Ob Kosmopolit*innen, Geflüchtete, Auswanderer oder Sprachwechsler*innen, sie alle schreiben zwischen den Räumen, ihre Literatur ist ohne festen Wohnsitz. So auch die Berliner Autor*innen Yoko Tawada und Tomer Gardi, wie sie es gerade bei den Litprom-Tagen vom 24. bis 25. Januar 2020 in Frankfurt am Main gezeigt und mit weiteren Autor*innen diskutiert haben. Gemeinsam produzieren sie „welthaltige“ Literatur, die Sprachen weiterdenkt und Grenzen überschreitet. Was genau das eigentlich bedeutet? Dies wollten die Veranstalter*innen mit den Schreibenden und den rund 600 Besucher*innen im Frankfurter Literaturhaus diskutieren.
Die Erwartungen waren mit dem Grußwort der Frankfurter Kulturdezernentin, Germanistin und ehemaligen Literaturkritikerin Dr. Ina Hartwig hoch gesteckt: Nicht Exklusivität oder Besonderheit der Veranstaltung lobte sie. Die Stärke dieser Literaturtage sei ihre Normalität. Durch solche Veranstaltungen, die nur ein Format der vierzigjährigen Arbeit der Litprom darstellen, werde Büchern und Autor*innen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der Arabischen Welt eine Bühne gegeben und die Aufmerksamkeit auf die vielen Stimmen, Gedanken und Perspektiven, die es abseits des Gewohnten und Bekannten gibt, gelenkt. Hartwig betont, Litprom lasse die Welt näher rücken, minimiere Fremdheit und trage so dazu bei, dass Veranstaltungen wie die Literaturtage 2020 Normalität geworden seien.
Migration, Mobilität und (Nicht-)Zugehörigkeiten
Auch die Biografien und teils sehr unterschiedlichen Ausdrucksformen der anwesenden Autor*innen ließen auf diverse Positionen hoffen. Neben Yoko Tawada, die in Japan zur Welt kam, und Tomer Gardi, der in Israel an der Grenze zum Libanon geboren wurde – heute beide in Berlin wohnhaft –, war Pedro Kadivar zu Gast, der aus dem Iran nach Frankreich und später ebenfalls nach Berlin kam. Er schreibt und inszeniert Theaterstücke u. a. am Maxim-Gorki-Theater. Carmen Aguirre, geboren in Chile, schreibt ebenfalls Theaterstücke und lebt heute in Kanada wie auch der Künstler und Schriftsteller Rawi Hage, der aus Beirut stammt, auf Zypern lebte und in New York studierte. Eduardo Halfon kam als Nachfahre polnisch-libanesischer Einwanderer in Guatemala zur Welt und wuchs in den USA auf. Heute schreibt und unterrichtet er Literatur in Nebraska. Lesley Nneka Arimah ist in London und Nigeria aufgewachsen und lebt heute als Schriftstellerin in Minnesota. Nacha Vollenweider stammt aus Argentinien und kam mit einem Stipendium nach Deutschland. Die Schriftstellerin Sharon Bala ist in Dubai geboren und lebt heute auf Neufundland, und Youssouf Amine Elalamy schließlich ist in Marokko geboren, studierte in New York und lehrt und lebt heute wieder in seinem Geburtsland.
Schon ein erster Blick auf die Biografien zeigt: Nicht alle Autor*innen hatten das Privileg, auf dem Bildungsweg einzuwandern. Viele von ihnen sind geflohen – ohne eine Wahl zu haben. Ihr Schreiben ist geprägt von Aufbruch und Ankunft, manchmal auch Rückkehr, von Orts- und Sprachwechseln, die mitunter auch Anlass für Sprach- und Lautspiele geben, wie etwa bei Yoko Tawada oder Tomer Gardi, der sich in seinem Roman Broken German (2016) ein ganz eigenes Deutsch erschrieben hat. Nicht nur für ihn ist die Auseinandersetzung mit der (Mutter-)Sprache ein wichtiger Bestandteil des Schreibens. Auch die Frage nach Zugehörigkeit – nicht nur in Hinblick auf Nationalliteraturen – ist bei Gardi und anderen zentral. Deutlich machen die vielen Autor*innen an diesen Tagen, dass kein Schicksal dem anderen gleicht, dass sich jedes Selbstverständnis von den anderen unterscheidet und jeder eine andere Antwort auf die zahlreichen Fragen hat. Die Migrationsliteratur gibt es nicht, und vor allem: wer zählt sich überhaupt dazu?
Carmen Aguirre etwa bezeichnet sich nicht als Migrantin, sondern als Exilantin. Zu migrieren, anzukommen, würde für sie bedeuten, nicht mehr heimzukehren. Sie wünscht sich eine Rückkehr, aber für sie gibt es in Chile keine beruflichen Perspektiven. Lesley Nneka Arimah hingegen versteht ihren Ortswechsel als Migration. Für sie bedeutet sie Mobilität, sich immerfort an neue Kulturen samt ihrem Regelwerk anzupassen, zu lernen und umzulernen. Eng mit dem damit verbundenen Beobachten sind ihre heutigen schriftstellerischen Tätigkeiten verknüpft. Nigeria und Minnesota haben für sie mittlerweile ihre jeweils eigenen Vorzüge und Nachteile. Zu beiden fühlt sie sich zugehörig. Eduardo Halfon dagegen ist als Jude unter Katholiken in Guatemala aufgewachsen und konstatiert, dadurch in den Status des Migranten hineingeboren zu sein. Für ihn ist es bis heute normal, „to not be anywhere at anytime“. Das Gefühl, „constantly displaced“ zu sein, führte ihn zur Literatur.
„Die Sprachen sind mein Thema“
Viele haben ihre Muttersprache verloren, so auch Eduardo Halfon. Mittlerweile spricht er Englisch, das Spanische ist nur im Schreiben zurückgekommen. Andere schreiben mehrsprachig und wieder andere in einer ganz eigenen Sprache. Prominent war die Rolle der Sprache vor allem mit den beiden Berliner Autor*innen Yoko Tawada und Tomer Gardi vertreten. Yoko Tawada, die zum Literaturstudium nach Hamburg und Zürich, später nach Berlin kam, schreibt heute auf Deutsch und Japanisch. Ihre japanischen Publikationen überwiegen, mehr Zeit verbringt sie allerdings mit dem Schreiben auf deutsch. Sie berichtet, dass sie heute Fremdheitsgefühle in beide Richtungen entwickelt, sobald sie nach längerer Abstinenz in eine der Sprachen zurückkehrt.
Tomer Gardi ist mit seiner Familie nach Wien migriert und machte 2016 mit seinem deutschsprachigen Debüt Broken German beim Bachmannpreis Furore. Alle anderen Texte hat er bisher auf Hebräisch verfasst. Sie sind in deutscher Übersetzung erhältlich. In dem viel besprochenen Text Broken German entwirft er ein ganz eigenes Deutsch. Auf die Frage, welches Deutsch eigentlich gesprochen werde, erklärt der Erzähler: „Radili und Amadou und Mehmet reden Deutsch aber kein Arien Deutsch sondern ihr Deutsch wie mein Deutsch auch die ich hier schreibe und wie ich die rede.“ Es ist das Deutsch, das Gardi nach seiner Ankunft in Wien lernt. Er lernt es nicht auf der internationalen Schule. Er lernt sein Deutsch auf der Straße, beim Fußball und packt es Jahre später in Neukölln wieder aus. Dort, so Gardi, habe er einen Platz für sein Deutsch gefunden, weil es dort unterschiedliche Arten gebe, Deutsch zu sprechen. Gespannt unternimmt er so den ersten Versuch, etwas auf deutsch zu schreiben. Es entsteht eine Kunstsprache, ein Stilmittel, wie Gardi betont, welche zugleich eine ziemlich genaue Schilderung dessen sei, welches Deutsch er in den ersten Jahren gesprochen habe. Das Buch polarisierte. Den Bachmannpreis bekam er nicht. Letztlich, so Gardi, habe er aber gerade von dem daraus resultierenden „Underdog-Schub“ profitiert. Sein neuester Roman Sonst kriegen Sie ihr Geld zurück (2019) ist auf hebräisch verfasst, die deutsche Übersetzung beschreibt Gardi als eine Art „Duett“ mit seiner Übersetzerin Anne Birkenhauer. Vorerst gibt es also kein weiteres broken German. Ob er wieder auf Deutsch schreiben wird, lässt er offen. Die deutsche Sprache in ihrer Glattheit zu belassen, das würde er allerdings nicht tun – so Gardi.
Auch in Yoko Tawadas Erzählungen, Gedichten, Essays und Romanen ist die Sprache gewissermaßen Protagonistin. Es sind Wörter, die die Autorin inspirieren, Sprachspiele und Worterfindungen, die sich durch ihre Texte ziehen und die sie als Ausgangspunkt für feine, tiefgreifende und zuweilen auch sehr humorvolle Reflexionen nimmt – so etwa in akzentfrei (2016) oder Ein Balkonplatz für flüchtige Abende (2016), aus denen sie kurze Passagen vortrug. Sie kommentiert: „Die Sprachen sind mein Thema, ich schreibe Sprachgeschichten. Ich brauche gar keine Figuren. Die Sprache ist kein Instrument, um etwas auszudrücken, sondern ist als eigenständiges Leben da. Durch sie erst können die Figuren erscheinen. Das ist nicht Beschreibung oder Ausdruck, das sind die Sprachen selbst.“
Mittlerweile hat die heute 59-Jährige die längste Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht, dennoch bleibt der Akzent. Auf die Frage, ob sie das störe, entgegnet Tawada: „Der Akzent in meinem Gesicht ist viel größer als in der Sprache!“ Das sei aber nicht weiter schlimm, da das Erlernen einer Sprache nicht Anpassung bedeute. Überhaupt gebe es, so Tawada, ja gar nicht die eine deutsche Sprache, da diese sich stetig erweitere. Der Akzent sei somit eine Einladung, die Geschichte hinter dem Menschen kennenzulernen. Die fortdauernde Aneignung einer neuen Sprache empfinde sie als einen ständigen und wünschenswerten Lernprozess. Der bleibe in der Muttersprache nämlich aus, sodass sich dort das Weiterkommen als weitaus schwieriger gestalte.
Heute haben beide Sprachen für sie ganz unterschiedliche Qualitäten: Ihre Muttersprache habe sie sozialisiert, in ihr könne sie nicht mehr spielen. Gewisse Dinge schreibe man einfach nicht mehr. Deutsch hingegen sei für sie eine „wilde Sprache“ voller Möglichkeiten, in der die vergessene Kindheit der Muttersprache wieder aufleben kann.
Nationalliteratur – ein überholtes Modell?
Auf die Frage, zu welcher Nationalliteratur sie sich zählen würde, antwortet sie ohne zu zögern: „Zu beiden!“ 1982 sei ihr das Konzept der Nationalliteraturen noch als kreatives Bild zweier Inseln vorgekommen, zwischen denen sie sich hin und her bewegen konnte. Das habe sich mittlerweile geändert. Heute sei Europa zusammengewachsen, die Grenzen zuweilen fließend. Dennoch sei das Konzept der Nationalliteratur nicht so einfach durch dasjenige einer alles umfassenden Weltliteratur zu ersetzen, so Tawada.
Carmen Aguirre dagegen fühlt sich eindeutig der kanadischen Literatur zugehörig, wohingegen sich beispielsweise Eduardo Halfon mit dem Konzept der Nationalliteraturen nicht identifizieren kann: „My nationality is so fluid, liquid, I can be many things, I can be very American. I can adapt to whatever it needs to be, nationality is so alien – especially when it comes to literature.“ Rawi Hage sieht seine Literatur ebenfalls nirgendwo zugehörig. Er versteht sich als „transnational writer“, für den die „notion of nation“ aufgrund von Homogenisierung und Verschmelzung irrelevant wird.
Auch wenn einige, wie etwa Lesley Nneka Arimah, frei von nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit sein wollen, so werden diese oftmals einfach von anderen festgelegt. So etwa stehen Eduardo Halfons Texte, wie er erzählt, in einem Buchladen in Barcelona unter polnischer Literatur, in Tokyo sind sie unter den libanesischen Autoren einsortiert. Auch die Genre-Frage ist nicht eindeutig. Eduardo Halfons Texte etwa werden mal als short stories, mal als Autobiografien, mal als Romane kategorisiert.
Viele Gespräche, viele Antworten?
So viele Fragen, hohe Erwartungen, spannende Autor*innen, Biografien und Texte, gebündelt an zwei Tagen – was bleibt als Erkenntnisgewinn nach den Litprom Literaturtagen 2020?
Veranstaltungen wie diese sind ein wichtiges Format zwischen Wissenschaft und einer breiteren Öffentlichkeit, welches den transkulturellen Austausch in der Gegenwartsliteratur über die Wissenschaft hinaus möglich macht und vorantreibt. Hier wird keine literaturwissenschaftliche Textexegese betrieben, auch Diskurse, wie sie die Forschung umtreiben, kommen hier allenfalls ganz am Rande zur Sprache. Und all das ist auch gut so, um einen allgemeineren Zugang zu den Texten zu ermöglichen. Leider nur blieb die Veranstaltung hinter dem zu Anfang formulierten Anspruch zurück, denn nach zahlreichen Werkstattgesprächen und Podiumsdiskussionen, die einen ganzen Fragenkatalog zu beantworten gedachten, blieb am Ende vor allem ein Bedauern darüber, dass die Gespräche häufig nur an der Oberfläche rührten. Als Zuhörerin wünschte man sich insbesondere seitens der Moderator*innen eine besser gelenkte Gesprächsführung, ein Nachhaken an vielversprechenden Stellen und insgesamt eine sparsamere Verwendung viel zu häufig gebrauchter Allgemeinplätze. So endeten viele Gespräche und einzelne Themen leider oft gerade dort, wo sie begannen, in die Tiefe zu führen. Auch blieben konkrete Schlussfolgerungen oder Zwischenresümees wie auch die Benennung bleibender Problematiken und Herausforderungen in den einzelnen Gesprächen aus.
Darüber hinaus ließe sich, auch losgelöst von dieser Veranstaltung, konstatieren, dass mit diesem eng an die eigene Biografie geknüpften Schreiben eine derart starke Fokussierung auf die Schriftsteller*innen als Akteure einhergeht, dass die literarischen Texte zuweilen zweitrangig erscheinen und hinter den Aussagen der Autor*innen zurückbleiben. Bleibt also die Hoffnung, dass in intensiverer Auseinandersetzung mit den Texten die Literatur selbst manche der unbeantworteten Fragen auf ihre jeweils eigene Art zu beantworten vermag.