In der Interview-Reihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten assoziierte Kolleg:innen und Wissenschaftler:innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir die Soziologin Nadine Maser von der Universität Hamburg vor. Sie ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Gesellschaftsanalyse und Sozialer Wandel. Ihre Interessen liegen im Bereich Soziologische Theorie, politische Soziologie und Kultursoziologie mit Schwerpunkt auf Konflikten um soziale Zugehörigkeit. Derzeit unterstützt sie die Forschungen im SFB-Teilprojekt B06: Die Fabrikation von Emotionsrepertoires unter der Leitung von Sighart Neckel.
1. Welche Forschungsfrage bewegt Sie aktuell? Worin besteht ihre gesellschaftliche Bedeutung?
Ganz generell interessiere ich mich für Fragen rund um das Thema soziale Zugehörigkeit. Bedenkt man, welche Rolle Zugehörigkeiten als Quelle individueller Lebenschancen und sozialer Teilhabe spielen, erklärt sich die gesellschaftliche Relevanz quasi von selbst. Mich interessieren jene Spannungsmomente, die sich aus der Diskrepanz zwischen normativen Gleichheitsansprüchen moderner Gesellschaften und deren Umsetzung auf formaler Ebene einerseits, und den lebensweltlich erfahrenen Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen andererseits, ergeben. Mögen sie auch als illegitim gelten, so bleiben Kategorisierungs- und Zuschreibungsprozesse im Zusammenhang mit Abwertung und Ausgrenzung sozial wirkmächtig.
2. Die Relevanz welcher Emotion hat Sie in letzter Zeit überrascht?
Weniger eine bestimmte Emotion, die mich überrascht hat, vielmehr bin ich anhaltend irritiert über die Anschlussfähigkeit einer Bewegung sogenannter Querdenker:innen, in der – zumindest nach aktuellen Einschätzungen – eine sehr heterogene Gruppe mit uneinheitlichen Forderungen über gemeinsame Gefühlslagen verbunden ist. Durch emotionale Beweisführung wird zwischen Formen legitimer Kritik und Protest auf der einen Seite und Verschwörungserzählungen auf der anderen nicht mehr unterschieden. Die Art und Weise, wie dann das eigene Gefühlerleben der durch Wissenschaft gewonnenen Erkenntnis und Expertenwissen gegenübergestellt wird, finde ich besorgniserregend.
3. Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Schranken in Ihrer Forschungsarbeit?
Denkbar die vielschichtigen Formen negativer Zugehörigkeitserfahrung, mit denen gegenwärtige Gesellschaften aufwarten.
4. Welches Buch hat Sie zuletzt stark affiziert?
Ein Buch, das ich gegenwärtig lese, nämlich »Löwen wecken« (2014) der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen. Ein junger Arzt überfährt eines Nachts in der Wüste versehentlich einen Eritreer, einen illegalen Immigranten, und begeht – nach kurzer Abwägung – Fahrerflucht. Eine Krimihandlung, bei der mich vor allem die ambivalenten Charaktere faszinieren. Das Buch liest sich aber nicht nur als eine Art existenzialisitscher Roman, sondern auch als Porträt der israelischen Gesellschaft, das die Gräben zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und die herrschenden Vorurteile gegenüber Arabern, Frauen, Illegalen nachzeichnet.
5. Auf welche Stimmungen und/oder Gefühle würden Sie im Moment gerne verzichten?
Tagesaktuell auf jeden Fall das Unbehagen und die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Bild: Marian Lenhard