Aufstieg durch Abstieg ­– Klasse und die Kultur der Selfcare

Die Olympischen Sommerspiele haben in diesem Jahr eine besondere Form von Erfolg hervorgebracht: Nicht nur die Schnellsten, Stärksten und Trainiertesten wurden vom überwiegend digitalen Publikum gerühmt. An sozialem Prestige gewinnen konnten auch diejenigen, die ohne Medaille nach Hause kehrten oder deren sportliche Leistung sogar völlig ausblieb: Die Turnerin Simone Biles und die Tennis-Spielerin Naomi Osaka, beide Hoffnungsträgerinnen ihrer Disziplinen, rückten in diesem Jahr ein ganz anderes Thema als ihre athletischen Errungenschaften in den öffentlichen Fokus. Biles entschied sich nach einem unsicheren Sprung dafür, auszusteigen und zu einigen der darauf folgenden Wettkämpfen nicht anzutreten. Sorge um ihre mentale Gesundheit und ihr Wohlbefinden trieb sie zu diesem ungewöhnlichen Schritt. Osaka, die ihre Depressionen und den Kampf mit dem sportlichen Erwartungsdruck schon oft öffentlich thematisiert hatte und aus diesen Gründen bereits von den French Open zurückgetreten war, schied überraschend früh im Achtelfinale aus. Auch sie brachte daraufhin erneut den immensen Druck zur Sprache, der auf ihr laste. 

Was den beiden Athletinnen dann entgegenschlug, war keineswegs Enttäuschung oder Häme; vielmehr überwiegten Lob und Anerkennung in den öffentlichen Reaktionen: „[Simone Biles] did a remarkable thing as a gymnast. And now she’s doing a remarkable thing by not performing.” (The New York Times, 2021a). Die Frauen wurden für ihren Mut gewürdigt (ZEIT Online, 2021) und als Vorbild verehrt (Spiegel Online, 2021). IOC-Präsident Bach bewunderte Biles „olympischen Spirit der besten Sorte“ (FAZ.NET, 2021) und die Sprecherin des Weißen Hauses bekundete „Dankbarkeit und Unterstützung“ (Psaki, 2021).

Das teils bewusste Nicht-Leisten der beiden Top-Athletinnen verleiht einer bereits andauernden und wichtigen Debatte um mentale Gesundheit und zu hohe Erwartungen im Spitzensport erneut Nachdruck. Dass dies nun ausgerechnet bei Olympia – dem Inbegriff von Leistungsdruck und Wettbewerb – zum Thema gemacht wird, mag zwar in dieser speziellen Ausprägung neu sein, überrascht jedoch kaum. Insbesondere im Kontext von ökonomischen Zwängen prangern Soziolog:innen schon seit Jahrzehnten die subjektiven und psychischen Folgen von Wachstumsdruck, kapitalistischer Steigerungslogik und Leistungsimperativen an. Die daraus resultierenden individuellen Belastungen gelten dabei als soziale Leiden und finden vor allem in Burnout und Erschöpfung ihren Ausdruck. 

Obwohl das persönliche Ausbrennen und damit einhergehende psychische Probleme ein gesellschaftliches Problem sind, lassen sich nun allerdings Unterschiede in der sozialen Bewertung von Erschöpfung und dem Nicht-mehr-können beobachten. So haben zum Beispiel Neckel & Wagner (2014) erörtert, dass das typische Ausbrennen in sozialen Berufen häufig als selbstverschuldete Konsequenz des „Helfersyndroms“ verspottet wird, während das Burnout des Managers als eine Folge von harter Arbeit, Anstrengung und Leistung durchaus auch Anerkennung hervorruft.

Das Thematisieren der eigenen emotionalen Verfassung und der mentalen Gesundheit ist eingebettet in größere gesellschaftliche Zusammenhänge: Biles und Osakas Sprechen über ihr mangelndes Wohlbefinden erweist sich als eine prototypische Ausprägung der sozialen Prozesse der Therapeutisierung und Psychologisierung sowie einem wachsenden reflexiven Umgang mit Emotionen, Körper und Geist. All diese Prozesse prägen bereits seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts Gefühlsdiskurse, jedoch haben sie in den letzten Jahren noch einmal an besonderer Relevanz gewonnen. Das Reden über und die Sorge um die eigenen Gefühle, das Selbst und dessen subjektivem Wohlergehen hat in diesem Zuge nicht nur an Normalität gewonnen, sondern trägt in Teilen sogar zur sozialen Ordnungsbildung bei. Dies offenbart sich in der Allgegenwärtigkeit von Gefühlsprogrammen und Selbsttechniken, die das „Ich“ und dessen Empfinden zu einem Gegenstand machen, an dem gearbeitet werden kann. Gegenwärtig besonders populär äußert sich diese Arbeit am Selbst in der Maxime der Selfcare: Die Sorge um seinen Gefühls- und Gesundheitszustand entwickelt sich zunehmend zu einem Imperativ und im Zuge dessen – wie auch bei den erschöpften Olympionikinnen – zur Handlungslegitimation. 

Allerdings betreffen diese gesellschaftlichen Entwicklungen nicht alle Menschen und Gruppen gleichermaßen. Nicht jeder Person ist es vergönnt, dass ihr bewusstes Nicht-Leisten sogar mehr positives Echo hervorruft als es wahrscheinlich die Leistung – in diesem Fall der Sieg – selbst getan hätte. In der Tat ist es in den meisten Konstellationen, in denen Selfcare zugunsten der mentalen Gesundheit als Erklärung für ein Ausbleiben von Leistung, Arbeit oder „Performance“ herangezogen werden könnte, undenkbar, dass dies auf ähnlichen Beifall stieße. Beobachtungen wie: „Biles showed that resisiting expectations can be more powerful than persisting them“ (The New York Times, 2021a) sind für den Fall der Star-Athletin zwar zutreffend, jedoch auch begrenzt auf eine kleine privilegierte Gruppe. Auch hier zeigt sich wie so oft, dass die Bewertung von Gefühlslagen stets eine Frage der Klasse ist.

Richtet man zum Beispiel seinen Blick auf die weniger in der Öffentlichkeit stehenden Angehörigen der unteren Klasse, ist es kaum vorstellbar, dass für Betroffene von Armut und existenzieller Unsicherheit das bewusste Ankämpfen gegen den alltäglichen Druck mit einem Gewinn an Ansehen verbunden sein könnte. 

Gerade in atypischen Beschäftigungsformen, die von höchst prekären, risikobehafteten und geringfügigen Tätigkeiten geprägt sind, geht die Entscheidung, sich gegen die häufig krankmachenden Verhältnisse zu wehren, wohl eher mit einem Jobverlust als einem symbolischen Aufstieg einher. Die Subjektivierung oder Singularisierung der Arbeitswelt, in der die ganze Persönlichkeit mit ihren individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnissen zum Teil der Arbeit werden, bestimmt nicht in allen Sektoren die Auswahl und Organisation von Arbeitskräften. Zu auswechselbar erscheinen da die prekär beschäftigen Arbeiter:innen, die aufgrund von Flexibilisierungsprozessen oftmals ohnehin keine feste Anstellung haben oder von externen Leiharbeitsfirmen umhergereicht werden. Für diese Diagnose genügt es, sich die katastrophalen Arbeitsbedingungen beim Fleischfabrikanten Tönnies, der vor allem im Zuge der Corona-Pandemie in die öffentliche Kritik geriet, in Erinnerung zu rufen: Mitarbeitende wurden hier selbst mit eindeutigen Covid-Symptomen zur Arbeit gezwungen und schufteten aus berechtigter Angst vor Entlassung selbst mit schwersten körperlichen Beeinträchtigungen weiter (Merkur, 2020). Es liegt auf der Hand, dass Bedenken über mangelnde mentale Gesundheit und Wohlergehen hier nur auf taube Ohren stoßen würden. Ausbeutung und Selfcare-Angebote passen eben nicht zusammen.

Ähnliches lässt sich für das Ausbrennen im privaten Bereich beobachten, das gerade dort keine Seltenheit ist, wo umfangreiche (meist weibliche) Fürsorgearbeit vielfach auf den Schultern Einzelner getragen wird. So ist die psychische und physische Gesundheit gerade von Alleinerziehenden oftmals beeinträchtigt. In vielen Fällen geht dies mit sozioökonomischen Risiken einher: Untersuchungen zeigen, dass insbesondere diejenigen, die mit Armut zu kämpfen haben, auch unter sozialer Isolation leiden (vgl. Klein-Krämer 2020). Damit fehlt ihnen bereits eine Anlaufstelle, an die sie sich mit ihren Problemen wenden könnten.

Gleiches gilt für Erwerbslose, die nicht selten rund um die Uhr von Sorgen um Familie und Zukunft geplagt werden, und daher keineswegs vor dem Ausbrennen gefeit sind. Fehlende emotionale Bindung und Selbstwirksamkeit, die Arbeitslosigkeit häufig nach sich zieht, kann vielmehr sogar als Ursache für Stress und Burnout ermittelt werden (Julmi & Scherm 2013) – auch wenn das viele sonst nur mit den 80-Stunden-Wochen der unter unternehmerischen Dauerdruck stehenden Manager:innen assoziieren.

Auch Biles und Osaka wurden nicht mit den Privilegien geboren, die sie heute genießen. Als schwarze Frauen im Spitzensport sind sie zudem noch einer besonderen Ausprägung des Leistungsdrucks ausgesetzt, die mit dem in den letzten Jahren populärer gewordenen und nicht ganz unproblematischen Konzept der „Black Excellence“ zusammenhängt (siehe dazu Forbes, 2021). Das wichtige Thematisieren ihrer mentalen Gesundheit hat den affektiven Dimensionen von Olympias schonungslosen Anforderungen an Fleiß und Disziplin daher besonders wertvolle öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings erfordert auch die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung für diese Anforderungen eine differenzierte Betrachtung. So macht Reckwitz (2018) auf ein anderes Verständnis von Disziplin und Fleiß in der neuen Unterklasse aufmerksam. Selbstdisziplin steht hier nicht für einen pathogenen Katalysator eines endlosen Wachstums- und Leistungsregimes oder gar für ein Instrument des Aufstiegs. Vielmehr gilt diese Fähigkeit als eine Notwendigkeit zur Bestreitung des Alltags und als ein Hilfsmittel, um einen weiteren sozialen und ökonomischen Abstieg zu verhindern (vgl. Reckwitz, 2018, S. 352). Auch in diesem Zusammenhang können die Narrative der Oberklasse nicht einfach übernommen werden.

Was aber in Anbetracht der Maßnahmen der beiden Olympionikinnen ins Gewicht fällt, ist die öffentliche Bewertung dieser neuen Priorisierung: Wohlbefinden und mentale Gesundheit über Idealvorstellungen von Leistung zu stellen und es sogar als Gewinn statt als Verlust zu benennen, ist eben nur dann möglich, wenn die betroffenen Personen verhältnismäßig weich fallen. Für die meisten Angehörigen der Unterklasse ergibt sich diese Möglichkeit erst gar nicht; in vielen Fällen wären existenzielle Lebensgrundlagen bedroht. Damit Osakas und Biles vorbildliches Handeln auch zu einer „mental health revolution“ (NBC News, 2021) werden kann, wie manche diesen wichtigen Schritt bezeichnen, ist es unerlässlich, dass der Ausdruck von Sorge um mentale Gesundheit als auch das nötige Handeln danach nicht nur internationalen Superstars vorbehalten ist.

Quellen

FAZ.NET (2021): „Bester Spirit“. https://www.faz.net/aktuell/sport/olympia/ioc-chef-bach-ueber-simone-biles-bester-spirit-17462247.html

Forbes (2021): Our Obsession with Black Excellence Is Harming Black People. https://www.forbes.com/sites/janicegassam/2021/08/01/our-obsession-with-black-excellence-is-harming-black-people/?sh=670477402fd9

Julmi, Christian & Scherm, Ewald (2013): Burnout trotz geringer Anforderungen: Warum auch Arbeitslose an Burnout erkranken können. In: SEM Radar. Zeitschrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management 12 (2/2013), S. 17-27

Neckel, Sighard & Wagner, Greta (2014):  Burnout. Soziales Leiden an Wachstum und Wettbewerb. In: WSI-Mitteilungen 7, S. 536-542.

Keim-Klärner, Sylvia (2020): Soziale Netzwerke und die Gesundheit von Alleinerziehenden. In: Andreas Klärner, Markus Gamper, Sylvia Keim-Klärner, Irene Moor, Holger von der Lippe (Hrsg.): Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten. Springer VS, S, 329-346.

Merkur (2020): Trotz Corona-Symptomen bei Tönnies: Mitarbeiter packt über seine Arbeit aus – Die Details erschrecken. https://www.merkur.de/welt/coronavirus-toennies-guetersloh-arbeitsbedingungen-symptome-schlachthof-mitarbeiter-billiglohn-13809175.html

NBC News (2021): Young Black athletes are launching a mental health revolution. https://www.nbcnews.com/news/nbcblk/young-black-athletes-are-launching-mental-health-revolution-rcna1490

Psaki, Jen (2021): https://twitter.com/jrpsaki/status/1420015522360565764

Reckwitz, Andreas (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung.

Spiegel Online (2021): Die Last der Spiele. https://www.spiegel.de/sport/olympia/simone-biles-naomi-osaka-und-nyjah-huston-bei-olympia-2021-die-last-der-spiele-a-961acbc4-bca8-49b9-87d7-efe53fbffb0f

The New York Times (2021a): The Story of Simone Biles. https://www.nytimes.com/2021/07/30/podcasts/the-daily/simone-biles-tokyo-olympics.html?showTranscript=1

The New York Times (2021b): Simone Biles and the Power of ‘No’. https://www.nytimes.com/2021/07/28/sports/simone-biles-self-care.html

ZEIT Online (2021): Turn-Star Biles und mentale Probleme im Spitzensport. https://www.zeit.de/news/2021-07/28/turn-superstar-biles-sagt-auch-start-im-mehrkampf-ab