Kleist-Preis für Ilma Rakusa. Ein Kurz-Porträt

Ilma Rakusa (c) Giorgio von Arb

Ilma Rakusa (c) Giorgio von Arb

„Ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit geht mir völlig ab, auf Heimat hin befragt, kann ich ehrlicherweise nur die Sprache und die Literatur nennen.“ (Rakusa 2006, 9)

Diese Worte stammen von der Schriftstellerin Ilma Rakusa, die in diesem Jahr den renommierten Kleist-Preis erhält. Die geborene Kosmopolitin und Europäerin sei Dichterin, Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin aus vier Sprachen, Kritikerin und polyglotte Intellektuelle in einer Person, wie die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft vergangenen Donnerstag mitteilte.

Ilma Rakusa, geboren 1946 als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, verbrachte ihre Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest. 1951 zog die Familie nach Zürich, wo Rakusa die Schule besuchte und ein Studium der Slawistik und Romanistik begann, das sie später in Paris und Sankt Petersburg fortsetzte. Ihre Dissertation schrieb Rakusa zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur (1973). Bereits während der 1970er Jahre veröffentlichte sie Gedichte, ihre erste Erzählung Die Insel erschien 1982. Seither folgten mehrere Erzählbände, Anthologien und Übersetzungen aus dem Russischen, Serbokroatischen, Ungarischen und Französischen (u.a. Texte von Marina Zwetajewa, Danilo Kiš, Imre Kertész, Marguerite Duras).

Rakusa selbst bezeichnet sich als eine „schreibende Nomadin“ (Rakusa 2006, 16), der ‚Heimat‘ als territoriales Konzept früh fragwürdig geworden war. ‚Heimat‘ und Zugehörigkeit sind für Rakusa nur in der Mehrzahl denkbar. In immer neuen Formen und sprachlichen Abwandlungen erzählt Rakusa über ihr bewegtes Leben, ihre Kindheitserfahrungen, ihre Reisen und Begegnungen mit unterschiedlichen Sprachen, Menschen und Orten. Ihr Schreiben vollzieht sich als Formsuche, als performative Praxis eines Wieder- und Neu-Erzählens, das die Eindeutigkeit nationaler Zuordnungen in der konkreten Vielfalt räumlicher Bezüge und affektiver Bindungen auflöst. In der Mannigfaltigkeit der Gattungen, die ihr lyrisches, essayistisches und erzählendes Werk umfasst, manifestiert sich ein plural gedachtes Konzept von Zugehörigkeit, das der Vorstellung einer einheitlich festen Identität eine radikale Absage erteilt. Vor allem die Mehrsprachigkeit bildet als Ausdruck und Vollzug von Mehrfachzugehörigkeit ein wesentliches Element im Selbstverständnis Rakusas als transkulturelle Autorin: Die Bewegung zwischen Sprachen verdeutlicht die simultane Verortung in verschiedenen Räumen der Zugehörigkeit.

Ihr autobiographisch geprägtes, 2009 erschienenes Buch Mehr Meer beschreibt diese Räume in ihrer sinnlichen Erfahrungsdimension: In 69 Miniaturen erprobt Rakusa den Modus „einer sprachgebundenen affektiven Weltaneignung“, wie die Literaturwissenschaftlerin Lena Wetenkamp im kürzlich erschienenen Sammelband Affektivität und Mehrsprachigkeit (Acker/Fleig/Lüthjohann 2019, 258) herausgearbeitet hat. Gerüche und Klänge, Farben und Stimmungen verdichten sich zu einem intensiven Panorama der Erinnerung. Die letzte Passage heißt „Wind“ und thematisiert mit diesem Motiv die „zugige Existenz“ (Rakusa 2009, 318), die Ruhelosigkeit einer migratorischen Lebensweise, die entlang der Bruchstellen der mitteleuropäischen Geschichte verläuft. Vorangestellt ist diesem Kapitel ein Motto von Yoko Tawada – Kleist-Preisträgerin von 2016, die Rakusa zur diesjährigen Preisträgerin ernannt hat.

Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und in der deutschen Literaturlandschaft einmalig. Zu seinen Besonderheiten gehört, dass eine jährlich wechselnde Vertrauensperson den Preisträger bzw. die Preisträgerin bestimmt. Nicht das Solide und Erwartbare, sondern risikofreudige Autor*innen, will der Preis durch diese Vergabepraxis belohnen. Mit Ilma Rakusa wird eine Autorin ausgezeichnet, die „den Glauben an ein Einziges, Absolutes, Tragfähiges“ (Rakusa 2006, 32) früh verlernt hat und aus dieser Grunderfahrung ihr kreatives Potenzial schöpft.

Literatur:

Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz: Droschl 2009.

Dies.: Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005. Mit einem Nachwort von Walter Schmitz sowie einer Bibliografie. Dresden: Thelem 2006.

Lena Wetenkamp: „Gefühlsalphabete“. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa. In: Marion Acker/Anne Fleig/Matthias Lüthjohann: Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr/Francke/Attempto 2019, S. 241-260.