Neben Fachkräften im Gesundheitssystem und in der Grundversorgung arbeiten derzeit auch Sozialpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe weiter. Ich bin eine von denjenigen, die unmittelbar in die Alltagswelten der Familien eintauchen und hautnah miterleben, wie Familien, die sowieso schon stark belastet sind – denn sonst würden sie uns nicht brauchen – mit der jetzigen, durch die Pandemie bedingten, Situation umgehen.
Gerade jetzt ist es von besonderer Bedeutung, dass wir Sozialarbeiter*innen den Kontakt mit den von uns betreuten Familien weiterführen können. Nur durch regelmäßige Hausbesuche und Gespräche mit den Eltern sowie den Kindern kann der Beratungsprozess zum Wohle der Kinder weitergestaltet und gewährleistet werden. Durch Hausbesuche können wir als Familienhelfer*innen sehen, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, aber auch, wie es den Kindern geht, wenn die Eltern beispielsweise persönlich stark belastet und wenig für sie da sind. Diesen direkten Kontakt vollkommen auszusetzen oder durch digitale Formate zu ersetzen, schätze ich als äußerst schwierig ein; der Aufbau einer guten Kooperationsbeziehung zwischen Eltern und Sozialarbeiter*innen benötigt viel Zeit, Vertrauen und vor allem Kontinuität. Wie schnell können diese fragilen Beziehungen erschüttert oder zerstört werden. Insofern bin ich froh, dass wir uns nach wie vor auf den Weg zu den einzelnen Familien machen können, wenn auch unter den neuen Bedingungen des Infektionsschutzes.
Schon der Weg aus der Wohnung fühlt sich für mich mittlerweile befremdlich an. Ich trage einen Mundschutz aus Stoff und versuche, im öffentlichen Nahverkehr so gut wie möglich Abstand zu anderen Fahrgästen zu halten, die auch ihrerseits größtmögliche Distanz zu wahren suchen. Zwischen den meisten Fahrgästen sind Plätze frei, nur sehr wenige sitzen nebeneinander. Dieser Anblick erinnert mich an ein Dame-Spielbrett: Menschen versuchen, die schwarzen Felder zu nutzen, um das Virus Covid 19 durch Überspringen zu schlagen. Anders als beim Spielen gibt es jedoch keine Freude an der Bewegung der Figuren und keine Möglichkeit zum Gewinnen.
Die meisten Familien, mit denen ich arbeite, sind in einem selbstständigen Beruf tätig. Bevor die Pandemie ausbrach, war es sehr schwer, die Eltern vor dem späten Nachmittag zu treffen, da sie alle lange arbeiten. Nun kann zu jeder Zeit ein Termin angesetzt werden, sodass Terminvereinbarungen unkomplizierter und flexibler gestaltet werden können. Die Situation in den Familien erlebe ich größtenteils als sehr angespannt, was stark mit ihrer prekären Lage zusammenhängt. Auf meine Nachfrage, was sie nun, da sie so viel Zeit Zuhause verbringen könne, mit ihren Kindern tue, erzählt eine Mutter, wie angespannt sie sei, nicht mehr in ihrem Nagelstudio arbeiten zu können und zu beobachten, wie die finanziellen Mittel weniger und weniger werden und sie trotzdem weiterhin Miete und Essen zahlen muss und nichts dagegen tun könne. Von dem Soforthilfepaket wisse sie, jedoch könne sie dieses nicht selbstständig beantragen. Ich spüre die Hilflosigkeit in ihren Augen und zeige ihr, wie sie den Antrag ausfüllen kann. Viele Eltern sind von ihren Aufenthaltsrechten abhängig und arbeiten in selbstständiger Tätigkeit mit dem Ziel, sich einen stabilen und sicheren Aufenthalt in Deutschland zu erwirtschaften. Die zusätzliche Unsicherheit durch die Pandemie stellt eine weitere enorm existenzielle Belastung dar, die sich auf die Familien auswirkt und deren alltägliches Zusammenleben – oft auf engstem Raum – sehr erschwert.
Da die Kitas und Schulen seit mehreren Wochen geschlossen sind, fehlt den Kindern ein Ort, an dem sie spielen, sich bilden und Gleichaltrigen begegnen können. Auch ist in den wenigsten Familien eine Struktur im Alltag zu erkennen, was sich besonders beim Fehlen von Lernzeiten zeigt. Therapien, Nachhilfe oder andere Sport- und Freizeitangebote für die Kinder fallen zudem aus. Da die meisten der von uns betreuten vietnamesischen Eltern über keine guten Deutschkenntnisse verfügen, können sie mit ihren jüngeren Kindern lediglich an Rechenaufgaben arbeiten. Dies birgt die Gefahr, dass die Kinder dieser Eltern durch den Coronabedingten Schulausfall in ihren Leistungen stärker zurückfallen bzw. ihn nicht ohne weiteres kompensieren können. Hier könnte die digitale Nutzung von Lernapps äußerst sinnvoll sein, da die Kinder diese verstehen und auch ohne Anleitung der Eltern benutzen können.
Ich arbeite in keiner der Familien alleine, sondern habe stets einen/e Kolleg*in bei mir, da es sich meist um Kinderschutzfälle handelt und eine einzelne subjektive Meinung über die Familiensituation verzerrt sein kann. Einige Kolleg*innen nehmen die Sicherheitsvorkehrungen sehr ernst, tragen Handschuhe und den Mundschutz während des Hausbesuchs. So sollte es sein, doch ich merke, dass die Schutzbekleidung und die Abstandsregeln das krisenbedingte Unwohlsein der Familien verstärken, indem sie die Realität der Pandemie nur noch sichtbarer machen. Ich versuche, die räumliche Distanz zwischen ihnen und mir so gut wie möglich beizubehalten, doch besonders zu Beginn der Coronakrise habe ich mich gefragt, wie das Vertrauen und die Kooperation zwischen Fachkräften und Familien aufrechterhalten werden kann, wenn die Hausbesuche an einen Klinikbesuch erinnern.
Kindern und Eltern wird vor den Hausbesuchen gesagt, dass jegliche Berührungen vermieden werden sollten, nur fällt es einigen Eltern und vielen Kindern schwer, dies einzuhalten. Ein Mädchen hat während eines Gesprächs mein Gesicht angefasst, weil sie meine Robbenohrringe so toll fand und sie sehen wollte. Ich musste sie immer wieder daran erinnern, dass anfassen nicht erlaubt sei, da sich viele Bakterien und Viren auf den Händen befinden können. Daraufhin ging sie die Hände waschen. Diese Situation wiederholte sich jedoch weitere vier Male, nur dass jedes andere Mal eine andere Berührung stattfand. Bei Gesprächen mit den Eltern sowie den Kindern sind kleine Gesten, wie das Auflegen einer Hand auf Arm oder Schulter zur Beruhigung oder Bestätigung nun vollständig verbannt. Es ist schwierig, damit umzugehen. Es fühlt sich fremdartig an und verbaut viele feine Kommunikationsmöglichkeiten. Wir sind als Familienhelfer*innen sowieso schon immer in gewisser Weise „Eindringlinge“ oder Fremdkörper“, die sich im Auftrag des Staates in Familienangelegenheiten einmischen, und diese Abstandsregeln machen es so viel schwieriger. Auch läßt sich ein Lächeln, das oft Distanzen überwindet, unter Masken nicht gut erkennen.
Doch das Wichtigste ist, dass nicht jegliche Nähe verwehrt bleibt, sondern Familien sich immer noch gegenseitig berühren und umarmen können.
Die Verabschiedungen nach den Hausbesuchen haben sich ebenfalls verändert. Vor der Pandemie waren die meisten Eltern erleichtert, wenn sich das Ende eines Hausbesuchs ankündigte. Statt wie gewöhnlich einige formale Abschiedsworte zu sagen, wünschen die Familien mir nun, dass ich auf mich aufpassen und gesund bleiben soll. Sie wissen, dass auch ich noch mit anderen Familien zusammenarbeite und dementsprechend mit vielen weiteren Menschen in Kontakt kommen werde. Ich nehme wahr, dass diese Worte keine bloßen Floskeln sind, sondern ernstgemeinte Anteilnahme ausdrücken, und für einen kurzen Augenblick vergesse ich die soziale Distanz und spüre einen Funken sozialer Wärme.