„Wer demnächst vor einem Lebensmittelmarkt einen Obdachlosen lagern sieht, wird vielleicht mit anderem Blick auf ihn schauen – weil er in dieser Nacht eine Ahnung davon bekommen hat, was es bedeutet, auf der Straße zu leben.“
Mit diesem Satz schließt Heinrich Oehmsen seine Kritik zu der neuen Performanceinstallation „Das halbe Leid“ von SIGNA, die am 16.11.2017 Uraufführung hatte und vom Schauspielhaus Hamburg produziert wurde. Und er ist nicht der einzige. Fast alle bisher veröffentlichten Rezensionen heben im- oder explizit darauf ab: Dass die Teilnahme am zwölfstündigen Empathie-Kurs des fiktiven Vereins „Das halbe Leid e.V.“ dazu geführt habe, dass sich ihr Blick auf obdachlose Menschen in den Straßen danach verändert habe – was auch immer das im Konkreten bedeuten mag. Ohne diesen Effekt in seiner Kraft für die einzelnen Besucher*innen diskreditieren zu wollen, führt er doch zu einer wirkungsästhetisch sehr vereindeutigenden moraldidaktischen und verkürzten Interpretation, die der Komplexität der Fiktion von SIGNAs neuer Arbeit meines Erachtens und Erfahrens nach nicht gerecht wird.
I’ll show you something to make you change your mind
Mit dem Übertreten der Schwelle, hinein in die ehemalige, weitläufige und kalte Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck am Wiesendamm in Hamburg-Barmbek werden die ca. 50 Theaterbesucher*innen von SIGNAs neuer Produktion zu Teilnehmer*innen an einem Kursprogramm des fiktiven, dort einquartierten Vereins „Das halbe Leid e.V.“. Dieser wurde bereits 2007 vom Ehepaar Viola und Peter Freund gegründet und bietet seit kurzem auch öffentliche Kurse zur Steigerung der Empathiefähigkeit an. Zur Durchführung werden ausgewählte „Leidende“ verpflichtet, sich als Mentor*innen bereitzustellen, um je ein bis drei „Kursisten“ pro Nacht (der Kurs dauert von 19 Uhr bis 7 Uhr) zu begleiten. Die „Leidenden“ – das sind Obdachlose, die im Verein temporäre Bleibe gefunden haben, das sind Junkies, ehemalige Prostituierte und scheinbar kranke, junge Menschen vom sogenannten ‚Rand‘ unserer Gesellschaft. Die zentrale Aufgabe für Kursteilnehmer*innen besteht darin, sich in das Leid des jeweiligen Mentors hineinzuversetzen. Um dies zu erleichtern, setzt der Verein die Methode des Identitätswechsels ein, was beinhaltet, dass sich Mentor*innen ihre Schützlinge nach visueller (und vermeintlich ethnischer) Ähnlichkeit aussuchen und ihnen eigene Kleidung als obligatorische Wechselgarderobe zuteilen.
Der Kurs ist die vom Verein ausgesprochene Einladung, einzutauchen in eine Welt, die einem sonst meist verschlossen bleibt. Programmatisch beginnt die Nacht mit einem Lied: Susi, 42, blond, solariumgebräunt, in enger Jeans, rosafarbener Kapuzenjacke, Daunenweste und zerfledderten Winterstiefeln, begrüßt alle Kursist*innen mit einer deutschen Version von „Streets of London“.
Ein Beispiel: Susis Leid
Nach einleitenden Worten ausgewählter Vereinsmitarbeiter*innen – hier „Mitleidende“ bzw. „Mitleidende auf Probe“ genannt – zu Verhaltensregeln und Kursablauf, werden die Besucher*innen räumlich aufgeteilt. Als Frau finde ich mich sogleich im ersten Stock in einem mehrheitlich pink und roséfarben gehaltenen Damenschlafsaal wieder, wie im Sportunterricht in der Schule in einer Reihe stehend, darauf wartend, ausgesucht zu werden. Unter den Leidenden gilt eine strenge Hierarchie, die auch festlegt, wer zuerst wählen darf. Demnach ist Susi die Erste und Susi wählt mich. Kurz danach trage ich nur noch Pinktöne (sogar auf den Augenlidern) und das Namensschild „Susi-III“ baumelt mir um den Hals. Die Performerin Evi Meinardus ist zum ersten Mal bei SIGNA dabei und verkörpert Susi auf wirklich überzeugend-glaubhafte Weise (womit die Wirkung hier steht und fällt). Ihre Susi kommt aus Wilhelmshaven, spricht lasziv und doch keck mit nordischem Akzent und wirkt vom Dosenbier „Ratskrone“, das sie meist mit sich herumträgt, etwas benebelt. Sie ist eine der Dienstältesten im Verein, etwas prollig, hört gern Rockmusik von Doro Pesch und ist mit Cliff, dem vermeintlich coolsten Typ aus der Gruppe der „Deutschen“ liiert. Sie warnt mich vor Alina und Radka aus Osteuropa, denn als Susi-III teile ich ihre Vorurteile gegenüber „Ausländern“ und halte mich weitestgehend von ihnen fern.
In einem ersten Kurs im Therapiezentrum auf der anderen Seite der Werkhalle, der von Betty nach dem Prinzip der Familienaufstellung durchgeführt wird, erfahre ich, dass Susi im Alter von 8 bis 14 Jahren regelmäßig und im Wissen des Vaters von ihrem Onkel sexuell missbraucht wurde. Es folgten Jahre, in denen sie im Escort-Service tätig war und immer regelmäßiger anschaffen ging. Sie hat zwei Kinder, die sie aber seit Jahren nicht gesehen habe. Mit Männern habe sie generell immer nur schlechte Erfahrungen gemacht; auch Cliff betrüge sie seit Jahren. Ein erfülltes Leben sieht anders aus. Trotzdem wirkt sie relativ stark. Ich mag sie und merke, wie sich Stück für Stück eine Bindung zu ihr aufbaut. Sie als Obdachlose wahrzunehmen, fällt mir indes schwer – ihr Leid wirklich nachzuempfinden auch. Woran liegt das? Liegt es an mir? Lasse ich mich nicht genug ein? Oder kann ich das Wissen um den Theaterrahmen, darum, dass sie mir das Leid vorspielt, hier schlicht nicht außen vorlassen?
In der Psychologie bezeichnet Empathie „eine fremdbezogene ‚Stellvertreteremotion’, die in der Wahrnehmung und/oder im Verstehen des emotionalen Zustandes einer anderen Person ihren Ursprung hat“ (Till 2016). Die Kapazitäten, mich emotional in ihre Situation hineinzuversetzen, kann ich nicht abrufen.
Das Dilemma mit dem „Rückenwind“
Was mir gleichfalls schwerfällt, ist, die Philosophie hinter den Methoden des Vereins zu begreifen. So bin ich irritiert, als mich Serkan, der einzige Mitleidende auf Probe, der einmal selbst Leidender war, im Kurs „Rückenwind“ auffordert, Susis Wahrnehmung von sich selbst ernst zu nehmen, indem ich ihr in die Augen blicke und bestätige: „Ich erkenne deine Wahrnehmung an: Du bist scheiße“ – was ich auch nach längerer Diskussion ablehne zu tun. Impliziert wird hier ein Verständnis von Leid, das extrem subjektzentriert ist: Susi soll weniger im Blick haben, dass es Kontexte, ihr soziales Umfeld und kulturelle Zuschreibungen sind, die ihre Existenz und damit auch ihr Leidempfinden geprägt haben, vielmehr gilt es, sie darin zu bekräftigen, dass ihr internalisiertes Selbstbild fremder Projektionen (Menschen, die ihr immer wieder sagten oder fühlen ließen: „Du bist scheiße“) seine volle Berechtigung hat. Eine Situation, die typisch für SIGNA-Arbeiten ist, insofern sie mich auf eigene Positionen, Werte und Normen zurückwirft und eine Haltung oder Handlung in situ von mir einfordert.
Letztlich tue ich – so spiegelt es mir Serkan in der Sitzung – jedoch nichts Anderes, wenn ich seine Methode anzweifele und argumentiere, dass Susis Empfinden, „scheiße zu sein“ damit nur unnötig zementiert werde. Er stellt mich gleichsam doppelt bloß: Ich sei nicht in der Lage, das Leid meiner Mentorin anzuerkennen und ihr Bedürfnis zu stillen – nämlich ihr den Rückenwind der Bestätigung zu geben. Darüber hinaus lanciere ich mit meinem Widerstand eine Diskussion, die dazu führt, dass am Ende die Redezeit von uns Kursist*innen viel höher war als diejenige der Leidenden Susi und Rolf, um die es in der Aktivität ging. Damit stelle ich mich nach Serkan nicht nur über Susi, sondern auch über ihn und den ganzen Verein. Ich solle mit Susi mitleiden, d.h. ihren Schmerz stellvertretend nachempfinden, nicht aber Mitleid mit ihr entwickeln, das sich dann im Drang, helfen oder einen guten Rat erteilen zu wollen, kompensiert. Helfen sei ein narzisstisches Projekt, mit dem ich mein Gegenüber nicht stabilisiere, sondern entmündige.
Das Vorgehen des Vereins, durch einen Kurs wie „Rückenwind“ zu lehren, das eigene Ego zurückzunehmen und Kritik an der für das Mitleid konstitutiven relationalen Macht-Asymmetrie zu üben, finde ich im Nachhinein mit Blick auf eine übergeordnete, gesellschaftliche Kritik an aktuellen Mitleidsökonomien (z.B. Profit aus dem Leid anderer schlagen; sein Mitgefühl durch Spenden ausdrücken; multinationale Konzerne, die mit „Hilfe“ Geld verdienen; vgl. zu einer historischen Herleitung dieser Mitleidsökonomien auch Frevert 2013) produktiv und überzeugend; fraglich bleibt jedoch, wozu der Verein „Leidenden“ Obdach gewährt, wenn es ihm der eigenen Programmatik folgend nicht um Mitleid im Sinne von Hilfe gehen kann…
Im Visier: die Mitleidenden
Erst bei meinem zweiten Aufführungsbesuch, meiner zweiten Kursteilnahme, realisiere ich, dass es bei dieser SIGNA-Arbeit womöglich weniger um die „Leidenden“ als Repräsentant*innen realer Obdachloser geht (oder gehen könnte), mit welchen man – wie die Kritiker*innen es beschreiben – in realiter im Anschluss „besser“ im Sinne von „bewusster“ umgehen möge. Vielmehr scheint es vor allem um eine deutlich komplexere Kritik an der Institution des Vereins und den ambivalenten Haltungen und Techniken derer, die sie tragen und führen, den „Mitleidenden“, zu gehen. Da die „Leidenden“ – wenn ich das so sagen darf – jedoch mit ihren individuellen Lebensgeschichten und emotionalen Ausbrüchen den höheren Spektakelwert haben, und die Teilnehmenden mittels dramaturgischer Wahl der Mentoring-Struktur viel stärker an sie gebunden werden, kann (oder „soll“ gemäß Vereinslogik) der Blick für die Institution und übergeordnete Strukturen verloren gehen.
Diesmal jedoch – bei meinem zweiten Besuch beim „Halben Leid“ – wundere ich mich über die Mitleidende a.P. Betty, die mir mindestens so paranoid wie meine zweite Mentorin Pamela vorkommt, ärgere mich über den devoten Leiter Peter, der sich von seiner zum Alkoholismus neigenden Frau auf der Nase herumtanzen lässt, erfahre, dass beide eine junge Leidende wie ihr Ersatzkind hätscheln und dabei jedes Therapieziel verfehlen. Frappiert bin ich über die Lustlosigkeit von Elisa, darüber, dass Ruben in seinem Vortrag Theorien zur Vererbung von Intelligenz des NS-Rassenideologen J.F. Reinöhl zitiert und über die Tatsache, dass Überwachungs-Patrick Extra-Wertmarken verteilt, wenn weibliche Leidende nackte Haut vor einer seiner Überwachungskameras zeigen. Und ich stelle fest, dass ich mich Ihnen jedoch kaum mit Nachfragen zuwende, sondern immer wieder nur den Leidenden.
Von einem männlichen Mitkursisten (Keller-Reini-III) erfahre ich von den „dunklen Methoden“, erfahre, dass Ruben und Serkan in der Nacht die „eigentliche Forschung“ betreiben, dass sie Experimente roher Gewalt an Leidenden durchexerzieren. Milgram lässt grüßen. Da wird ein Leidender in einen Teppich gerollt und soll getreten werden (und es finden sich Kursisten, die das tun). Beim „einstecken-austeilen“-Kurs soll jeder mal Täter und Opfer sein, soll mit Gymnastikbällen werfen und beworfen werden, soll mit einem Gürtel schlagen und geschlagen werden und soll mit Elektroschockern, wie sie schon in SIGNAs „Wir Hunde“ zum Einsatz kamen, elektrische Stöße verteilen und zugesetzt bekommen. Und ich frage mich, warum diese Einblicke im Rahmen des Aufführungs-/Kurs-Parcours nur einer kleinen Anzahl (meist) männlicher Kursisten gewährt wird? Im Damenschlafsaal verlebe ich bei meinem zweiten Besuch eine verhältnismäßig ruhige Nacht, in der es abgesehen von einer schrecklich unangenehmen, versuchten Vergewaltigung unter Leidenden eigentlich nur um kleinere Zänkereien geht.
Das Leiden anderer instrumentalisieren
Die Prämisse hinter den Techniken und Methoden des Vereins scheint genauso simpel wie gefährlich: „Man kann sich nur vorstellen, was man selbst erlebt hat.“ Als erklärende Analogie dient Ruben in seinem Vortrag „Sich selbst im Leiden anderer finden“ der Krieg: Man könne ihn sich eben nicht vorstellen, wenn man ihn nicht selbst erlebt habe. Er benutzt das Verb „vorstellen“, meint in der Logik des Vereins aber „nach- bzw. mitempfinden“. Um also Leid nachhaltig nachempfinden zu können, hat sich der Verein darauf spezialisiert, kleine Simulationen im Therapieformat zu entwerfen, in denen man selbst physisch und psychisch leiden muss. Dafür werden diejenigen instrumentalisiert, die eh schon leiden, die sich für ihre vermeintlichen Unterstützer wiederum prostituieren müssen (es gibt eine Tagespauschale im Wert von 10 Euro, Wertmarken für Extras und für eine erfolgreiche Mentorschaft die Aussicht auf den Gewinn eines Luxus-Aufenthaltes im Schloss Leizen). Die Institution dahinter schöpft den (Mehr-)Wert ab, indem sie ihre eigenen Forschungsinteressen, also die Weiterentwicklung fragwürdiger Therapiemethoden im Feld der Psycho- und Verhaltenstherapie unter dem Deckmantel altruistischer Vereinsarbeit verschleiert.
Auf der Ebene der Fiktion wird den Leidenden also in der Tat nicht geholfen, sondern sie werden ein weiteres Mal ausgebeutet, nicht zuletzt, indem sie sich bereiterklären, uns Kursist*innen Einblick in ihre Welt zu gewähren. Auf einer Meta-Ebene meine ich hier auch einen Kommentar zu zeitgenössisch virulenten immersiven Theater-, VR- oder sozialexperimentellen Simulationen ausfindig zu machen, die ihre Erlebnisse z.T. mit ähnlichem Wortlaut vermarkten: Nur vorstellen reicht nicht. Es gilt, das Ereignis selbst (und idealiter) mit allen Sinnen zu erleben. Welche Machttechnik verbirgt sich hinter diesen Formaten? Und kann ich die im Blick behalten, wenn ich mich auf solche Events einlasse?
Und alle Fragen offen?
Was macht also dieser Kurs mit mir? Was will er erreichen? Dass ich mir durch die Simulation meines (im Verhältnis betrachteten) privilegierten Status einmal mehr gewahr werde? Vielleicht. Ein geschärftes Bewusstsein für die vielen Obdachlosen, die es derzeit nicht nur auf den Straßen Hamburgs und Berlins gibt, habe ich auch ohne die Simulation. Auch gab es 2015 bereits eine Performanceinstallation von Julian Hetzel („Still“), die mir das tatsächlich auf viel nachdrücklichere Weise bewusst gemacht hat, indem ich im Kunstraum plötzlich mit einer „realen“ Obdachlosen konfrontiert wurde und nicht mit einer „gespielten“ Obdachlosenbiografie. Deshalb auch mein Unbehagen gegenüber Kritiker*innen-Stimmen, die diesen Aspekt als Effekt ihres Besuchs beim „Halben Leid“ so stark machen. Auch weil SIGNA damit zu einem moraldidaktischen Belehrungs-Mitmachtheater degradiert wird, obwohl es so viel mehr als das ist. Deshalb auch der Versuch, mit diesen Beschreibungen einen Eindruck zu vermitteln, was es beim „Halben Leid“ möglicherweise darüber hinaus noch zu erfahren, zu entdecken und zu reflektieren gibt. Die beiden Besuche werden mich auf jeden Fall noch länger beschäftigen. Und so ende ich mit einem großen Dank und großer Hochachtung für die unfassbare Leistung, die alle Beteiligten von SIGNA erbringen, um solch produktiv-ambivalente, nachhaltige Zuschauer*innen-Erfahrungen im Rahmen von Kunst möglich zu machen.
Literatur:
Till, Dietmar: „Empathie“, in: von Koppenfels, Martin; Zumbusch, Cornelia (Hg.) (2016):
Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin und Boston, S. 540.
Frevert, Ute (2013): Vergängliche Gefühle. Göttingen.
Ich danke dem Kursisten „Keller-Reini-III“ für seine Erfahrungsberichte aus den nächtlichen Kursen „dunkler Methoden“.