Überlegungen zu den Berliner Haushaltsverhandlungen 2019, der Institution (Stadt-)Theater und den Freien Gruppen
Das Jahr 2019 neigt sich dem Ende. Für die Berliner Kulturpolitik bringt das Jahresende einige Neuerungen mit sich. Sie ergeben sich aus den Haushaltsverhandlungen, die seit September liefen und am 12.12.2019 final entschieden worden sind. Diese Verhandlungen beinhalten die für die darstellenden Künste wichtigen Abstimmungen der Abgeordneten im Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten zur Höhe sowie zu den Arten der zu vergebenden Fördergelder. An zwei Haushaltsverhandlungen habe ich als in Berlin ansässige Theaterwissenschaftlerin und nunmehr ehemalige Mitarbeiterin des Performancekollektivs Gob Squad als Zuhörende interessiert teilgenommen.
Nachfolgend möchte ich eine Debatte überdenken, die im Rahmen der Haushaltsverhandlungen geführt wurde und dezidiert die Entwicklung der Berliner Theaterlandschaft betrifft. Denn zeitgleich mit der Erarbeitung des Haushaltsplanes 2020/2021 wurde im Land Berlin das Fördersystem umgestellt. Freie Gruppen, die bisher in einer institutionellen Förderung geführt wurden (sog. „Konzeptförderung“), sollen ab dem Jahr 2020 in eine „Projektförderung“ übergehen. Die Institution (Stadt-)Theater und die Freien Gruppen sollen in der Logik dieser Förderregelung nunmehr wieder verstärkt voneinander unterschieden werden. Jahrelang wurden – so die in der Debatte verwendete Metaphorik – Äpfel und Birnen miteinander verglichen. Das soll zu einem Ende kommen. Das Fördersystem soll zwischen projektorientierten Gruppen und Institutionen einen klaren Trennstrich ziehen. Die Frage ist, ob dieses im Jahr 2019 ausgearbeitete Fördersystem die Belange der Freien Gruppen, vor allem ihr teilweise langjähriges Bestehen, widerspiegelt?
Kurzer Einblick in die Förderveränderungen
Innerhalb der Freien Szene war es eine kleine Sensation, als die ersten Freien Gruppen 2007 in die Konzeptförderung aufgenommen wurden. Bis zum Jahr 2006 gab es in dieser Kategorie hauptsächlich Off-Theater, die je nach Bedarf finanzielle Unterstützung in der Höhe von 176.700 € bis 2.061.900 € erhielten. Für die Förderperiode 2007-2010 wurde erstmals die Gruppe NICO AND THE NAVIGATORS in die institutionelle Förderung aufgenommen, was von den Gutachtern seinerzeit als „Zeichen der Ermutigung für experimentelle Off-Theatergruppen“ (Irmer/Krug/Scheper 2005: 47) gedacht war. Grund für den Zuspruch war ein von den Gutachtern festgestellter Zweifel an der „Chancengleichheit bei der Förderung“ (ebd.). Dieses Signal der Ermutigung führte dazu, dass in den nächsten beiden Förderperioden (2011-2014; 2015-2018) Gruppen wie Constanza Macras/Dorky Park und Rimini Protokoll (ab 2011) sowie die Cie. Toula Limnaios, She She Pop und im Nachrückverfahren auch Gob Squad (ab 2015) institutionelle Förderung erhielten. Die Gutachter*innen sahen also bereits die Notwendigkeit, Freien Gruppen, die seit langer Zeit bestehen und kontinuierlich künstlerische Arbeit leisten – analog zu den großen geförderten Stadttheaterinstitutionen – Planungssicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Sie erkannten eine Veränderung in der Kultur- und Kunstlandschaft, für die eine adäquate Förderung (ganz zu schweigen von der Förderhöhe) noch fehlte. Sie erkannten, kurz gesagt, einen Wandel in der Institution (Stadt-)Theater.
Dies soll nun (wieder) geändert werden. Eine derartige institutionelle Förderung wird ab dem Jahr 2020 nur noch festen Produktionsorten zugesagt werden, aber keinen freien Gruppen mehr. Für die Gruppen ist nun eine andere Förderung vorgesehen. Zu Beginn trug sie den Namen „Basisförderung“, soll aber den etwas längeren Namen „Konzeptförderung für Gruppen ohne Spielstätte“, die als Projektförderung vergeben wird, erhalten. Sie kann, ähnlich wie die eigentliche „Konzeptförderung“, auf vier Jahre mit einer Festbetragsfinanzierung angelegt sein, wird aber nicht als Finanzierung für „eine längerfristige Planungssicherheit“ (Senatsverwaltung für Kultur und Europa 2017) angeboten. Zwar können einzelne Kosten, „die für die Entwicklung und Sicherung der künstlerischen Arbeit notwendig sind“ (Senatsverwaltung 2018), in der Basisförderung aufgelistet werden, allerdings zeigt die Sprache der Verwaltungsvorschriften, dass Freie Gruppen nicht als Institutionen gesehen werden, sondern als Gruppen bzw. Einzelkünstler*innen eines projektorientieren Handelns mit Basis in Berlin. Das mag einerseits auch nicht falsch sein, denn Freie Gruppen sind keine Produktionsorte, die sich um die Wirtschaftlichkeit eines Hauses kümmern müssen. Sie sind auch keine Institutionen mit millionenschwerem Finanzierungsbedarf, zehntausenden Besucher*innen pro Jahr und ausdifferenzierten Arbeitsbereichen. Was allerdings viele der Freien Gruppen auszeichnet, ist eine Langfristigkeit, eine Beständigkeit des gemeinsamen Arbeitens und damit auch eine soziale Verantwortung gegenüber den langjährig bestehenden Arbeitsbeziehungen. Sie haben vielleicht keinen festen Produktionsort, generieren aber mit ihrem Repertoire immer wieder Orte des sozialen Austausches. Sie bringen soziale Räume hervor. Auch für diese bedarf es einer Planungssicherheit, um ihre Produktionsqualität bei sich verändernden wirtschaftlichen Bedingungen (Mieterhöhungen, Lohnanpassungen) zu gewährleisten. Eine kleine Koalition aus den Freien Gruppen Rimini Protokoll, She She Pop und Gob Squad arbeitete im Jahr 2019 kontinuierlich an einer Veränderung der bislang vorherrschenden Sichtweise auf Freie Gruppen. Ihr Bündnis setzte sich dafür ein, über den Begriff der Institutionen nachzudenken. Ziel dieser temporären Koalition ist es, die Arbeit der Gruppen nicht lediglich als projektorientiertes Kunstunternehmen anzusehen, sondern auf Prozesse der Institutionalisierung aufmerksam zu machen.
Die Institution (Stadt-)Theater
Theaterhäuser als Institutionen zu bezeichnen, ist sicherlich nichts Besonderes. Doch was steckt aus einer gesellschaftlich-sozialen Analyseperspektive hinter dieser Benennung? Was genau sind Institutionen, wie wirken sie?
Für Michel Foucault generieren Institutionen Verhaltensweisen (vgl. Foucault 1978: 125). Besonders das von ihm beschriebene Disziplinarregime, welches sich im 18. und 19. Jahrhundert ausgebildet hat (Foucault 1994), beruht auf dem Bestehen und Funktionieren von Institutionen. Die bekanntesten sind das Gefängnis, die Fabrik, die Schule oder die Familie. Auch die Etablierung des deutschen Theatersystems, wie wir es in seinen Strukturen bis heute kennen, fällt in diesen Zeitraum. Schließlich geht die Entwicklung der Institution (Stadt-)Theater mit der Etablierung eines bürgerlichen Publikums einher, das im abgedunkelten Saal still und mit gesteigerter Aufmerksamkeit das Bühnengeschehen verfolgt. Im eigenen Selbstverständnis versammelt dieses Theater eine aufgeklärte, bürgerliche Gemeinschaft, die sich im ästhetischen Genuss in räumliche Distanz und zugleich innerlicher Nähe einübt, wofür das Dispositiv der vierten Wand unabdinglich war (vgl. Kolesch 2006: 237-248). Das Theater wird im 18. Jahrhundert zu einem Instrument, mit dem das „bürgerliche Innen und das Wissen um es produziert werden“ (Ruppert 1995: 58). In diesem Sinne formt die Institution Theater das bürgerliche Subjekt seit dem 18. Jahrhundert auf normative Weise mit. Eine Formung, die ohne eine spezifische Produktions- und Arbeitsstruktur mit ihren verschiedenen Arbeitsaufteilungen und Hierarchien sicherlich nicht möglich gewesen wäre. Strategien der ästhetischen Illusion und die in sie eintauchenden Subjekte sind ein Produkt dieser institutionellen Produktionsweise.
Obwohl das postdramatische Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts diese Strategien durchaus hinterfragt hat, hat sich die postdramatische Theatertheorie kaum für die dahinterstehenden Institutionen und Produktionsweisen interessiert, wie Henning Fülle bereits kritisch konstatierte (vgl. Fülle 2016: 32). Doch tatsächlich sind neue Produktionsformen eng mit neuen Ästhetiken verwoben. So war der Wunsch nach selbstbestimmter Produktion ein Anliegen, das die in den 1990er Jahren sich etablierenden Freien Gruppen formulierten. Aus dem Begehren nach einer anderen Form der Produktion sollte sich eine neuartige, an den Forderungen der Gruppen angepasste Ästhetik entwickeln. So legt bspw. das Performancekollektiv Gob Squad seit seinen frühen Arbeiten Wert auf Interaktion und Partizipation der Zuschauer*innen, das mehrheitlich weiblich besetzte Kollektiv She She Pop interessiert Hierarchiekritik und die Gruppe Rimini Protokoll zeigt seit Anbeginn Interesse am Einbezug sog. „Expert*innen des Alltags“. Mobilität und Flexibilität im Produktionsprozess sollten zudem Merkmale sein, die sich deutlich von der Institution (Stadt-)Theater und ihrem festen Ensemblebetrieb unterschied. Ein Netz von Kollaborateur*innen, Mitwirkenden und Performer*innen wurde von den Gruppen in je unterschiedlicher Art und Weise gespannt, wenngleich dies stets auch die Gefahr neoliberaler Produktionsverhältnisse sowie prekärer Arbeitsbedingungen beinhaltete. Aber das Ausspielen von zwei Arbeitsweisen (hierarchisch/langfristig vs. flexibel/nichthierarchisch) kann zum Verständnis, was sich in den letzten 20 Jahren verändert hat und welche Bedürfnisse die nunmehr langfristig bestehenden Kollektive und Gruppen haben, nicht ausreichen.
Die Entwicklung der Freien Szene ist kein kurzfristiges Phänomen, das von einer jungen, unbeständigen Gegenkultur hervorgebracht wird. Viel eher ist es ein Phänomen des gesamtgesellschaftlichen Wandels. Tatsächlich haben sich in den letzten 20 Jahren die Freien Gruppen zu professionellen Kunstproduktionsstätten mit lokalem Sitz entwickelt. Auch sie haben langfristige Verbindlichkeiten und tragen soziale Verantwortung für Angestellte und Kollaborateur*innen. Auch sie werden von einem (teilweise mehrere Personen umfassenden) Management geleitet, das sich um gruppeninterne Belange, Logistik, Fördergelder u.a. kümmern. Auch sie müssen in und mit ihrer Arbeit fortlaufende künstlerische Produktion gewährleisten und Publika generieren. Ihr Begehren nach einer anderen Produktion und Ästhetik steht in Relation mit dem Interesse des Publikums an Formen der Partizipation, Hierarchiekritik oder einer möglichst „authentisch“ wirkenden Darstellungsweise. Auch in diesem Interesse an veränderten Ästhetiken und Theaterformen seitens der Publika wird ein gesellschaftlicher Wandel erkennbar.
Sicherlich wäre es an dieser Stelle falsch zu sagen, die Freien Gruppen haben in den letzten Jahren die Institution Theater ersetzt oder, noch polemischer gesprochen, zu dessen Krise geführt. Die Krise in den verschiedensten Institutionen macht sich schon seit einiger Zeit bemerkbar, wie einige Intellektuelle behaupteten, so bspw. der Philosoph Gilles Deleuze (Deleuze 1993). Ob die Institutionen des Disziplinarregimes allerdings an ihr Ende gekommen seien, wie Deleuze sagt, bezweifle ich (vgl. Deleuze 1993: 255). In der deutschen Theaterlandschaft jedenfalls lässt sich beobachten, dass die Krise der Institution Theater einerseits mit der Institutionalisierung alternativer Produktionsformen andererseits zusammenhängt. Solche Prozesse kennzeichnen vielleicht nicht das Ende der Institutionen, sondern eher deren Wandel, der wiederum Teil gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse ist.
Institutionen in der gegenwärtigen Gesellschaftsmaschinerie
Die langjährige Beständigkeit sowie stete Weiterentwicklung der Freien Gruppen kann nicht lediglich als negativ zu bezeichnendes Phänomen des Neoliberalismus und dessen prekären Arbeitsbedingungen benannt werden. Sie sind Bestandteile einer neuen Maschinerie, die sich von den althergebrachten Institutionen trennen möchte, gleichzeitig aber immer noch mit diesen verflochten ist und nach neuen Formen der Institutionalisierungen sucht. Oft produzieren Freie Gruppen in/mit bestehenden Institutionen, natürlich vordergründig mit freien Produktionshäusern, manchmal aber auch mit Stadt- oder Landestheatern. Nicht immer werden in diesen neueren Koproduktionen normative Werte und institutionalisierte Lebensweisen hinterfragt. Manchmal aber können Freie Gruppe blinde Flecken in Institutionen aufdecken, veränderte Produktionsbedingungen in ihrer Zusammenarbeit anstreben (z.B. Einforderung einer Anti-Rassismus-Klausel) und letztlich in ihren Ästhetiken darstellen. Während die eine Institution in der Krise steckt, stabilisieren sich in einem anderen Produktionsbereich neue Organisationsformen, in denen Strukturen, gemeinsame Werte und Normen ausgehandelt werden.
Institutionen zeigen sich aber nicht nur, wie bisher erläutert, im Setzen und Produzieren von bestimmten Strukturen, sondern vor allem in lokalen Affizierungsgefügen. Regeln, Verhaltensweisen oder Handlungen werden nicht irgendwie von Institutionen strukturiert, gelenkt und vorgeformt, sondern sind zunächst emotional fundiert. Eine Institution ist so gesehen immer ein affektives Arrangement, in dem ganz bestimmte Bahnen der Subjektivierung gelegt werden. Das bedeutet auch, dass es unterschiedliche Formierungen von Institution geben muss, die der Etablierung ganz bestimmter Emotionen und Affekte dienen. Sie stehen in Wechselwirkung mit ökonomisch-gesellschaftlichen Faktoren und Produktionsweisen von Subjektivierung.
Angesichts des Unmuts gegenüber althergebrachten Institutionen kann für die Produktionen der Freien Gruppen ein Begehren nach Teilhabe und Partizipation, care bzw. Sorge (um sich selbst und die anderen), Verantwortung und Flexibilität benannt werden. So ist der gemeinschaftliche Arbeitsprozess bspw. bei Gob Squad dadurch gekennzeichnet, dass alle Künstler*innen gleichermaßen Regie führen, Autor*innen sind und auch performen können. Dieser Prozess endet nicht bei einem festen Kern an Künstler*innen, sondern umspannt ein Netz an Kollaborationen. Gleichzeitig ist die Zusammenarbeit von der Sorge getragen, dass die Kommunikation untereinander gut läuft, die Zeiteinteilung nicht zu Überarbeitung führt, die Bezahlung fair und gleich ist und alle Mitentscheidungsrecht haben, um niemanden zu benachteiligen oder in Hierarchien zu verfallen. Die Gruppen und die Personen möchten weitestgehend selbstbestimmt handeln, das eigene Wissen und Können, das eigene verkörperte Leben in den Arbeitsprozess einbringen. Flexibilität, Selbstbestimmung und ein starkes Gefühl für das Miteinander sind also affektiv bedeutsame Merkmale dieser Organisationsstrukturen, die neue Formen der gesellschaftlich-ökonomischen Produktionsbedingungen institutionalisieren. Wenn dem so ist – inklusive aller Vor- und Nachteile – warum sollten sie dann nicht auch mit einem Begriff bezeichnet werden, der diesem institutionellen Status Rechnung trägt und dementsprechend institutionell – und eben nicht projektbasiert – gefördert werden? Warum sollten Freie Gruppen nicht an einem Begriff der Institution festhalten und ihn einfordern, um mit ihm ein Recht auf Absicherung sowie auf Planungssicherheit geltend zu machen und um sich auf diese Weise langfristig und ganz entschieden gegen neoliberale Beschäftigungsverhältnisse zu organisieren?
Literatur:
Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Fülle, Henning (2016): Freies Theater: Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010). Berlin: Theater der Zeit.
Kolesch, Doris (2006): Theater der Emotion: Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Ruppert, Rainer (1995): Labor der Seele und der Emotionen: Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin: Ed. Sigma.
Onlinequellen:
Büsing, Ute; Wagner, Eberhard; Wildermann, Patrick (2009): Evaluation bei der Neuvergabe der Konzeptförderung für die Jahre 2011-2014.
Büsing, Ute; Schmid, Frank; Wenner, Stefanie (2013): Evaluation bei der Neuvergabe der Konzeptförderung für die Jahre 2015-2018.
Irmer, Thomas; Krug, Hartmut; Scheper, Dirk (2005): Evaluation bei der Neuvergabe der Konzeptförderung für die Jahre 2007-2010.
LAFT Berlin (2019): Stellungnahme zum Entwurf des Doppelhaushaltes Kultur 2020/21.
Senatsverwaltung für Kultur und Europa (2017): Konzeptförderung.
Senatsverwaltung für Kultur und Europa (2018): Zweijährige und vierjährige Basisförderung ohne eigenen Produktions-/Präsentationsort.