen bekannt. 

TS: Und wie verhält es sich mit den Lebensmitteln? Als teilnehmende Zuschauer:innen des Parcours durften wir dann ja auch füreinander kochen und zusammen essen.

AB: Die Kartoffeln wurden von einem Biobauer gespendet, der ein Bekannter von Benjamin Foerster-Baldenius war. Die konnten wir bei ihm in Brandenburg abholen und verwenden. Die Floating University bekommt z.B. über ein Essensverwertungs-Netzwerk auch abgelaufene Produkte, die tadellos sind und mit verwendet werden konnten für das Essen. 

Aljoscha Begrich (mittig li), Lynn Takeo Musiol (mittig re) und Teilnehmer:innen der Generalprobe in einem der bespielten Kleingärten von „reEDOcate me!“ in Berlin-Tempelhof, Foto: C. Flamme

Aber auch das Essens-Projekt war künstlerisch eingebettet. Hierfür hatten wir die Künstlerin und Professorin Kateřina Vídenová aus Prag mit dabei, die im Rahmen des Camps einen Workshop zu „Feed your microbiome“ gegeben hat. Bei „reEDOcate me!“ standen ja als zentrales Beispiel für Kreislaufwirtschaft Trockentoiletten im Fokus. Und wenn es um die Verköhlerung von menschlichen Fäkalien für ihren Einsatz als biologisches Düngemittel geht, ist man auch schnell beim Thema Essen. Ich habe in diesem Workshop z.B. auch gelernt, dass die Qualität des Stuhls nicht nur vom Essen, sondern auch von der individuellen mikrobiotischen Disposition abhängt. Jeder von uns verfügt über ein nicht änderbares, bestimmtes Set an Bakterien. Und weil – so hat Kateřina es immer ausgeführt – mein Innenleben eben anders ist als deins, müsste unser Essen im Grunde eben auch je unterschiedlich sein.

TS: In Großbritannien wird Kulturförderung bereits an Kriterien der Nachhaltigkeit in der Produktion geknüpft – gerade die Organisation Julie’s Bicycle gilt hier als Vorreiter institutionellen Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit – , denkst Du, das wird in Deutschland auch kommen (müssen)?

AB: Wenn der deutsche Staat und Europa CO2-frei werden wollen, muss es natürlich auch die Kultur tangieren. Ich sehe da insbesondere die Kulturstiftung des Bundes (KSB) klar in diese Richtung gehen, dass Nachhaltigkeit eben perspektivisch nicht mehr nur erbeten, sondern auch eingefordert wird. Bislang gibt es bei der KSB bereits die Rubrik „Was machen Sie für Nachhaltigkeit?“, aber die Antwort fließt eben noch nicht in die Bewertung ein. Das wird und muss meiner Ansicht nach kommen, dass nachhaltiges Produzieren eine Bedingung wird. Wichtig finde ich nur – und da ist das neue Programm Zero der KSB zur Förderung klimaneutraler Kunstprojekten ein gutes Beispiel –, dass es um die Strukturen gehen muss. Wir brauchen nicht noch mehr Stücke zum Klimawandel, das wissen wir alles. 

TS: Fallen Dir aktuell Beispiele z.B. eines Festivals oder eines Theaterhauses ein, welche für Dich die Themen von ökologischer Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft, wie ihr sie in „reEDOcate me!“ thematisiert und realisiert, in vorbildlicher oder inspirierender Weise bereits implementiert haben?

AB: Meinem Gefühl nach eher nicht. Was mich ärgert ist, dass sich ständig Menschen bei mir melden, um zu netzwerken oder zu sprechen. Aber wir reden darüber doch schon seit zwanzig Jahren! Nun muss mal was getan werden! Auch die Arbeit vom Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit finde ich dahingehend fragwürdig. 

Bestimmte Abläufe zu Einkauf, Verarbeitung, Präsentation, Lagerung und Gastspielorganisation sind in großen Institutionen einfach eingespielt. Dafür existiert Wissen und Expertise; dafür, diese Prozesse aber mal anders zu machen, jedoch nicht. Der Weg bis Institutionen, die in ihren Routinen eingefahren sind, sich wirklich transformieren, ist in meinen Augen noch ein sehr, sehr weiter. Wesentliche Impulse kommen da aus der freien Szene.

TS: Nun sind Prozesse gesellschaftlichen Wandels ja eben auch immens emotionale Prozesse. Das, was man in der Medienlandschaft zur Reaktion auf das von den Grünen vorgelegte Gebäudeenergiegesetz jüngst beobachten konnte, verdichtet ja sehr gut den Komplex von der Notwendigkeit eines ökologischen Umbaus unserer „imperialen Lebensweise“ (Wissen/Brand) angesichts planetarer Grenzen auf der einen (wofür das Gebäudeenergiegesetz ohnehin nur ein Mini-Baustein wäre) und der großen emotionalen Abwehr vieler Bürger:innen, die sich u.a. in der rhetorischen Verunglimpfung grüner Politik als „Öko-Diktatur“ zeigt, auf der anderen Seite. Unsicherheit und Unfassbarkeit der Zukunft treffen auf Verzichtsangst, finanzielle Sorgen oder affektive Dissonanz. Um diesen Zusammenhang erfahrbar zu machen, nutzt ihr in „reEDOcate me!“ einen immersiven Erfahrungsraum, in dem fiktiv durchgespielt wird, dass staatliche Eingriffe unausweichlich für einen ökologischen Umbau sind (und werden könnten). Als ich zu Gast war, hatte ich aber das Gefühl, dass neben mir nur Besucher:innen sind, die ohnehin schon ihre eigene Trockentoilette im Garten haben.

AB: Bezüglich der Publikumsstruktur ist das wirklich ärgerlich, ja. Denn wir haben sehr daran gearbeitet, ein breites, diverses Publikum anzusprechen. Wir haben mit der Stadt verhandelt, weil wir davor noch einen Flohmarkt machen wollten, wollten mit dem Theater an der Parkaue kooperieren, um junges Publikum zu locken, ebenso wie mit der Schaubühne, um ihr Zuschauer:innenklientel mitanzusprechen, aber dafür waren wir drei dann zu wenig, PR-Kräfte fehlten und es gab zu viele Widerstände. Verweiger:innen erreicht man nicht, aber es ist schade, dass wir gerade diejenigen, die noch offen sind für Argumentationsaustausch, neue Erkenntnisse oder Meinungswandel nicht erreichen konnten.

Aber ansonsten ist es in der Tat so, dass wir die immersive Form nicht nur gewählt haben, weil wir satt sind von plumper Wissensvermittlung auf der Bühne, sondern weil es gerade bei diesen Themenkomplexen so wichtig ist, eine Erfahrungs- und Gefühlsebene zu erreichen. Da sehe ich noch viel Potenzial. Trotz des Themas der „Öko-Diktatur“ wollten wir allerdings, dass das soziale Ereignis lustvoll bleibt und gerade nicht Erfahrungen eines angstbesetzten Ausgeliefertseins zentral sind, wie sie im immersiven Theater (wie z.B. von SIGNA) sonst häufig sind.


[i] Die im Titel durch Versalien markierte Referenz „EDO“ verweist auf Japans Blütezeit zwischen 1603 bis 1868. Beispielgebend sei jene Edo-Zeit vor allem mit Blick auf ihre Strategien ressourcenschonenden Wirtschaftens in Zeiten von Mangel und geopolitischer Abschottung. In dieser Zeit hätte Japan nicht nur ein nachhaltiges Kreislaufsystem erprobt, sondern trotz – oder gerade wegen – Ressourcenknappheit auch berühmte kulturelle Entwicklungen wie den Kimono, Sushi oder das Kabuki-Theater hervorgebracht, so führt es Christian Tschirner während der Aufführung „reEDOcate me!“ in einer Szene aus; für eine Vertiefung siehe die noch abrufbaren Vorträge des Symposiums: https://reedocate-me.com/Symposium.