In der Interview-Reihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten assoziierte Kolleg:innen und Wissenschaftler:innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir die Psychologin und neue wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt A02 des SFB Affective Societies vor. Nora Stumpfögger arbeitet und forscht in der Spezialambulanz für Vietnamesische Migrant:innen an der Charité Berlin.
1.) Welche Forschungsfrage bewegt Sie aktuell? Worin besteht ihre gesellschaftliche Bedeutung?
Schon während meines Philosophiestudiums und später auch in meinem Psychologiestudium haben mich besonders solche Fragen interessiert, die an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen liegen. Zur Zeit beschäftige ich mich vor allem mit Affekten und Emotionen im Kontext von Migration, psychischen Belastungen und Transnationalität. Innerhalb meiner neu aufgenommenen Arbeit am SFB bin ich an die Spezialambulanz für vietnamesische Migrant:innen der Charité, CBF angebunden und verfolge hier mein Interesse an den heterogenen vietnamesischen Migrationsverläufen. Eine vertiefte Beschäftigung mit Emotionen und Affekten ist, denke ich, nicht nur innerhalb der Psychologie wichtig, sondern spielt auch für die Beantwortung zentraler Forschungsfragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in anderen Disziplinen eine bedeutende Rolle – was für mich die Arbeit des SFB immer wieder deutlich zeigt.
2.) Die Relevanz welcher Emotion hat Sie in letzter Zeit überrascht?
Sowohl im privaten wie auch im politischen Kontext habe ich in letzter Zeit viel über Scham und die Vermeidung von Schamgefühlen nachgedacht. Ich glaube, dass ich bis vor kurzem sowohl die Aversion von Scham in vielen Kulturen, insbesondere auch westlichen, als auch das Bestreben, Schamgefühle zu vermeiden als eine zentrale Triebkraft menschlichen Handelns unterschätzt habe.
3.) Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Schranken in Ihrer Forschungsarbeit?
Sowohl das Ende meines Studiums als auch mein Start ins Berufsleben sind in die Zeit der Corona-Einschränkungen gefallen. Forschungsarbeit unter diesen Bedingungen – per Video, im Homeoffice und mit teils großer räumlicher Distanz – habe ich oft als kräfteraubender und weniger befriedigend erlebt. Trotz dieser Herausforderungen dominieren für mich aber die positiven Aspekte meiner wissenschaftlichen Arbeit: die Möglichkeit, mich intellektuell zu betätigen, neue Impulse aufzunehmen, der Austausch mit Kolleg:innen und das fast schon kathartische Gefühl beim Schreiben, wenn sich das Chaos lichtet und sich die Gedanken plötzlich ordnen. Was mich antreibt, ist der Wunsch nach Erkenntnis, der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, deren Werte ich teile, der Wunsch, hier einen positiven Beitrag zu leisten – und die Überzeugung, dass Krisen irgendwann vorbei sind.
4.) Welches Buch hat Sie zuletzt stark affiziert?
Das Buch Home is where we start from von Donald W. Winnicott. Insbesondere sein Text über Kreativität war für mich schon während des ersten Lockdowns ein wichtiger Anker. Winnicott hat einen sehr weiten Begriff von Kreativität: Für ihn ist alles kreativ, was uns das Gefühl gibt, lebendig zu sein. In einer Lockdown-Situation haben mir vor allem zwei seiner Überlegungen Hoffnung gegeben: Erstens, dass neue und aufredende Dinge auch im Gewöhnlichen und Wohlbekannten zu finden sind und zweitens, dass ein gelungenes Leben kein perfektes Leben sein muss – was wir stattdessen anstreben sollten, ist ein „good enough“.
5.) Auf welche Stimmungen und/oder Gefühle würden Sie im Moment gerne verzichten?
Die ständige latente Anspannung, die Ungewissheit, die innere Unruhe wegen der Corona-Pandemie, die uns nun doch schon deutlich länger begleitet und einschränkt als anfangs gehofft.