Annähernd 250.000 Menschen sind bisher weltweit nach einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben. Das Sterben, darin sind sich die Expertinnen einig, wird noch weitergehen, in mehreren Wellen, ehe sich die vielbeschworene ‚Herdenimmunität‘ eingestellt hat. Irgendwann jedoch, auch darin sind sich die Experten einig, wird die Krise vorbei sein. Das Virus wird aus der globalen Aufmerksamkeit wieder verschwinden. Die Toten aber werden bleiben. Wie sollen wir mit ihnen umgehen? An dieser Frage entscheidet sich, wer wir in Zukunft sein werden.
Dass in anderen Teilen der Welt gestorben wird, massenhaft und Tag für Tag, an den europäischen Außengrenzen, in Syrien und vielen anderen Ländern, gehört seit geraumer Zeit zur Tagesordnung. Dass dergestalt nun aber auch in Europa gestorben wird, vor unserer eigenen Haustür, das ist neu. Krankenhäuser sind überfüllt, das medizinische Personal überarbeitet, Turnhallen werden provisorisch zu Krankenstationen umfunktioniert. Da sind zahllose Menschen, die allein sterben, getrennt von ihren Angehörigen, ohne ein vertrautes Gesicht in der Nähe. New York gehört zu den Orten, die es besonders hart getroffen hat. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Nachrichten Bilder von Kühllastern zeigten, in langen Reihen vor den New Yorker Krankenhäusern, die darauf warteten, die Toten abzutransportieren. Die Stadt wusste nicht mehr, wohin mit ihnen. Auf Hart Island wurden Massengräber ausgehoben für diejenigen, die keine Angehörigen haben oder deren Familien sich keine Beerdigung leisten können. Zeitweilig gingen die Überlegungen dahin, öffentliche Parks vorübergehend zu Begräbnisstätten umzufunktionieren. Keine Frage: Die Coronakrise nötigt uns dazu, neu über den Tod und das Sterben nachzudenken.
Kaum eine Disziplin, so könnte man meinen, scheint dafür so geeignet wie die Philosophie. Stellt der Tod des Sokrates, von dessen letzten Stunden Platon im Phaidon berichtet, nicht ihre eigentliche Geburtsstunde dar? „Philosophieren heißt sterben lernen“, wird es rund 2.000 Jahre später bei Michel de Montaigne heißen. Und Martin Heidegger, noch einmal später, wird das menschliche Dasein überhaupt als ein „Sein zum Tode“ bestimmen. Kurzum, in Sachen Tod macht man der Philosophie so leicht nichts vor. Sobald man die Blickrichtung jedoch ein wenig ändert, weg von dem Tod und hin zu den Toten, wird sie mit einem Mal merkwürdig stumm. Sobald es nicht mehr um den Tod als solchen geht, als namenloses Ereignis, sondern um die konkreten Menschen, die er ereilt, und um die Frage, wie wir – die Lebenden – mit ihnen umgehen sollen, weiß die Philosophie erstaunlich wenig zu sagen. In dieser Frage müssen wir uns anderen Instanzen zuwenden. Hier können uns vor allem die kulturwissenschaftlichen Disziplinen weiterhelfen.
Die Kulturgeschichte lehrt uns, dass es noch nie eine Gesellschaft oder Epoche gab, in der die Menschen dem Faktum des Sterbens vollkommen gleichgültig gegenübergestanden hätten. Der Mensch ist ein Tier, das seine Toten bestattet, sie in die Erde legt, verbrennt oder irgendeinem anderen Element anvertraut. Zu den ältesten Zeugnissen, die von der Anwesenheit unserer Spezies auf diesem Planeten künden, gehören Gräber. Alles deutet darauf hin, dass die Menschen dem Sterben schon immer mit einer besonderen Sorge begegnet sind, die in verschiedenartigen kulturellen Praktiken ihren Ausdruck fand. Worin liegt der Sinn dieser Verrichtungen? Weshalb haben die Menschen es nicht vorgezogen, ihre Toten einfach liegenzulassen? Folgt man dem Kulturwissenschaftler Robert Harrison, bildet die Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten das Fundament menschlicher Kultur überhaupt. „Unsere grundlegenden menschlichen Institutionen“, so Harrison, „haben als Urheber immer und von Anfang an diejenigen, die vorher kamen.“ Der rituelle Komplex rund um die Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten kündet von dem Bemühen, das biologische Faktum des Sterbens durch eine kulturelle Regel des Übergangs zu bändigen und dem natürlichen Tod dadurch die Signatur des menschlichen Todes zu verleihen. Wer stirbt, ist nicht einfach tot. Vielmehr muss die verstorbene Person durch bestimmte Vorkehrungen erst zu einem Toten gemacht werden. Dafür zu sorgen ist Sache der Lebenden. Es geht darum, einen Übergang zu markieren und die Bedingungen zu gewährleisten, unter denen dieser Übergang stattfinden kann. Das ist das mindeste, was wir den Toten schulden.
„Nur der Mensch stirbt“, heißt es bei Heidegger. „Das Tier verendet.“ Angesichts der Bilder, die uns seit Beginn der Krise aus New York und vielen anderen Städten erreichen, scheint die Sorge nicht unbegründet, dass ebendiese Differenz – zwischen Sterben und Verenden, Kadaver und Leichnam – unter dem Eindruck der gegenwärtigen Entwicklungen Gefahr läuft zu kollabieren. Viele Menschen sterben, ohne dass da jemand wäre, der ihnen die Hand hält oder an den sie noch einmal das Wort richten könnten. Nicht nur im Leben, sondern auch im Tod trifft es die Armen und sozial Benachteiligten dabei am härtesten. Es steht zu bezweifeln, dass die Toten in den Massengräbern auf Hart Island ihre letzte Ruhe finden. Das wird Geister geben. Wir werden mit ihnen rechnen müssen.
Eine gekürzte Fassung des Textes wurde am 1. Mai vom Philosophie Magazin in der Reihe „Denkanstöße zur Corona-Krise“ online publiziert.