Sonst rauchen wir nicht, aber nach der Veranstaltung rauchen wir schweigend nebeneinander. Uns fehlen die Worte, sodass die Zigarettenlänge eine Möglichkeit ist, eine miteinander geteilte Irritation zu begreifen. Was nach dem taz-Talk „Abschiebung nach 36 Jahren?“ bleibt, ist eine ohnmächtige Wut. Ein Gefühl, das sich auf eine tief verankerte Ungerechtigkeit bezieht, die Teil unserer Gesellschaft ist. Der „Fall“, um den es geht, ist einer von vielen, es gäbe „noch krassere, die weniger Aussicht auf einen guten Ausgang hätten“, so Frank Richter (MdB für die SPD) an dem Abend. Dieser „Fall“ saß vor zehn Minuten noch vor uns auf dem Podium. Doch es geht nicht um einen Fall! Es geht um einen Menschen und seine Familie.
Pham Phi Son war 2016 bewusst, dass seine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufgrund seines gesundheitsbedingt verlängerten Aufenthalts in Vietnam erlöschen könnte. Er telefonierte mit der deutschen Botschaft in Hanoi und holte sich Rat. Leider versäumte er, sich eine schriftliche Bestätigung des Gesprächsinhalts einzufordern. Statt wie rechtlich erlaubt sechs Monate, verlängerte sich sein Aufenthalt in Vietnam unfreiwillig auf neun Monate. In der Presse wurde oft der Begriff „Urlaub“ für den Besuch seines Heimatlandes genutzt, doch wenn man ihm zuhört, wird schnell klar, dass der Begriff nicht passt. Der Grund seiner Reise war eigentlich ein schöner: Er feierte in seinem Heimatland die Hochzeit mit seiner Frau. Neben familiären Verpflichtungen und den unbenannten Anstrengungen, durch zwei Lebenswelten zu navigieren, flammte eine alte Verletzung wieder auf. Das subtropische Klima bekam ihm nach der langen Zeit in Deutschland nicht mehr, sodass er sich nicht erholte. All das kommunizierte er den deutschen Behörden. Schließlich ging es ihm besser, er konnte unproblematisch in Deutschland einreisen. In diesem Prozedere vergaß er den temporären Bezug von Hartz IV anzugeben. Ein Jahr später wurde seine Tochter in Deutschland geboren und er erhielt bei der Beantragung ihres Passes einen Abschiebebrief.
Der Kampf gegen die Abschiebung begann 2017, doch eigentlich startete alles schon viel früher. Er kam 1987 direkt aus dem Kriegsdienst gegen die Roten Khmer in Kambodscha als Vertragsarbeiter nach Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Seine Entsendung in die DDR war eine Auszeichnung für seinen Kampf für sein Vaterland Vietnam. Er sollte den Bruderstaat beim Aufbau unterstützen, wie es die Propaganda nannte. Tatsächlich kam er nicht für den Aufbau, sondern um Löcher in einem ökonomisch fragilen System zu stopfen. Seine Arbeitskraft wurde ausgebeutet, der erhaltene Lohn lag weit unter dem seiner deutschen „Brüder und Schwestern“, denn ein Teil des Geldes ging direkt an den vietnamesischen Staat. Seine Daseinsberechtigung erlosch, als die DDR aufhörte zu existieren. Bis 1997 kämpfte er gemeinsam mit tausenden ehemaligen Vertragsarbeitenden für sein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Daneben kämpfte er – ebenfalls wie tausende – den Kampf um das tägliche Überleben. Geringfügig entlohnte Jobs und lange Arbeitstage sowie eine bleierne Unsicherheit, wie langfristig er sein Leben in Deutschland halten könnte, prägen seinen Lebensrhythmus.
„Es könnte a bissl mehr Deutsch sein“ (Frank Richter)
In der Härtefallkommission, der sein Fall vorgelegt wurde, wurden seine begrenzten Deutschkenntnisse kritisiert. Auch in dem taz-Talk zur Abschiebung der Familie Pham/Nguyen wurden immer wieder die als unzureichend markierten deutschen Sprachkenntnisse von Herrn Pham hervorgebracht.
Generell fällt auf, dass vietnamesische Migrant:innen in Deutschland häufig durch die Brille das „Sprachmangels“ betrachtet werden. Selten wird sich mit den rassistischen und klassistischen Verstrickungen auseinandergesetzt, die diesen mitbedingen. Ein Blick in die Migrationsgeschiche der Vertragsarbeitenden hilft diese aufzuschlüsseln.
Anders als vietnamesische Geflüchtete, die seit dem Ende der 1970er Jahre in die alte Bundesrepublik flüchteten, erhielten ausländische Werktätige aus der ehemaligen DDR nur rudimentären Sprachunterricht. Während zum Beginn des Anwerbeabkommen Wert auf eine hochqualifizierende Ausbildung inklusive einer entsprechenden Sprachausbildung gelegt wurde, gab es gegen Ende der 1980er Jahre – als das Gros der heute noch in Deutschland verbliebenden vietnamesischen Werktätigen in Ostdeutschland ankam – keinen politischen Willen, diese auch sprachlich ankommen zu lassen. Denn nicht unähnlich der Geschichte der Gastarbeiter:innen aus dem Westen, hoffte die DDR-Regierung ebenso wie die Regierung des Bruderstaates Vietnam, dass die gerufenen Arbeiter:innen nach getanem Werk zurück gehen würden. Arbeitende, die zum Ende des Anwerbeabkommen nach Ostdeutschland kamen, erhielten auch keine qualifizierte Sprach-/Ausbildung mehr, sondern wurden als billige Arbeitskräfte in den besonders gefährlichen und körperlich anstrengenden Industrien eingesetzt. Die Kommunikation am Arbeitsplatz mit den deutschen Kolleg:innen ging meist über ein einfaches „Ja“, „bitte“ und „danke“ nicht hinaus. Für alles Weitere waren die Dolmetscher:innen zuständig.
Wenn man hingegen auf die andere Seite der Berliner Mauer schaut, lässt sich am Beispiel der vietnamesischen Geflüchteten aufzeigen, wie sich ein politischer und zivilgesellschaftlicher Wille in die Förderung ihrer deutschen Sprachkenntnisse übersetzte; auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt waren deutlich besser.
Wohingegen Geflüchtete – zurecht – ihr gesichertes Aufenthaltsrecht erhielten, mussten die vietnamesischen Werktätigen der DDR bis weit in die 1990er Jahre um ihren Aufenthalt kämpfen. Es war das Ziel der Regierung unter Helmut Kohl, so viele ausländische Werktätige der ehemaligen DDR wieder loszuwerden wie möglich. Ein Mittel war neben finanziellen Anreizen zur „freiwilligen Ausreise“, ihren Aufenthalt in Deutschland an einen Job und selbstfinanzierte Wohnung zu koppeln. Wie Frau Marina Mai im Rahmen des Talks feststellte, ging es in den damaligen Debatten um Bleibemöglichkeiten und Zukünfte in Deutschland übrigens nie um Sprachkenntnisse.
Arbeitskraft und das Bild der „guten“ Migrant:innen
In dem angespannten ostdeutschen Arbeitsmarkt hatten die vietnamesischen Werktätigen das Nachsehen. Ihr Leben in der DDR wurde bis in das kleinste Detail für sie organsiert und sie kamen innerhalb der DDR nur zu bestimmten propagandistischen Umständen (oder unter Umgehung der vielen Regeln) mit der deutschen Bevölkerung in Kontakt. Nach der Wende mussten sie auf einmal selbst in Deutschland bestehen. Da ihnen der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt so gut wie verwehrt blieb, schufen sie sich eigene ökonomische Nischen; die strukturelle Ausgrenzung vor und nach der Wiedervereinigung schuf also die prekäre Selbstständigkeit, in der sich viele der vietnamesischen Werktätigen der ehemaligen DDR seither wiederfinden. Sie eröffneten Obst- und Gemüseläden, wurden Blumenverkäufer:innen, betreiben Spätis, verkaufen Textilien oder führen Änderungsschneidereien. Ihr Leben im wiedervereinigten Deutschland war fortan geprägt von prekären Arbeitsbedingen: Oftmals zwölf Stunden am Tag, von Montag bis Samstag. Damit arbeiteten sie nicht nur bis zur Erschöpfung, sondern es wurde ihnen systematisch die Möglichkeit erschwert, Deutsch zu lernen. Ihre Daseinsberechtigung im wiedervereinigten Deutschland war ebenso wie in der DDR an ihre Produktionskraft gekoppelt. Und ähnlich wie zuvor mit ihren ostdeutschen Kolleg:innen aus den Volkseigenen Betrieben erstreckte sich die Kommunikation mit den Kund:innen oft nicht mehr als über eine einfaches „Wie geht’s? Ja, danke und Tschüss“
Was sagt Sprache also über Integration aus? Zunächst einmal zeigt der Blick in die Vergangenheit, dass Sprachkenntnisse – oder eben ihr Ausbleiben – oftmals viel mehr über die strukturellen Rassismen und Ausgrenzungen der aufnehmenden Gesellschaft aussagen als über die einzelnen Individuen, denen eine mangelnde Sprachkenntnis vorgeworfen wird. Lebensleistungen von migrantisierten Menschen in der deutschen Gesellschaft über einen einzigen Marker bestimmen zu wollen, blendet ihre mit allen Mitteln der Demokratie ausgefochtenen politischen Kämpfe für einen Verbleib in Deutschland aus. Außerdem vernachlässigt die gesamte Diskussion zum Schicksal der Familie Pham/Nguyen auch die Leistung der ersten Migrationsgeneration, unter prekären Umständen eine neue Generation von viet-deutschen Mitbürger:innen großgezogen zu haben.
„Deutschland, ein migrationspolitisches Entwicklungsland“ (Kien Nghi Ha)
Im taz-Talk sagte Bürgerrechtler und Politiker Frank Richter, dass Gesetze von Menschen gemacht würden. Wenn sie unsinnig sind, könnten Menschen diese ändern. Die Unsinnigkeit entblößt ein nüchterner Blick auf die ökonomischen Fakten: Seit sechs Jahren wandert der Fall Pham/Nguyen von Behörde zu Behörde. Mittlerweile hat diese Wanderung einen festen Trampelpfad hinterlassen, denn immer wieder werden die gleichen Gerichte und Institutionen von den Unterlagen erreicht. Der Fall bindet seit sechs Jahren personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen, was nicht nur frustrierend sein muss, sondern vor allem die Unfähigkeit der Gesetzeslage spiegelt, für einen komplexen Fall eine angemessene Lösung zu erarbeiten.
Wir fragen uns, wie wir uns als Sachbearbeiter:in fühlen würden, wenn wir nicht nur ein zweites, sondern auch ein drittes oder viertes Mal denselben Fall auf den Schreibtisch bekämen, den wir eigentlich mehrmals glaubten, abgeschlossen zu haben. Mit wie viel Elan schaut man sich die Fakten noch einmal an, wenn einem so potenziell auch die eigene Fehlbarkeit vorgeführt wird? Führt das nicht eher zu einer Verstärkung der Frustration und Vorführung der eigenen Machtlosigkeit? Das „Herumreichen“ eines Falles beschreibt letztlich auch ein institutionelles Spiel mit realen Schicksalen, die darunter möglicherweise in Vergessenheit geraten. Und deckt der Umgang mit dem Fall nicht auch wieder eine Facette des real existierenden und institutionell verankerten, strukturellen Rassismus auf?
Wie Marina Mai an dem Abend feststellte, führt dieser „Fall“ dazu, dass Personen, die seit Dekaden mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, hinterfragen, ob ihr hart erkämpftes Recht auf Aufenthalt in Deutschland von Dauer ist. Auch Personen, die jüngst von der Bundesregierung mit attraktiven Anwerbeabkommen u.a. aus Vietnam nach Deutschland für Tätigkeiten in der Pflege gelockt werden, hinterfragen diese Einladung. Was, wenn sie selbst nach dreißig Jahren ihre Arbeits- und Aufenthaltsberechtigung verlieren? Welche Prekarität ist erstrebenswert und welche lässt zumindest den Hauch gefühlter Zugehörigkeit zu?
Der Elefant im Raum
Das System hinter dem Einzelfall affiziert (nicht nur uns, sondern vor allem die, die von strukturellem Rassismus betroffen sind) und hat selbst etwas Affektives, etwas Ungesagtes. Unsere Frustration, unsere Wut, so stellen wir rauchend fest, beruhte darauf, dass es sich um einen immer wiederkehrenden „Fall“ handelt. Eine schnelle Internetrecherche zeigt Videos zu Abschiebefällen, die sich inhaltlich seit den 1990er Jahren nicht großartig verändert haben. Fehlt es hier also an politischem Willen? Dementgegen steht der Wunsch der Politik, wenn es um die Anwerbung ausländischer Fachkräfte geht; auch das weist eine erstaunliche Kontinuität auf. Aber trotzdem fragt sich jetzt unsere Kollegin, ob ihre Mutter im Alter in Deutschland abgesichert ist. Diese kam vor fünfzig Jahren als Gastarbeiterin aus Jugoslawien nach Deutschland und hat bewusst nicht ihren Pass abgeben wollen, weil dieser eine wichtige emotionale Bindung zu ihrem Heimatland hält. Kann das also zukünftig zu ihrem Nachteil werden?
Integration ist keine Einbahnstraße. Es kann nicht sein, dass Betroffene wie Pham Phi Son erst den Weg in die Öffentlichkeit suchen müssen, um den Druck auf die politischen Entscheidungsträger zu erhöhen, die rechtlichen Grundlagen für das Abschiebeurteil erneut zu prüfen. Das ist im Kern undemokratisch. Wir wollen als Bürger:innen davon ausgehen können, dass Rechtsurteile auf wohlüberlegten Entscheidungen und sinnhaften Prozessen beruhen. Aber der vorliegende Fall überzeugt uns durch den Eiertanz des jahrelangen Herumreichens vom Gegenteil. Also was ist hier das Ungesagte, das Mitverschobene oder: das Affektive im scheinbar systematischen Tun? Es geht um den Elefanten im Raum, der im taz-Talk quasi mit in der ersten Reihe saß; wir nennen ihn strukturellen Rassismus. Er ist für die Lähmung der Prozesse zuständig, für verkürzte Aussagen und überzogene Erwartungen an Sprachkenntnisse, ohne zu realisieren, dass er diesen eben selbst verhindert hat. Er ist das System hinter dem Einzelfall, der sich rechtlich immer wieder rauslavieren konnte, aber affektiv äußerst aufdringlich ist. Können wir also bitte den Elefanten wahrnehmen, anstatt die Verantwortung immer wieder auf Einzelpersonen abzuwälzen?
Literatur:
Ha, Kien N. (2021): RASSISMUS SUCKS. Eine Einletung, in: Asiatische Deutsche Extended: Vietnamesische Diaspora and Beyond, hg. v. Ders. Berlin, Hamburg: Assoziation A, S. 11-34.