Santé! Literatur als Möglichkeitsraum: Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“

Im Berliner Corona-Frühling wurden Bücher zur Grundversorgung erklärt, Buchläden offen gehalten, und auch wenn analog nicht mehr viel ging: dem Lesen wurde ein Krönchen aufgesetzt. In Zeiten von Präsenznot – so die oft unausgesprochene Hoffnung – kann ein gutes Buch vielleicht das eine oder andere Gespräch mit Freundinnen oder Freunden ersetzen. Diese Vorstellung ist nicht neu, literarisches Lesen und literarische Geselligkeit sind seit dem 18. Jahrhundert mit der Vorstellung vom Buch als Freund verbunden. Und so verging in den ersten Corona-Wochen auch kein Wochenende, an dem das Feuilleton nicht mit immer neuen Leselisten aufwartete, Empfehlungen für Boccaccios „Dekameron“ oder die großen Romane über die Zeit wie Thomas Manns „Der Zauberberg“ oder gar Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ aussprach. Von Albert Camus‘ bald ausverkauftem Roman „Die Pest“ gar nicht erst zu reden. Ein Buch, das mir in diesen durchaus anregenden Listen gefehlt hat, ist Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (2009) – ein Text, an den ich seit den ersten „Bleiben Sie gesund“-Wünschen immer wieder denken muss.

„Corpus Delicti“ bündelt wie in einem Brennglas grundlegende Fragen, die uns im Umgang mit der Pandemie beschäftigen: Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat Gesundheit? In welchem Verhältnis stehen Freiheit und Sicherheit? Wieviel Vertrauen schenken wir einem Staat, der grundlegende Freiheitsrechte aussetzt und die Überwachung der Privatsphäre seiner Bürgerinnen und Bürger per Handy-App zur Diskussion stellt.

Diese Fragen hat die Juristin Juli Zeh nicht nur in vielen ihrer Texte immer wieder verhandelt, sie hat sich in den vergangenen Wochen auch in verschiedenen Zeitungen kritisch zur weitreichenden Einschränkung der Grundrechte geäußert. Die Autorin hat damit Teil an einer deutlich politischen Ausrichtung der Gegenwartsliteratur, die fragt, was Gegenwart ist und wie aktuelle Literatur Zeitdiagnosen ermöglicht. Diese Frage schließt die Auseinandersetzung mit historischen Zäsuren und damit die Reflexivität der Moderne ein; zentral ist dabei die Suche nach Möglichkeiten der Orientierung und der Kritik. So befasst sich die Literatur der Gegenwart beispielsweise mit dem Wandel von Arbeitswelten, mit Flucht und Migration und mit den Institutionen staatlichen Handelns. Viele Romane der letzten Jahre werden wir wohl nach Corona neu lesen und bewerten; auch dadurch könnte die Pandemie selbst eine Zäsur bilden.

Mit „Corpus Delicti“ entwirft die Autorin eine zukünftige Gesundheitsdiktatur, die ihren Bürgerinnen und Bürgern durch ihr System, genannt die „Methode“, Gesundheit und Sicherheit garantiert. Doch geht diese Garantie zu Lasten der individuellen Freiheit. Sport, gesunde Ernährung und Prävention gehören ebenso verpflichtend zum Alltag wie das Reinigen und Desinfizieren der Wohnung und die regelmäßige Abgabe körperlicher Messdaten. Jeder Schritt wird mittels eines implantierten Datenchips überprüft, dokumentiert und kontrolliert, Abweichungen werden bestraft. Das Verhältnis zum eigenen Körper ist instrumentell; Selbst-Optimierung und gesellschaftliche Normalisierung gehen Hand in Hand, um jegliches gesundheitliche Risiko zu vermeiden. Sogar die Partnerinnen- und Partnerwahl wird von der Zentralen Partnerschaftsvermittlung aufgrund der immunologischen Kompatibilität bestimmt. Die Würde des Einzelnen wird fortlaufend angetastet, das Leben bildet das Primat des autoritär organisierten Gemeinwesens.

Im Zentrum des Textes, des „Prozesses“, der mit einem Gerichtsurteil einsetzt, stehen Mia Holl und ihr Bruder Moritz. Mia ist Biologin und eine erklärte Befürworterin der rationalen „Methode“, Moritz dagegen verteidigt verbotene Freiheiten wie etwa Waldspaziergänge oder Zigarettenrauchen. Er hat seine Blind Date-Partnerin Sybille tot aufgefunden und wird daraufhin des Mordes und der Vergewaltigung angeklagt, was mittels DNA-Test bewiesen wird. Seine Tat leugnend, begeht er noch in der Haft Selbstmord und stürzt damit seine Schwester Mia in schwere Vertrauenskonflikte. Sie ist von der Unschuld ihres Bruders zutiefst überzeugt, weiß jedoch um die Bedeutung eines DNA-Tests als Beweismittel. Ihr Gegenspieler ist der Journalist Heinrich Kramer, der alle nonchalant und regelkonform mit „Santé!“ grüßt. Sein Werk „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ liefert die Grundlage der „Methode“. Kramer versucht, Mia vom Grundprinzip der Vernunft und damit von der Schuld ihres Bruders zu überzeugen.

Doch gehört es zu den Pointen des Texts, dass Moritz als Kind eine Knochenmarkstransplantation erfuhr, die zwar einst sein Leben rettete, ihm nun aber zum Verhängnis wird. Denn fortan teilt er mit seinem Spender, der später als Mörder Sybilles identifiziert wird, dieselbe DNA. Nach dem Beweis der Unschuld ihres Bruders beginnt Mia, gegen das System zu rebellieren. Sie lässt Heinrich Kramer ein Pamphlet veröffentlichen, in dem sie die Vertrauensfrage stellt. In der Folge entfernt Mia ihren Chip und beginnt sich den körperlichen Kontrollen zu entziehen. Das System verweigert ihr jedoch in einem Schauprozess die Rolle der Märtyrerin (Tod durch hygienisches Einfrieren), und der gesellschaftliche Sturm, der sich daraus hätte entwickeln können, wird im Keim erstickt.

Mit dieser Gesundheitsdiktatur führt der dystopische Text die Auswüchse eines Sicherheitsdiskurses vor, der Gesundheit zum höchsten Gut erklärt und dafür die Freiheit des Einzelnen unterminiert. Nicht das individuelle Glücksstreben, sondern das gemeinschaftliche Streben nach Gesundheit steht durch die „Methode“ an oberster Stelle und wird durch rigide Überwachung befördert. Während die Protagonistin schon zu Beginn wegen methodenfeindlicher Umtriebe verurteilt wird und der Text das Geschehen rückblickend aufrollt, ist der Text als politisches Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung zu verstehen, die es auch jenseits von Corona zu verteidigen gilt.

In „Corpus Delicti“ wird ein Gerichtsverfahren thematisiert und zugleich vollzogen. Das heißt, was im Text der Fall ist, wird sprachlich reflektiert und auf die zugrundeliegenden Wertmaßstäbe befragt. Verhandelt werden damit auch die großen Fragen der Moderne und Postmoderne, Freiheit und Sicherheit, Vertrauen und Verrat. Juli Zehs im Spannungsfeld von Literatur und Recht situierter Text ist ein negativer Zukunftsentwurf, der auf politische Teilhabe und Verhandlung zielt und dafür auf die Freiheitsrechte des Einzelnen setzt.

Der Hinweis auf „Corpus Delicti“ dient daher nicht dazu, die bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als autoritär zu denunzieren. Vielmehr geht es darum, nach den Ausschlüssen und Verlusten zu fragen, die Gesundheit als oberste Maxime gesellschaftlichen und staatlichen Handelns zur Folge hat. Dazu gehört aktuell auch die Einschränkung der Grundrechte, die die  Normalisierung von Gesundheit in ein gleißendes Licht rückt. Der Untertitel des Textes sensibilisiert dafür, wie schmal der Grat zwischen Freiheit und Sicherheit oftmals ist. Literatur kann einen Möglichkeitsraum eröffnen, der es erlaubt, Ausnahme- und Extremsituationen zu erkennen und durchzuspielen. Damit leistet sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte: Hierin liegt die Bedeutung des Lesens, nicht in der allzu behaglichen Vorstellung vom Buch als Freund.