An der Haltestelle Görlitzer Bahnhof steige ich aus der U-Bahn aus. Kaum haben meine Füße den Bahnsteig berührt, werde ich gefragt, ob ich „Weed“ kaufen möchte. Obwohl ich verneine, versuche ich nett zu sein und mache mich auf den kurzen Fußweg zur Grünanlage. Am Nordeingang des Parks an der Skalitzer Straße stehen ein paar junge Männer, die sofort Blickkontakt mit mir suchen. Ein besonders engagierter Verkäufer bewirbt mit exemplarisch erhobenen Tütchen das „gute Gras“. Erneut lehne ich mit einem Lächeln ab und begebe mich zu den Überresten des Pamukkale-Brunnens. Von der obersten seiner Stufen kann man den großen Vorplatz beobachten. Die untergehende Sonne vergoldet die Häuserfront, die hinter den beiden Lagerhallen liegt. Im Hintergrund sind Polizeisirenen, Vogelgezwitscher und die krachenden Skateboards von Jugendlichen zu hören, die in einiger Entfernung Tricks üben.
Bis Mitte 1960 stand hier noch die Bahnhofshalle des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs. Diese beherbergte neben einem Speiselokal, einem Frisör und einem Kiosk auch die Poststelle Nummer 36, welche dem ganzen Kiez auch heute noch seinen Namen gibt: SO36 (Kleinbauer 2018: 144). Nachdem der Personen- und später auch der Güterverkehr eingestellt wurde, stellte sich nun Anwohner:innen und der Bezirksverwaltung Kreuzberg die Frage, was man mit der neugewonnenen Fläche anstellen könne. Allerdings ließ sich die Frage nicht ohne Beteiligung Ost-Berlins beantworten, da die Bahnanlagen und ihre Grundstücke von der Verwaltung des ehemaligen Reichsbahnvermögens (VdeR) betreut wurden. Am Ende einer Verhandlung im Oktober 1961 zwischen dem Bezirksamt Kreuzberg und der VdeR stand die Einrichtung einer öffentlichen Grünfläche (Galli 1994: 20). Doch das Umwandeln des ehemaligen Bahngeländes in einen Park gestaltete sich recht schwierig, da sich in der Zwischenzeit viele kleine Betriebe auf der Fläche angefunden hatten und andere Teile des heutigen Parks als Müllhalde, Bastelplatz für Autos und auch als Testgelände für Molotow-Cocktails genutzt wurden. Mit der Ausschreibung eines Wettbewerbs zur Planung des Parks kam man zwar der Umsetzung des Parks näher, allerdings wurden auch kritische Stimmen laut, die einen braven, geordneten Park befürchteten. Als der Plan für den Park stand und die Verwirklichung begann, brannte in der Nacht vom 15. zum 16. November 1987 ein Bagger. Zu dieser Tat bekannte sich die Gruppe Wildwuchs K36, welche in einem öffentlichen Brief einen „Abenteuerspielplatz für alle, wo Kid’s [sic] noch was erleben können“ (Kleinbauer 2018: 137) forderten. Trotz lodernder Kritik wurde der Umbau weiter betrieben und 1998 beendet.
In der Gegenwart steht in der Mitte des Platzes ein älterer Mann. Er fällt auf, weil die meisten Besuchenden diesen Platz überqueren, ohne lang zu verweilen. Zwei junge Männer mit Fahrrädern gehen auf ihn zu. Sie tragen beide knallgrüne Jacken auf deren Rückenseite „Parkläufer“ aufgedruckt ist. Trotz der Entfernung höre ich einen der beiden Männer laut fragen „Alles ok?“. Sie fangen ein Gespräch an. Rechts, ein paar Stufen unter mir, haben zwei Jugendliche Platz bezogen. Sie hören Musik, unterhalten sich und trinken Berliner Kindl aus der Dose. Langsam steigt mir ein süßlich-herber Geruch in die Nase. Auf der gegenüberliegenden Seite des, einem Amphitheater gleichenden, Bauwerks klettert eine ältere Frau mit ihrem kleinen Hund die teilweise sehr hohen Stufen des Brunnens hinauf. Beide haben augenscheinlich Probleme damit den Höhenunterschied zu bewältigen.
Die beiden Männer mit den grünen Jacken sind Teil der Umsetzung des „Handlungskonzept Görlitzer Park“. Dieses ging aus einer Arbeitsgruppe hervor, welche sich im Mai 2016 mit dem Ziel „einen Park für alle zu schaffen“ dem „Görli“ widmete. Davor versuchte man mit verschiedenen Ansätzen den Problemen im Park zu begegnen. Der ehemalige Innensenator Henkel richtete eine Nulltoleranzzone[1] ein, die 2016 mit Regierungswechsel im Berliner Senat wieder aufgehoben wurde. Dann versuchte man es mit dem Zurückschneiden der Begrünung aus polizei-strategischen Gründen. Nach der Einstufung des Görlitzer Parks als kriminalitätsbelasteten Ort (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz Berlin §21(1)), welche ähnlich wie bei der Nulltoleranzzone, die Dealer:innen aus dem Park nur kurzeitig „vertrieb“, entstand nun mit dem Handlungskonzept ein inklusiver und partizipativer Ansatz. Dieses wurde 2016 vom Bezirksamt Kreuzberg-Friedrichshain gemeinsam mit Anwohner:innen des Parks ausgearbeitet. Dem Konzept folgte im Herbst 2018 eine politische Maßnahme. Es wurde ein Parkrat gewählt, dessen Aufgabe es war, mithilfe des neu eingesetzten Parkmanagers und dem Bezirksamt die Ziele des Handlungskonzepts umzusetzen. Die Probleme, um die es sich bis heute im Park zu kümmern gilt, sind vielfältig und reichen von sexistischen Sprüchen und Anmachen (besonders gegenüber Besucherinnen) über Vorwürfe von racial profiling gegenüber der Polizei bis hin zu Vermutungen des Drogenverkaufs an Kindern. Einige Ansätze zur Problemlösung trafen jedoch bereits auf heftige Kritik. Auf den Vorschlag des Parkmanagers Cengiz Demirci, die Standflächen von Dealer:innen zu markieren und somit ein Spalierstehen zu verhindern, wurden Stimmen aus der Berliner CDU laut, die beklagten, dass damit zum Drogenhandel eingeladen werden würde. Ob man danach sucht oder nicht: Sobald man sich in den Park begibt, wird man mit dessen Themen konfrontiert.
Ich entscheide mich, weiter zu spazieren. Vor mir liegt nun die große Kuhle, die im geographischen Zentrum des Parks liegt. Ich setze mich auf eine Bank, um das Geschehen besser beobachten zu können. Hier spielen Menschen mit Hunden und Hunde mit anderen Hunden. So kommen die verschiedenen Hundebesitzer:innen ins Gespräch. Durch die tiefhängenden Äste einer Tanne scheint das Blau einer Wanne der Polizei hindurch. Immer wieder fahren Fahrradfahrer:innen an mir vorbei, unter ihnen auch die beiden Männer mit grünen Jacken. Die Hundebesitzer:innen verabschieden sich und gehen auseinander. Ich gehe weiter. Eine Malerin sitzt am Wegesrand absolut auf ihre Leinwand und den vor ihr liegenden Abschnitt konzentriert. Durch einen kurzen Blick auf ihr Bild bemerke ich, den künstlerischen Kontrast. Die alleeartig angeordneten, orangefarbenen Mülleimer der BSR leuchten aus ihrem winterlich grau-braunen Umfeld hinaus. Auf der Höhe des Sportplatzes steht ein blauer Kinderwagen auf dem Weg. Er ist leer. Fahrradfahrer:innen und Fußgänger:innen weichen ihm aus.
Leere Kinderwagen, Hunde und ihre Besitzer:innen, Maler:innen, Fahrradfahrer:innen, Polizist:innen, Dealer:innen, Bäume und auch die Mülleimer der BSR. Das alles macht den Görlitzer Park irgendwie zu dem, was er ist. Will man dieses „Irgendwie“ verstehen, so kommt man mit einem starren Raumbegriff, der die Grenzen des Parks um seine Fläche legt und ihn nur als leeren Raum betrachtet, nicht weit. Vielmehr lohnt es sich auf Konzepte zu schauen, die diesen starren Begriff aufbrechen. Sie werfen ein Licht auf die Elemente, die diesen Raum bilden. Martina Löw versteht den Raum als ein Ergebnis aus Beziehungen, die zwischen Objekten, Menschen und Tieren geknüpft werden. Auch Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen können in dieses Beziehungsnetz mit aufgenommen werden (Löw 2017: 153ff). Schaut man aus diesem Blickwinkel auf den Park, so fällt sofort auf, dass die Verbindungen vom Park weit über seine Flächengrenzen hinausgehen. Anders ließe sich auch nicht erklären, warum der Görlitzer Park in der bundesweiten Presse so oft als Symbolbeispiel auftaucht. Zum Verständnis der Gefühle, Emotionen und Affekte, die im „Görli“ gelebt werden, ist das Konzept der Affective Arrangements hilfreich. Mit diesem Konzept beschreiben Jan Slaby, Rainer Mühlhoff und Philipp Wüschner, ähnlich wie Löw, einen offenen, auf Beziehungen beruhenden Denkansatz. Besonders an ihrer Herangehensweise ist, dass Affekte den Kern eines Arrangements bilden und somit die Verbindung zwischen den raumbildenden Elementen ausmachen. Diese affektiven Beziehungen nehmen nach „außen“ hin ab (Slaby et al. 2019: 6). Aber was heißt das in der Praxis? Themen wie zum Beispiel Rassismus, Drogenhandel und Gentrifizierung werden in ihrer Komplexität durch den Park sichtbar. So werden in anliegenden Kitas und Jugendzentren besonders diese Probleme mit Kindern und Jugendlichen besprochen, da sie im Alltag erlebt werden. In einem Interview mit der Ethnologin Franziska Becker erzählt eine Anwohnerin, dass sie ab und zu Wasser aus Eimern auf Tourist:innen kippt (Becker 2016: 23). Dieser Streich wird erst dann zu einer aktivistischen Tat, wenn man die Verbindung zwischen dem Touristenziel „Görli“ und der Angst vor Gentrifizierung der Anwohner:innen versteht. An diesen Beispielen kann man sehen, dass die verschiedenen affektiven Beziehungen sich über die Parkgrenzen hinwegbewegen und verknüpfen. Somit erweitern sie das wechselseitige Affektgeschehen im Umfeld des Parks.
Nun komme ich an die Brücke am südlichen Ende des Parks. Ich drehe um und nehme einen etwas anderen Rückweg. Der untere Teil der Grünanlage an der Görlitzer Straße ist ruhig. Den kleinen Abhang kommt mir ein Mann entgegengeeilt. Er guckt mich mit fragendem Blick an. Ich verstehe und verneine. Der Mann begibt sich wieder in den geschäftigeren Teil des Parks. Auf dem ruhigen, kleinen Teich vor mir schwimmen zwei Blässhühner. Als ich mein Notizbuch aufschlage, fliegen sie auf und ziehen mit ihrem abrupten Manöver große Ringe in die glatte Wasseroberfläche.
Auch wenn sich das Bild einer typischen städtischen Grünfläche andeutet, erfüllt der Park trotzdem nicht die allgemein damit verbundenen Bilder. Wenn Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen in einem Raum vereint und mit ihm verbunden werden, dann nennt das Martina Löw Syntheseleistung. Genau dieser Prozess macht den Görlitzer Park so besonders. Von der Wahrnehmung als Angstraum über die Vorstellung von einem Park für Alle bis hin zur Erinnerung an die Anfänge des Parks werden mehrere Bedeutungsebenen deutlich. Aber was heißt das jetzt? Der Görlitzer Park als Affektives Arrangement – was bringt diese Bezeichnung für die Praxis? Durch die intensiven Auseinandersetzungen auf persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene, zeigen sich daran gebundene affektive Dynamiken an diesen Räumen besonders deutlich. Das ermöglicht eine genaue Betrachtung dieser Verhältnisse und ihrer Auswirkungen. Der „Görli“ sensibilisiert also für die großen und die kleinen Themen, die die Besucher:innen bewegen. Dabei ist er bei weitem nicht der einzige Ort, der diese Eigenschaften besitzt. Auch in Theatern, Clubs, manchen Innenhöfen oder auf öffentlichen Plätzen, wo auch immer Räume mit Affekten und Beziehungsnetzen besetzt sind, sollten wir genauer hinschauen und genauer hinhören, was sie uns zu sagen haben.
Mir wird kalt und ich gehe weiter. Der blaue Kinderwagen steht immer noch auf dem Weg. Die Malerin hat nun alle Farbe auf die Leinwand aufgetragen und bewahrt, denn jetzt ist das goldene Licht verblasst. Der Himmel schimmert jetzt nur noch in einem Blaugrau. In der Kuhle spielen noch ein paar Leute Frisbee oder sitzen auf der Ruine des alten Unterführungstunnels. Auf einmal durchbricht ein lauter Knall die kalte Abendluft. Einige Menschen erschrecken und sehen sich fragend an. Nach einem kurzen Moment jedoch fangen sie an zu lachen. Ich begebe mich Richtung Ausgang am Black Light Minigolf und Schwimmbad vorbei. Beim Verlassen des Parks werde ich noch einmal freundlich aufgefordert, etwas zu kaufen. Ich überlege kurz, verneine aber und muss über diese Rahmenhandlung lachen. Mir wird ein Lachen entgegnet und so verabschiede ich mich vom „Görli“.
[1] Die Nulltoleranz galt hier gegenüber der erlaubten Menge an mitgeführten Marihuana, welche in Berlin bei 15 Gramm liegt.
Literatur
Becker, Franziska (2016): Hier ist jeder Busch politisch. Eine ethnographische Nutzungsanalyse im Sozialraum Görlitzer Park. Berlin: Straßen- und Grünflächenamt, Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.
Kleinbauer, Anne (2018): Kleine Archäologie des Görlitzer Parks. In: Autor*innenkollektiv Gras & Beton (Hg.), Gefährliche Orte. Unterwegs in Kreuzberg. Berlin: Assoziation A, 44-55.
Galli, Emil (1994): Görlitzer Bahnhof. Görlitzer Park. Berlin: SupportEdition.
Löw, Martina (2017): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Slaby, Jan, Rainer Mühlhoff, Philipp Wüschner (2019): Affective Arrangements. Emotion Review. Vol.11(1): 3-12.