Eine Interview-Reihe zum Theater der Gegenwart, seinen Strukturen, Kämpfen und Visionen
konzipiert und durchgeführt von Karina Rocktäschel und Theresa Schütz
Institutionen sind komplexe Gebilde, die soziales Verhalten regeln, normativ bewerten und relationale Beziehungsweisen des Affizierens und Affiziert-Werdens nachhaltig mitbeeinflussen und regulieren. Ihre Wirkungsweise ist mit gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prozessen aufs Engste verflochten. Deshalb stehen gesellschaftliche Umbrüche und der Ruf nach einem Wandel einzelner Institutionen häufig in engem Zusammenhang. Diese Interview-Reihe möchte sich verschiedenen Institutionen in Gesprächsformaten zuwenden und aktuellen Aushandlungsprozessen des Wandels nachspüren. Im ersten Teil steht die Institution (Stadt-)Theater im Fokus. Verschiedene Akteure aus der Szene geben Einblick in die Spezifik des Arbeitsumfeldes Theater, erläutern, welche Strukturen überwunden werden sollten, welche Themen derzeit hart umkämpft sind und welche Visionen es für ein (Stadt-)Theater der Zukunft gibt.
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Teil 5: Im Kollektiv gegen das Leistungsprinzip
Ein Gespräch mit Anja Kerschkewicz vom feministischen Kollektiv Frauen und Fiktion über kollektives Arbeiten, kollektive Ästhetiken sowie Kommunikations- und Führungstools für angehende Theaterregisseur*innen. Seit dem Sommersemester 2022 ist Anja Kerschkewicz zudem als Gastprofessorin für kollektives Arbeiten an der HfS „Ernst Busch“ in Berlin tätig.
Theresa Schütz: Du bist Gründungsmitglied des Kollektivs Frauen und Fiktion; bei der Vor-Recherche habe ich gelesen, dass du auch Teil einer Gruppe namens Myrtle Gordon warst. Wie bist du zu diesen beiden Gruppen gekommen bzw. wie habt ihr euch formiert?
Anja Kerschkewicz: Myrtle Gordon gab es nur während der Zeit meines Studiums der Theaterregie an der HfMT in Hamburg. Das war zusammen mit meinen Kolleginnen Alisa Tretau, die auch Regie studiert hat, sowie Anne Brammen und Lena Kollender, die beide Dramaturgie studiert haben. Es war ein temporäres Kollektiv. Eine Performance, die wir in verschiedenen Abwandlungen gezeigt haben, bestand darin, dass wir alle die Figur Myrtle Gordon – abgeleitet aus dem Film Opening Night von John Cassavetes – verkörpern und ein Gespräch nach unserer großen Retrospektive geben. Wir haben vorher nur Improvisationsregeln ausgemacht und sind damit auf Festivals aufgetreten. Es ging uns um dieses Spekulative: was entsteht, wenn wir die Gedanken der anderen, die in dem Moment entstehen, weiterführen, und wenn wir gleichzeitig für uns beanspruchen, uns rückblickend als größte Künstlerin(nen) aller Zeiten zu sehen. Zentral war für unser Kollektiv ein Aspekt von Empowerment. Dass wir als Frauen im Theaterstudium mit begrenzten Möglichkeiten uns erlauben zu denken, dass unsere Arbeiten einmal groß werden und gesellschaftsbeeinflussende Wirkungen haben könnten. Das als Gedankenexperiment durchzuspielen, um auch andere zu empowern groß zu denken, war Myrtle Gordon.
TS: War dies zugleich auch die zentrale Erfahrung für die Entscheidung, weiterhin kollektiv arbeiten zu wollen?
AK: Mich haben die Arbeiten in der freien Theaterszene schon immer mehr interessiert als die in den Stadt- und Staatstheatern. Ich komme aus Berlin, aus einer Familie, die nicht unbedingt ins Theater geht, und bin früher selbst viel ins HAU gegangen. Ich habe dann erst Bühnen- und Kostümbild in Weißensee sowie Szenografie an der HfG in Karlsruhe studiert. Danach habe ich drei Jahre als Bühnenbildassistentin in Zürich, also an einem Stadttheater, gearbeitet und gemerkt, dass mir die Hierarchien einfach nicht guttun. Auch wenn es tolle Theaterarbeiten gab, begann ich sie in Frage zu stellen. Einige Menschen arbeiteten deutlich an ihrer psychischen Belastungsgrenze. Dann habe ich mich gefragt: wozu das Ganze, wenn die Entstehung dieser Arbeiten zwischenmenschlich so große Opfer fordert?
Daher kam dieser Wunsch, selbst in eine Leitungsposition zu gehen und erstmal noch das Regiestudium zu machen. Hier habe ich gemeinsam mit Kommiliton*innen viele Stückentwicklungen gemacht, wie z.B. mit Eva Kessler einen auf Virginia Woolfs A Room of Ones Own basierenden Monolog, aus dem dann Frauen und Fiktion entstanden ist.
Für unser erstes gefördertes Projekt Lust kamen Felina Levits, mit der ich schon im Studium zusammengearbeitet hatte, als Kostüm- und Bühnenbildnerin und Paula Reissig hinzu, die Foto- und Videodokumentation gemacht hat. Beide waren dann auch bei der nächsten Arbeit You Are a Weapon, bei der wir unsere jetzige Arbeitsweise auf die Beine gestellt haben, dabei. Ich weiß nicht, ob man ein Kollektiv konstruiert gründen kann, aus meiner eigenen Erfahrung ergibt es sich aus dem Prozess des Zusammenarbeitens.
TS: Was zeichnet eure Arbeitsweise aus? Mieke Matzke sprach in Bezug auf die Arbeitsweisen von She She Pop im Rahmen eines Workshops jüngst von „Praktiken des Kollektiven“. Was sind Eure Praktiken?
AK: Bei You Are a Weapon haben wir ausprobiert, auch selbst auf der Bühne zu stehen. Nach dieser Erfahrung haben wir dann aber für uns entschieden, dass wir lieber ein Kollektiv sind, das hinter der Bühne arbeitet. Was wir mitbringen, ist, dass wir nicht aus einer Schule, sondern aus verschiedenen Schulen kommen. Eva Kessler hat Schauspiel an der UdK und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, Felina Levits Kostümbild in Hamburg und Paula Reissig Medienwissenschaften in Hildesheim studiert. Insofern bringen wir alle verschiedene Expertisen mit. Als Kollektiv entscheiden wir gemeinsam, an welchen Themen wir arbeiten, schreiben gemeinsam die Anträge und reflektieren und verfeinern unsere Zusammenarbeit kontinuierlich.
Da ich mich nicht theoretisch mit Begrifflichkeiten vom Kollektiven beschäftige, sondern aus der Praxis komme und auch in der Lehre versuche, meine praktischen Erfahrungen des Kollektiven in Tools zu übersetzen, die für Studierende, die kollektiv arbeiten wollen, sinnvoll sein können, möchte ich das Kollektive nicht auf eine Definition hin festklopfen. Ich empfinde das, was wir machen, als eine kollektive Arbeit, weil ich allein so nicht arbeiten könnte. Für mich geht es dabei nicht nur um die Ästhetik, die das Kollektiv gemeinsam kreiert, sondern auch um Formen der Arbeitsorganisation. Wir wollen wir zusammenarbeiten? Wie gehen wir mit der Bezahlung um? Wie organisiert sich der Prozess, was sind sicht-, was unsichtbare Aufgaben? Gleichzeitig fragen wir uns z.B. auch, inwiefern es irgendwann möglich sein könnte, andere hinzuzuholen, sie im Sinne der gemeinsam entwickelten Ästhetik in das Kollektiv zu integrieren.
TS: Gehen wir auf Eure Ästhetik noch genauer ein. Denn hier liegt neben der Dimension des Kollektiven, die Euch und Eure Zusammenarbeit als Theaterkollektiv betrifft, auch noch eine andere spannende Dimension von Kollektivität vor, nämlich die der kollektiven Autor*innenschaft. Damit meine ich das Kollektiv der Stimmen, die Ihr für Eure Inszenierungen interviewt. Sie bilden mit ihren Lebenserfahrungen, insbesondere zum Thema Sorgearbeit, das z.B. bei Care Affair zentral war, gewissermaßen eine Kollektivität zweiter Ordnung, die Inhalt und Form der Inszenierung prägen. Wie kamt ihr zu dieser Form kollektiver Autor*innenschaft und wie gestaltetet sich auf dieser Ebene die Zusammenarbeit? Werden die Gesprächspartner*innen auch in die Stückentwicklung einbezogen?
AK: Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass wir dokumentarisch arbeiten. Und dass es sich beim Dokumentarischen ja grundsätzlich die Frage nach der Authentizität, nach dem Status des Dokumentierten stellt. Deswegen heißen wir Frauen und Fiktion – uns interessiert die Fiktion,die aus dem Dokumentarischen entsteht. Wenn man sich fragt, wie man eine Wahrheit erzählen kann, dann bleibt es doch am Ende immer eine Form von Fiktion. Wenn wir mit einem Thema beginnen, wissen wir selbst auch noch nicht viel darüber, haben meist nur eine These. Dann beginnen wir, Gespräche zu führen. Beim Thema Care haben wir Menschen interviewt, die in ihrem privaten Lebensumfeld Sorge leisten und dadurch Expert*innen für das Thema wurden, oder auch Menschen, die beruflich Expertisen in dem Feld haben, wie beispielsweise eine Hebamme als Expertin für das Thema Gebären und Geburtsbegleitung. Unsere Performances leben von den Erzählungen, die uns die Interviewpartner*innen schenken. Wir beschäftigen uns intensiv mit dem Interviewmaterial und prüfen, inwiefern sich unserer Ausgangsthese durch die Gespräche verändert hat. Insofern sprechen wir von kollektiver Autor*innenschaft, da die Perspektiven der Interviewpartner*innen unsere Denk- und Inszenierungsprozesse entscheidend beeinflussen.
Da unsere Interviewrecherchen sukzessive aufeinanderfolgen, nutzen wir auch die Möglichkeit Interviewpartner*innen mit Perspektiven aus anderen Interviews in Berührung zu bringen und sie aufeinander reagieren zu lassen. So entstehen spannende Verbindungen und Bezugnahmen. Die Interviewten haben bei uns die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie mit ihrem Namen genannt werden oder nicht. Sie schenken uns großes Vertrauen, indem sie uns den freien künstlerischen Umgang mit dem Material ermöglichen. Teil der Verdichtungs- und Inszenierungsprozesse sind sie selbst also nicht.
TS: Da sind wir im Grunde schon bei der dritten Dimension des Kollektiven: dem Publikum. Die Themenwahl ebenso wie eure ästhetischen Entscheidungen verfolgen eine Geste der Einladung, öffnen die Theater-‚Bubble‘ und sind anschlussfähig für breitere Zuschauer*innenkreise. Geht mit eurer Arbeitsweise auch einher, dezidiert neue, diverse Publika zu generieren?
AK: Das ist definitiv unser Anliegen, ja. Dass durch unsere Recherchen auch Gruppen ins Theater gehen, die vielleicht sonst wenig Berührungspunkte haben. Beim Thema Care hatten wir im Zuge der Recherchen in Basel Kontakt mit einer Pflegefachschule, die dann mit einer Klasse auch in die Aufführung gekommen ist. Anschließend fand ein Nachgespräch statt, in dem z.B. das Thema Geschlechterstereotype in der Sorgearbeit thematisiert wurde, ein Thema, das in der Ausbildung sonst nicht so explizit verhandelt wird.
Dass es schwierig ist, mehr Menschen ins Theater zu holen, hat auch mit Ressourcen und der Reichweite von freien Theatern zu tun. Wir experimentieren z.B. auch gern mit anderen Formaten wie einem Hörspiel, das andere Publika über den Theaterraum hinaus ansprechen kann. Hier gibt es dann auch die finanzielle Barriere nicht. In dem Bereich haben wir noch viel vor.
TS: Mit Blick auf das Rahmenthema dieser Interviewreihe interessiert mich das Verhältnis von Kollektivität und Macht. Aktuell werden im Theaterbereich vermehrt Leitungen von Häusern oder Festivals kollektiv besetzt. Welches Versprechen wird hier aus Deiner Sicht im Kontext eines Wandels der Institutionen mit dem Kollektiven verbunden?
AK: Zunächst muss ich an einen Text von 2021 mit dem Titel „Patriarchendämmerung“ denken. Sinngemäß ging es darum, dass lange das Prinzip galt, aufgrund irgendeiner künstlerischen Exzellenz in die Position einer Theaterleitung gesetzt zu werden. Irrelevant war dabei zumeist, ob eigentlich jemals zuvor auch entsprechende Führungskompetenz bewiesen wurde. Die Frage, was dazu gehört, eine Gruppe von Menschen gut zu führen, wurde viel zu lange nicht gestellt oder diskutiert.
Ich glaube, eine Leitungsposition allein zu besetzen geht mit sehr viel Macht und Verantwortung einher. Ich will keinesfalls Menschen, die Machtmissbrauch betreiben, in Schutz nehmen, trotzdem sollte man sich auch klar machen, dass man in einer solchen Position allein stark unter Druck gerät. Und dieser Druck kann genommen werden, indem man als Team agiert.
Das heißt, das besagte Versprechen des Kollektiven könnte hier eben sein, dass an diese eine Position nun mehrere Perspektiven und geteilte Verantwortungen treten. Gleichzeitig erfordern Kollektive Zeit, da die Kommunikation aufwendiger wird. Und diese Zeit ist oft nicht da. Da gilt es dann allerdings dranzubleiben. Ich denke, dass die Arbeitswelt anstelle guter Arbeitsbedingungen viel zu stark auf Leistungsprinzipien beruht. Und dass es gerade in diesem Kontext wichtig ist, nicht auf Effizienz zu schauen, sondern auf Nachhaltigkeit. Wir müssen das Leistungsprinzip durchbrechen, um zu besseren Arbeitsbedingungen zu kommen und um Kollektivität zu ermöglichen. Wir müssen die Produktionsbedingungen in Frage stellen, und auch das ist kollektiv einfacher als allein.
TS: Du hast neben deiner künstlerischen Arbeit im Kollektiv Frauen und Fiktion seit dem Sommersemester 2022 an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ die Gastprofessur für kollektives Arbeiten inne. Eine Praxis, die insbesondere in der freien Szene erprobt ist, wird damit nun an einer staatlich geförderten Institution unterrichtet, deren Absolvent*innen nach dem Studium mehrheitlich zunächst als Einzelkünstler*innen in Ensembles der Stadt- und Staatstheater engagiert werden. Wie gehst du damit in der Lehre um?
AK: Ich glaube, dass die Vorstellung „wir machen das jetzt einfach kollektiv“ in den Köpfen vieler Menschen eine romantische oder idealisierte Vorstellung ist. Es ist nicht einfach nur eine Entscheidung für eine bestimmte Form. An der „Ernst Busch“ hatten Studierende zuletzt verstärkt eingefordert, dass angesichts stattfindender Versuche kollektiven Arbeitens solches selbst auch in der Lehre thematisiert wird.
TS: Im Sinne von Expert*innen in Mentor*innenfunktion?
AK: Ich bin im Fachbereich Regie angesiedelt. Das Regiehandwerk ist eigentlich das Herzstück der Lehre, da es in den zentralen Fächern darum geht: wie kommuniziere ich mit den Menschen auf der Bühne, die Schauspiel erlernt haben oder auch aus anderen Bereichen kommen? Wie kann ich Vorgänge empfehlen, und wie kann ich sie in Bewegung setzen? Das ist z.B. Gegenstand der Lehre. Aber wie erfolgen diese Prozesse in einem Kollektiv, wenn vielleicht weitere Übersetzungen stattfinden müssen, zum Beispiel, weil alle aus unterschiedlichen Disziplinen kommen. Wie kommunizieren Performer*in und Bühnenbildner*in untereinander am besten?
Konkret gliedere ich das Aufgabenfeld in die zwei Bereiche ‚künstlerische Arbeit‘ und ‚Zusammenarbeit‘. So ging es mir in einem Seminar, in das ich auch verschiedene Kollektive eingeladen habe, erst einmal darum, ein Verständnis für die Vielfalt kollektiven Arbeitens und die Vielfalt der daraus entstehenden Ästhetiken zu vermitteln. Wenn sich Kollektive im Studium formieren, können sie sich von mir beraten lassen. Wenn erst mal aber kein Kollektiv da ist, dann bietet sich an, einzelne Bausteine des kollektiven Arbeitens herauszugreifen. Für diesen zweiten Bereich ist mein Anliegen, z.B. erst einmal über Feedbackmethoden zu sprechen, darüber, wie wir nicht-verletzend miteinander kommunizieren können. Hier geht es mir um Kommunikation, Selbstreflexion und auch Selbstverantwortung. Das heißt, dass man auch für sich prüfen muss, was man selbst in einem gemeinsamen Raum mit anderen Leuten braucht, um gut arbeiten zu können. Hier geht es also ganz basal um Tools guter Zusammenarbeit und auch grundsätzlich darum, weiter am Narrativ vom genialen (Einzel-)Künstler – ich sage jetzt explizit die männliche Form – zu kratzen und zu zeigen, dass, egal bei welcher künstlerischen Produktion, es nur mit und in Zusammenarbeit und in dem Sinne kollektiv möglich ist.