A Lesson on Resistance (in 2084)

Wir schreiben das Jahr 2084. Europa ist von festen Mauern umschlossen. Die gewählte rechtspopulistische Partei „Deutsche Mitte“ regiert nach Durchsetzung des Quantencomputers mit Hilfe eines KI-betriebenen Überwachungsregimes, das alle Menschen mittels implantierter PID (personal identity device) rankt, lenkt und kontrolliert. Eine Gruppe von acht Menschen hat das vermeintlich Undenkbare gewagt: sie haben sich die PIDs entfernt und sich in den Untergrund abgesetzt. Ihre Vision: Das Fundament für eine Widerstandsbewegung zu bilden. Um mehr Menschen für ihr Projekt zu gewinnen, gehen sie das Risiko ein, ihren Unterschlupf für kleine Zeitfenster einer größeren Gruppe von „Suchenden“ zu öffnen. Und ich bin eine von ihnen.

Die Konzeptidee für das Langzeitprojekt „Das Fundament“ stammt von Simon Salem Müller, der seine Kick-off-Performanceinstallation „The Crystal Heaven Lounge“ im Rahmen des Festivals 48 Stunden Neukölln im Veranstaltungsort Gelegenheiten, einer ehemaligen Fleischerei in der Berliner Weserstraße, mit sieben Performer*innen gemeinsam entwickelt hat. Künstlerisch verbindet die Gruppe ihre Zusammenarbeit im Kollektiv SIGNA. Sie arbeiten überdies in anderen freien Konstellationen miteinander, so zuletzt z.B. Amanda Babaei Vieira, Marie S. Zwinzscher und Wanja Neite für das Live-Rollenspiel „Sickermoor“ in Hannover. 2016/17 fanden in den Örtlichkeiten von Gelegenheiten e.V. bereits die immersiven Performanceinstallationen „Your home is where you happy“ und „Returning Home“ unter der Leitung von Jos Porath statt, womit sich der Spielort als Raum für kleinere, freie immersive-theatre-Produktionen ein weiteres Mal empfiehlt.

Ich muss mich zunächst durch den menschengefüllten Bar-Bereich, in dem zeitgleich eine Buch-Präsentation stattfindet, bis in den hintersten Raum durcharbeiten, wo Simon Salem Müller alias Lupus unscheinbar hinter einer Schiebetür sitzt und darauf wartet, Gäste zu empfangen. Zunächst wird mein Smartphone „gefreezed“ (d.h. in einem vermeintlich strahlenundurchlässigen Beutel mit Kabelbinder verschlossen) und ich werde gebeten, mich mit der Hausordnung vertraut zu machen, während Lupus mich narrativ in die Welt von 2084 einführt. Mit den Worten „Folge dem Licht“ steige ich in den kühlen Keller hinab und werde am Ende eines Gangs erst von einer entkleideten Schaufensterpuppe, dann schließlich von Leo (Georg Bütow) und Sparkling-Sunshine (Camilla Lønbirk) freundlich empfangen.

In einem ersten One-on-One mit Missy (Marie S. Zwinzscher), die in einem engen Raum, „der Insel“, auf dem Boden vor einem großen Flat-Screen sitzt, erfahre ich, dass sich einige der Mitglieder aus der Crystal Heaven Lounge in Berlin Mitte kennen und dass sie seit ihrem Ausstieg gezwungen seien, ihren Aufenthaltsort öfters zu wechseln. Die Anordnung von Live-Cam, Screen und rotem Halsband, das leuchtet, wenn Missy online geht, suggeriert, dass sie Formen virtueller Sexarbeit nachgeht. Für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse wie auch für andere Formen emotionaler Arbeit erhalten die Mitglieder „Credits“, die sie brauchen, um über einen Mittelsmann an Nahrung zu kommen. Missy bietet mir etwas von der glibbrigen schwarzen „Substanz“ an und fragt mich, wie es mir „da oben“ so ergehe und ob ich wüsste, wo mein PID sitze. Im Gegensatz zu anderen immersive-theatre-Formaten, die mit Begegnungen arbeiten, die mich in meiner aktuellen Lebenswelt betreffen, bin ich hier gebeten, mich gleichfalls in die dystopische Vision von 2084 zu imaginieren. Und das funktioniert überraschend gut.

Marie S. Zwinzscher als Missy, © Simon Salem Müller

Im Gegensatz zu den meisten Besucher*innen, die ein bis zwei Slots in der Keller-Gegenwelt von 2084 verbringen, begegne ich in vier Slots immerhin vier verschiedenen Figuren. Leyla23 (Amanda Babaei Vieira) ist gerade dabei, in wilden Verrenkungen einem Fuß-Fetischisten vor der Kamera zu beglücken, als wir auf das Thema Kinder zu sprechen kommen. Offenbar leidet sie noch sehr darunter, ihre Tochter durch eine erzwungene Adoption verloren zu haben. TinyMelody (Tatjana Kranz) scheint die jüngste der vier Frauen zu sein, hat grau-blaue Haare und trägt zwei, mit Pflastern befestigte, weiße Plastikschalen über ihren Augen. Als sie ihre PID hinter dem einen Augen entfernte, hat sie aus Hoffnungslosigkeit das zweite Auge gleich mitzerstört. Hier unten gehe es ihr gut, beteuert sie, meine Hand dabei fest umschließend, schließlich könne sie hier frei entscheiden. Arbeiten müsse sie zwar trotzdem, aber das sei für sie ein geringes Übel. Sie wünscht sich, dass sich viele von uns Suchenden ihrer Gruppe anschließen, damit der Widerstand wachse und das totalitäre System doch noch gestürzt werden könne. Unser Gespräch wird von ShawnDark (Wanja Neite) und SilentPressure (Antonio Schmidt) unterbrochen, die TinyMelody zu einer Online-Session mit „Big Daddy“ in den dritten Raum mit Screen, Live-Cam und allerlei Bondage-Materialien holen und mich einladen, dabei zuzusehen, wie sie ihren Körper vor der Kamera ausstellen, objektifizieren und hemmungslos begrabschen.

Wanja Neite als ShawnDark, © Simon Salem Müller

Das ist der Moment, wo ich mich frage, warum es in so vielen immersive-theatre-Produktionen aus dem SIGNA-Umfeld – allen voran in den Produktionen von Thomas Bo Nilsson – stets so explizite Szenen aus dem BDSM- und/oder heteronormativen Porno-Bereich geben muss? Ich muss sagen, dass mich das als Zuschauerin zunehmend ermüdet. Auch irritiert mich etwas, dass derlei Szenen von der Widerstandsgruppe innerhalb der Fiktion als etwas Positives geframed werden: So berichtet mir ShawnDark, dass es ihnen darum gehe, Menschen in einem pervertierten Überwachungsstaat der Zukunft, der offenbar jede Form von nicht-konformer, abweichender Sexualität sanktioniert, einen Möglichkeitsraum zu öffnen, in dem sie ihre unterdrückten Begierden, Phantasien und Persönlichkeitsanteile frei ausleben können. In der Ankündigung bezeichnen sie sich auch als „Überzeugungstäter [und]Wächter einer Bastion des zutiefst Menschlichen“. Sind das Widerstandskämpfer*innen, mit denen ich mich identifizieren kann? Wäre ich gern Teil von ihnen, wenn ich mir die Lebensbedingungen der fiktiven Welt von 2084 vor Augen führe? Inwieweit propagieren sie Verschwörungstheorien und: Ist ihre viel gepriesene Freiheit nicht eine Illusion?

Man könnte nun als SIGNA-erfahrende Zuschauerin auf die Idee kommen, die Widerstandszelle selbst als die zu kritisierende Einheit zu begreifen, nur gibt es dafür in der Kick-off-Variante noch zu wenige Indizien. Im Gegensatz zur nachhaltigen Wirkung von Mona el Gammals Arbeiten wie z.B. „Rhizomat“, die gleichfalls zwei einander entgegengesetzte Welten von dystopisch-technologiebasiertem Überwachungsstaat (Institut für Methode) auf der einen und forschungsbasierter Widerstandsbewegung (Rhizomat) auf der anderen Seite thematisierte wie räumlich installierte, gelingt es den Mitgliedern der „Crystal Heaven Lounge“ noch nicht, mich ernsthaft für ihre Alternativideen zu begeistern – aber das wäre für ein Teaser-Format vielleicht auch etwas zu viel des Anspruchs.

Der Gestus der Fiktion weist für mich – gerade in den Momenten, wo mehrere Figuren unabhängig voneinander markieren, dass sie von den Technologien, mit denen sie arbeiten und von denen sie beherrscht wurden (und werden), „jenem Hexenwerk“, im Grunde „viel zu wenig Ahnung haben“ – in Richtung reflexiver Sensibilisierung für machtvolle Mensch-Technologie-Gefüge. Das ist interessant, denn es scheint – ähnlich wie in Black Mirror – nicht nur darum zu gehen, im Mantel von Zukunftsfiktionen das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie wir bereits heute aufs Engste mit Technologien verwoben sind, sondern auch aufzuzeigen, worin die Gefahr fehlender digitaler Literalität oder auch strategischer, „digitaler Entmündigung“, wie sie mein Kollege Rainer Mühlhoff nennt, perspektivisch liegen kann. Hier liegt das Potential von immersive theatre darin, im Rahmen von utopischen wie dystopischen Gesellschaftsentwürfen, verschiedene Formen widerständigen Denkens und Verhaltens gewissermaßen im Modus des Preenactments gemeinsam zu erproben.

Auf weiteres „Fundament“ zu den Visionen der fiktiven Widerstandsgruppe, ihrer Geschichte und der genaueren Arbeits- und Wirkweise der sie bestimmenden Künstlichen Intelligenz, die im Kick-off jetzt noch nicht weiter spezifiziert wurde, darf man also auch in dieser Hinsicht sehr gespannt sein!