Meditieren gegen Corona-Maßnahmen?

Überschneidungen einer Kultur der Selbstfürsorge und Achtsamkeit mit der Ablehnung von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung

Als Ende August dieses Jahres rund 38.000 Menschen in Berlin zum selbsternannten „Fest für Freiheit und Frieden“ gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung auf die Straße gingen, sorgte unter anderem die soziale und kulturelle Heterogenität der Protestierenden für Aufsehen. Mehr und weniger bekannte rechtsradikale und neonazistische Gruppierungen aus den Kreisen der AfD, NPD, der Identitären Bewegung, Reichsbürger sowie diffuser rechter Verschwörungstheoretiker marschierten Reichsfahnen-schwenkend neben Esoteriker:innen, Hippies und spirituellen Gruppen, als sei es das normalste der Welt.

Gleichermaßen waren auch Personen zu beobachten, die sich eher der sogenannten bürgerlichen Mitte zuordnen lassen: Familien aus wohlhabenden Milieus, die schon von Stuttgart 21-Protesten bekannt sind, ebenso wie Protestierende aus urbanen, oftmals akademisch gebildeten, umweltbewussten Kreisen, die gerade in Großstädten wie Berlin landläufig und klischeehaft gerne mit Bioläden und Yoga-Kursen assoziiert werden. Passend dazu standen bei diesen Gruppen weniger Randale und rechtssymbolische Praktiken im Vordergrund als vielmehr eine betont friedliche Form des Protests, die zum Beispiel im gemeinsamen Meditieren ihren Ausdruck finden sollte.

Doch während die Präsenz von Neonazis und Verschwörungstheoretiker:innen auf dieser staats- und regierungskritischen Demonstration kaum überrascht, lässt die Teilnahme von solchen vermeintlich harmlosen Meditierenden Fragen aufkommen. So läge zunächst die Vermutung nahe, dass gerade dieses Milieu kaum mit den neonazistischen, radikal-esoterischen und besonders lauten Corona-Leugner:innen sympathisieren sollte, da man mit ökologisch orientierten und meditationsinteressierten Kreisen gemeinhin eher eine Haltung der Vorsicht und der Rücksichtnahme verbindet.

© Jan Grewe

Mit auf körperliches Wohlbefinden ausgelegten Praktiken gegen wohlbegründete Vorsichtsmaßnahmen zugunsten allgemeiner Gesundheit zu demonstrieren, erscheint auf den ersten Blick paradox. Wie passen Meditation und eine ablehnende Haltung gegenüber Infektionsschutzmaßnahmen also zusammen? Warum besteht in Teilen dieser Gruppen anscheinend eine solche Ablehnung gegenüber den Corona-Maßnahmen der Regierung, dass sie dafür auf die Straße gehen?

Die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe zu diesen Fragen sind komplex. Das bildet sich nicht zuletzt in der Rat- und Hilflosigkeit ab, die in der Berichterstattung nach den Protesten zum Ausdruck kommt. Die sozialen Gruppierungen und gesellschaftlichen Milieus, aus denen Personen aus ganz Deutschland nach Berlin anreisten, um ihre Unzufriedenheit kundzutun, lassen sich nicht so leicht in etablierte und vertraute Kategorien einordnen, wie es manche Journalist_innen und Beobachter:innen von gesellschaftlichen Geschehen gewohnt sind: So zeigten sich zahlreiche Medienbeiträge der letzten Woche erstaunt und empört über die Mischung der auf den Demos präsenten Gruppen. Eine häufige Referenz ist dabei zum Beispiel die historische Verbindung von rechtem Gedankengut und Esoterik. So stößt man in den Tagen nach der Demonstration auf diverse Analysen der bis in das 19. Jahrhundert zurückgehenden Verknüpfung von Rechtsextremismus, Verschwörungstheorien und spirituellen Heilsversprechen. Dabei tritt beispielsweise zutage, wie die vielen gegenwärtig noch immer breit rezipierten Unterströmungen der naturnahen Lebensreformbewegung sowohl an rechte Ideologien als auch an Gesundheits- und Körper-Zentrierung, die in den Konflikten rund um die Corona-Maßnahmen zum Tragen kommen, anknüpfen können.

Doch was bewegt die zahlreichen Kritikerinnen, die eben nicht zu den hartgesottenen, schwäbischen Heilpraktiker:innen oder radikalen Impfgegner:innen gehören, sondern sich auf dem breiten und weniger kategorisch aufteilbaren Kontinuum bewegen, das vor allem von einer Zuwendung zum eigenen, gesunden Körper und der Konzentration auf ein ganzheitliches Selbst gekennzeichnet ist?

Hier verspricht ein soziologischer Blick auf die gegenwärtigen Narrative und Diskurse, die dem zugrunde liegen, Aufschluss über den Unmut dieser Protestierenden zu geben. Die diskursiven und ideellen Hintergründe dieses Meditations- und Yoga-affinen Milieus stehen mit einer seit Jahrzehnten boomenden Kultur des Therapeutischen im Zusammenhang. Aus dieser gehen eine Zentrierung der Selbstfürsorge im Allgemeinen und der Achtsamkeit im Speziellen hervor. Insbesondere die auf den Demos zu beobachtenden, betont friedvollen und körperzentrierten Praktiken wie das gemeinsame Meditieren legen die Vermutung nahe, dass die Vertreterinnen dieser Gruppe dem gegenwärtig prominenten Imperativ des self care und des achtsamen Umgangs mit sich selbst und ihren Gefühlen nicht abgeneigt sind.

Eine wichtige kulturelle Grundlage dafür ist die Hinwendung zu einem ganzheitlichen Körper- und Gesundheitsverständnis, in dessen Rahmen allem „Natürlichen“ ein hoher Stellenwert zukommt, während „Unnatürliches“ als weniger wertig, oder gar als tendenziell schädlich betrachtet wird. Ausdruck findet diese Betonung des Natürlich-Ganzheitlichen auch im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Körpers, einer Neigung zur Homöopathie oder einer gewissen Impfskepsis – all dies ist bekanntermaßen auch in der Debatte um Corona-Maßnahmen zu beobachten.

Eine besondere Wertschätzung dessen, was als „natürlich“ gilt, findet sich auch in einigen Bereichen des breiten Meditations- und speziell des Achtsamkeitsdiskurses. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn es etwa darum geht, mithilfe von Meditationen ein als ursprünglich und ganzheitlich empfundenes Verhältnis zu seinem Körper zu entwickeln.

© Jan Grewe

Die Kultur und Narrative der Achtsamkeit stehen damit prototypisch für eine gegenwärtige Strömung, die die Fürsorge des Selbst und der programmatischen Hinwendung zu sich und seinen Gefühlen in den Vordergrund rückt. Die Zuwendung zur Gegenwart, die Konzentration auf das, was sinnlich wahrnehmbar ist und dadurch auch die Abkehr von der Zukunftsgerichtetheit und des kontrollhaften Aktionismus sind dabei zentral. Denn Achtsamkeit steht für einen angestrebten Bewusstseinszustand, der die beobachtende und wertfreie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Akzeptanz des gegenwärtigen Moments anvisiert. Erreicht werden soll dies durch gezielte Meditationstechniken wie beispielsweise die bewusste Konzentration auf den eigenen Körper, durch Atemtechniken und ruhige Yogapraktiken.

So lässt sich rekonstruieren, inwiefern gewisse grundlegende Annahmen und Praktiken der Achtsamkeitslehre nicht ganz so widersprüchlich zur kritischen Haltung gegenüber den gegenwärtigen Infektionsschutzmaßnahmen erscheinen, wie sich auf den ersten Blick vermuten ließe. Dies soll anhand von vier Merkmalen von Narrativen und Praktiken der Achtsamkeit illustriert werden:

Erstens schließen sich die Grundsätze der Achtsamkeit und die aktuellen Corona-Maßnahmen vor allem hinsichtlich einer zeitlichen Dimension aus. Während es bei der Achtsamkeit darum geht, im Hier und Jetzt zu leben, präsent zu sein und eben nicht über die Zukunft nachzudenken, geht es bei den Corona-Maßnahmen um ein ständiges Abwägen von Szenarien, die eintreten könnten. Alle Bürger:innen sind nicht nur dazu aufgerufen, sondern mehr oder weniger verpflichtet, präventiv zu denken und zu handeln und damit praktisch im Konjunktiv zu leben. Jede Person wird zu einer verdächtigen Ansteckungsquelle und somit zu einer Gefahr. Allein aufgrund der Möglichkeit, dass andere Personen infiziert und ansteckend sein könnten, müssen grundsätzliche Regeln des Miteinanders geändert werden. Dies lässt diejenigen, die ihren Lebensstil entsprechend der Grundsätze der Achtsamkeit richten, in einem Spannungsverhältnis zurück, das vor allem aufgrund des Strebens nach einer wertfreien Beobachtung des gegenwärtigen Moments kaum aufzulösen ist.

Zweitens sollen im Rahmen der Achtsamkeit automatisierte beziehungsweise habitualisierte Reaktionsmuster „verlernt“ werden. Der Drang, der gelernten Gewohnheit des Reagierens nachzugeben, wird hinterfragt und die Akzeptanz dessen, „was ist“, angestrebt. Dieser passive Modus ist ein weiterer Gegensatz zu dem präventiv-vorausschauenden und der stark dynamisch reagierenden, aktiven Pandemiebekämpfung der Bundesregierung.

Drittens zeigt sich eine Inkompatibilität von ganz konkreten, kognitiv-affektiven Inhalten und Zielen, die in der Achtsamkeitslehre thematisiert und verfolgt werden, und Maßnahmen zugunsten des Infektionsschutzes. Durch die Konzentration auf die Gegenwart soll vor allem chronischer Stress, (Zukunfts-)Sorgen, “negative Denkspiralen” und das Bedürfnis nach Kontrolle vermieden werden. Die Corona-Maßnahmen befeuern jedoch genau diese Phänomene, da stets in Hinblick auf eine potenzielle Bedrohung gehandelt wird.

Viertens sind die expliziten Praktiken und Techniken der Achtsamkeit, die vor allem Körper- und Meditationstechniken umschließen, sowohl in einer symbolischen als auch einer sehr praktischen Dimension nur schwer mit den Regeln zur Pandemiebekämpfung zu vereinbaren: Meditation und Zurückbesinnung auf körperliche Intuition und Naturnähe funktionieren nur bedingt mit „Abstand, Hygiene, Alltagsmasken“. Starr definierte Regeln über den idealen Abstand zu Mitmenschen, vermehrtes Reinigen der Haut und ganz besonders das Tragen von Masken, die eine der wichtigsten Techniken der Achtsamkeit und Meditation – das tiefe, bewusste Atmen – einschränken, erschweren die Bedingungen der Durchführung von Achtsamkeitspraktiken auf einschneidende und grundsätzliche Art und Weise. Das charakteristische bewusste, tiefe, befreiende und “loslassende” Atmen ist mit einem Mund-Nasenschutz im Gesicht schlicht nur bedingt möglich, erweist sich jedoch als elementar für ein achtsames Körpererleben, das eher unter den Bildern der „Öffnung“, „Weite“ und des „Loslassens“ verhandelt wird.

Es verwundert angesichts all dessen also nicht, dass die Kultur der therapeutisierenden, ich-thematisierenden Selbstfürsorge, die in ganz konkreten Programmen und Praktiken wie der Achtsamkeit und speziellen Techniken der Meditation und des Yoga ihren Ausdruck findet, für manche nur schwer mit den präventiv orientierten, kontrollierenden und regulierenden Corona-Maßnahmen zu vereinbaren sind. Diese stehen mit den oben aufgezeigten Aspekten von Achtsamkeitsprogrammen an vielen Stellen in Konflikt. In Verbindung mit einer grundlegenden Skepsis all dem gegenüber, was als „unnatürlich“ gilt sowie einem diffusen Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Körpers, erscheinen die Maßnahmen nicht nur persönlich einschränkend, es steht auch ihr Begründungszusammenhang infrage.