In der Interview-Reihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten Wissenschaftler*innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir Stefan Wellgraf vor, der derzeit Gastwissenschaftler am SFB „Affective Societies“ ist. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wo er mit der Studie Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten habilitierte.
1. Welche Forschungsfrage bewegt Sie / Dich aktuell? Worin besteht ihre gesellschaftliche Bedeutung?
Mich interessiert die Frage, welche Gefühlsstrukturen die gegenwärtige Gesellschaft prägen und wie wir diese untersuchen können. Prägend für die „current conjuncture“ sind für mich vor allem die neoliberale Prekarisierung und ein nostalgischer Nationalismus. Beide Themenbereiche sind affektiv enorm aufgeladen und auf komplizierte Weisen miteinander verflochten. Ich nähere mich diesen Phänomenen über ethnografische Feldforschungen zu jugendlichen Hauptschülern und zu älteren Hooligans.
2. Die Relevanz welcher Emotion hat Sie / Dich in letzter Zeit überrascht?
Die oben genannten Entwicklungsprozesse gehen mit einer Konjunktur von Scham und Angst einher, weshalb diese Emotionen zuletzt wieder vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben. Doch wir hinken mit unserem Emotionsvokabular den sich transformierenden emotionalen Erfahrungen hinterher, weshalb mich Versuche, diese begrifflich neu zu fassen und konzeptionell mit sich verändernden Herrschaftsverhältnissen in Beziehung zu setzen, besonders interessieren. Ann Stolers historische Studien zu „Affective States“, Lauren Berlants Essays zu Cruel Optimism (2011) und Sianne Ngais Reflexionen über Ugly Feelings (2005) waren für mich in dieser Hinsicht besonders produktiv.
3. Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Schranken in Ihrer/ Deiner Forschungsarbeit?
Meine Forschungen sind auch biografisch beeinflusst, eine wichtige Antriebskraft liegt in meiner Herkunft aus einer ostdeutschen Arbeiterfamilie. Dies hat mir in manchen Momenten den Zugang zu meinen Feldern erleichtert. Die Spannung aus Nähe und Distanz, die für ethnografische Forschungen grundlegend ist, wird dadurch jedoch nicht aufgelöst. Das reicht von den mächtigen „empathy walls“, die Arlie Russel Hochschild in ihren Forschungen zu Trump-Wählern beschreibt, bis zu den irritierenden Sympathiegefühlen, die Les Back bei seinen Treffen mit rechtsextremen Aktivisten überraschten.
4. Welches Buch hat Sie zuletzt stark affiziert?
Hilary Pilkingtons ethnografische Studien zu russischen Skinheads und zur anti-muslimischen English Defence League haben mich sehr beeindruckt. Vor allem in Loud and Proud. Passion and Politics in the English Defense League (2016) zeigt sich, dass Untersuchungen rechtspopulistischer Bewegungen nach einer emotions- bzw. affekttheoretischen Perspektive verlangen. Pilkington führt uns vor Augen, dass wir diese Bewegungen nicht verstehen können, wenn wir nur auf die mit ihnen verbundenen Abwehrgefühle wie Hass und Ressentiments eingehen und dabei positiv konnotierte Emotionen wie Stolz und Solidaritätsgefühle vernachlässigen. Zu den emotionalen Herausforderungen, mit denen sie sich als Forscherin dabei konfrontiert sah, gibt es zudem in beiden Büchern wichtige Überlegungen.
5. Auf welche Stimmungen und / oder Gefühle würden Sie / würdest Du im Moment gerne verzichten?
Auf die Unsicherheit, die aus den prekären Arbeitsverhältnissen im akademischen Bereich resultiert.