Das politische Strafverfahren als Affekt-Regulations-Maschine

Täglich werden überall auf der Welt zahllose Strafprozesse verhandelt. Die allermeisten davon finden dabei keinerlei öffentliche Beachtung. Die Besucherstühle der Gerichtsäle bleiben meistens leer. Immer wieder allerdings kommt es vor, dass ein Strafverfahren zum medialen Großereignis wird. Solche Strafprozesse sind aufregend, werden von leidenschaftlichen Debatten und Diskussionen begleitet und bewegen die Massen. Das Gericht erscheint als Bühne, auf dem eine Vorstellung gegeben wird, die die Öffentlichkeit in Atem hält. Oft wird dann gesagt, dass solche Verfahren den Bereich des Rechts im engeren Sinne verlassen haben. Sie seien politisch geworden.

Strafverfahren können dann politisch sein, wenn Politiker*innen auf der Anklagebank sitzen oder den Angeklagten eine politische Straftat vorgeworfen wird, zum Beispiel Terrorismus, Spionage, Hochverrat oder gar Völkermord. Die Nürnberger Kriegsverbrechertribunale in den 1940er-Jahren, die Frankfurter Auschwitzprozesse aus den 1950er-Jahren, die Strafverfahren gegen die Rote Armee Fraktion aus den 1970er-Jahren oder der Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund aus den 2010er-Jahren sind Beispiele für solche politischen Prozesse aus der jüngeren deutschen Geschichte. Verfahren vor internationalen Tribunalen, zum Beispiel dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, fallen ebenfalls unter diese Rubrik. Potentiell kann aber jedes Strafverfahren politisch werden, etwa dann, wenn der Staat, das Regime oder wer immer das Verfahren durchführt, meint, sich gegen seine Feinde politisch behaupten zu müssen. Die zahllosen Anti-Terror-Prozesse in der Türkei unter der Erdoğan-Regierung oder das Verfahren gegen den gestürzten Präsidenten Ägyptens, Mohammed Mursi, sind hierfür Beispiele; aber auch das Militärtribunal gegen den ehemaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein oder der Prozess gegen den NS-Funktionär Adolf Eichmann in Jerusalem sind politische Strafprozesse in diesem Sinne. Aus dieser Liste von Beispielen ergibt sich bereits, dass die Antwort auf die Frage, ob politische Strafverfahren etwas Gutes oder Schlechtes sind, von der politischen Perspektive abhängt. Fast scheint es so, dass kein staatliches System, wenn es sich zu legitimieren sucht – ob demokratisch oder diktatorisch, autokratisch oder liberal – ohne politische Strafverfahren auskommt.

Manchen Rechts- und Politiktheoretiker*innen, die gegen die Vermischung von Politik und Recht anschreiben, erscheint so eine Analyse zu zynisch. In ihrem berühmten und auch kontroversen Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem hat Hannah Arendt (1964) die Politisierung des Strafprozesses kritisiert. Es sei, so ihr Vorwurf, in erster Linie um die Legitimierung des damals noch jungen israelischen Staates gegangen. Eichmanns persönliche Schuld als Einzelperson sei in den Hintergrund getreten. Arendt beschreibt eindrücklich, wie in dem Verfahren Zeugen zu Wort gekommen seien, die zwar die Grauen des Holocaust an den europäischen Juden in emotional hoch aufgeladener Weise hätten wiedergeben können, deren Aussagen aber zur Frage von Eichmanns persönlicher Schuld wenig bis gar nichts hätten beitragen können.

Arendts Beschreibungen verweisen auf einen grundsätzlichen Zusammenhang von politischen Strafverfahren und Emotionen. Bewegende Zeugenaussagen, leidenschaftliche Plädoyers und schockierende Beweisfotos scheinen eine zentrale Rolle in politischen Strafprozessen zu spielen. Gerichtsverfahren sind also nicht nur durch ihren Inhalt politisch, sondern auch durch ihre Form. Die Überlegung ist die folgende: Ein Strafprozess kann nur politisch sein, wenn er öffentlich wahrgenommen wird. Um wahrgenommen zu werden, muss er sichtbar gemacht werden. Und das zentrale Mittel zur Sichtbarmachtung eines Gerichtsverfahrens ist die Darstellung von Emotionen.

Nach landläufiger Ansicht haben Emotionen, genauso wie die Politik, im Recht nichts verloren. Vor Gericht gehe es darum, die Rechtsanwendung kühl und rational zu halten. Affektive oder emotionale Regungen stören diese Abläufe. Es gibt allerdings eine etablierte Forschungsrichtung aus den Geistes-, Sozial- und Kognitionswissenschaften, die genau dieses Ideal des rational und kühl kalkulierenden Rechts in Frage stellt (vgl. z.B. Landweer / Koppelberg 2016). Nach dieser Ansicht, spielen Emotionen im Recht permanent eine Rolle. Anstatt mühevoll zu versuchen, sie wegzudiskutieren, müsse man sie systematisch untersuchen. Ein wichtiger Schwerpunkt dieser Forschungsrichtung ist die Frage, wie Emotionen den Verlauf und den Ausgang eines Gerichtsverfahrens beeinflussen. Es gibt zum Beispiel Studien darüber, wie Richter*innen oder Geschworene durch bestimmte emotionale Rhetorik oder bewegende Bilder beeinflusst werden (vgl. Bornstein / Wiener 2011). Denkt man aber über politische Strafverfahren nach, lässt sich eine abgewandelte Frage stellen: Was hat es zu bedeuten, dass Gerichtsverfahren durch Emotionen politisch gemacht werden? Man kommt zu der Überlegung, dass sich politische Strafverfahren dadurch definieren, dass sie in einem besonders emotionalen Register operieren.

In meiner Arbeit im Sonderforschungsbereich Affective Societies geht es darum, der Rolle von Affekt und Emotionen im internationalen Strafrecht auf die Spur zu kommen. Dazu habe ich insgesamt ein Jahr ethnographische Feldforschungen durchgeführt: sowohl am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag in den Niederlanden als auch im Norden Ugandas. Der lange Bürgerkrieg zwischen der ugandischen Regierung und der Rebellengruppe Lord’s Resistance Army ist derzeit in Den Haag Gegenstand eines Strafprozesses. In einem der ersten Gespräche mit einer Mitarbeiterin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag fragte ich sogleich, ob sie mir etwas über die Rolle von Emotionen für die Verfahren vor dem IStGH sagen könne. Sie antwortete, dass die Prozesse zwar von starken Emotionen begleitet würden, aber es Aufgabe des Gerichts sei, diese Emotionen aus den Verfahren herauszuhalten. Es solle nur um Fakten gehen, nicht um Emotionen.

In meinen mehrmonatigen Verhandlungsbeobachtungen ist mir dieses Ideal des emotionslosen Rechts immer wieder begegnet. Schaut man im Gerichtssaal aber genauer hin, erkennt man, dass Emotionen dort keineswegs gänzlich verdrängt werden. Vielmehr gibt es während der Verfahren darum, strenge „Gefühlsregeln“ (Hochschild 2006) – also Regeln darüber, wer unter welchen Umständen was fühlen darf und wie diese Gefühle zu äußern sind. Diese Regeln werden im Gerichtssaal manchmal befolgt, manchmal auch überschritten. Die ganze Zeit aber wird daran gearbeitet, sie durchzusetzen. Beim Gerichtsverfahren geht es um Emotionsregulation, nicht um Emotionsverdrängung.

Hört man meiner Gesprächspartnerin genauer zu, findet man diesen Mechanismus auch in ihren Aussagen bestätigt. Als ich mein Gegenüber nämlich einige Minuten später dazu befragte, warum so viele Politiker*innen in Afrika immer feindlicher gegenüber dem IStGH aufträten, ihm gar Neokolonialismus vorwerfen würden, gab sie eine interessante Antwort. Manche Politiker*innen trügen sehr eigennützige Argumente vor. Viele hätten Angst davor, selbst vor dem Gerichtshof angeklagt zu werden. Dass diese Leute aber Angst hätten, sei eigentlich eine gute Sache. Es zeige, dass der Gerichtshof seine Arbeit richtig mache.

Ihre Einschätzung erhellt einen wichtigen Punkt für den Zusammenhang von Emotionen und politischen Strafprozessen: Wenn es bei jedem gewöhnlichen Strafprozess (jedenfalls auch) um Emotionsregulation im Gerichtssaal geht, dann geht es beim politischen Strafprozess um Emotionsregulation in der Öffentlichkeit. Politische Strafprozesse tragen Emotionen in die Öffentlichkeit, um öffentliche Gefühle zu beeinflussen.

Wenn man Rechtswissenschaften studiert, lernt man in den ersten Unterrichtsstunden im Strafrecht etwas über die Strafzwecklehre. Dabei geht es um die Frage, was das Strafrecht für Ziele verfolgt: Warum straft der Staat? Meistens lernt man dabei drei Strafzwecke auswendig. Erstens soll das begangene Unrecht gesühnt werden, indem der Täter für sein Vergehen zur Rechenschaft gezogen wird (Vergeltung); zweitens soll der Täter oder die Täterin davon abgehalten werden, weitere Straftaten zu begehen und resozialisiert werden (Spezialprävention); drittens soll die Öffentlichkeit in ihrem Vertrauen auf die Geltung des Rechts bestärkt und davon abgeschreckt werden, Straftaten zu begehen (Generalprävention). Recht bedacht haben alle diese Strafzwecke eine zentrale emotionale Dimension. Sühne, Abschreckung und Vertrauen werden von Menschen nicht als Rechenoperationen wahrgenommen, sondern in einem unklaren Mischungsverhältnis aus Denken und Fühlen. Wenn das Strafrecht so etwas erreichen will, muss es auf die Gerechtigkeitsgefühle aller Beteiligten einwirken (Bens / Zenker 2017). Der politische Strafprozess macht das in besonders intensiver Weise und in besonders großem Maßstab. Gerade seine öffentliche Emotionalität macht ihn politisch. Der politische Strafprozess ist damit in besonders relevanter Hinsicht eine Affekt-Regulations-Maschine. Will man solche Verfahren politisch bewerten, muss man also danach fragen, wie sie bei welchen Leuten, zu welcher Zeit, welche Gefühle hervorrufen – und was die politischen Folgen davon sind.

 

Literatur

Arendt, Hannah (1964) Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper.

Bens, Jonas / Zenker, Olaf (2017) Gerechtigkeitsgefühle: Eine Einführung. In: Bens / Zenker, Gerechtigkeitsgefühle: Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen. Bielefeld: Transkript: S. 11-36.

Bornstein, Brian H. / Wiener, Richard L., Hg. (2011) Emotion and the Law: Psychological Perspectives. New York: Springer

Hochschild, Arlie Russel (2006) Das gekaufte Herz: Die Kommerzialisierung der Gefühle. Berlin: Campus.

Landweer, Hilge / Koppelberg, Dirk, Hg. (2016) Recht und Emotion: Verkannte Zusammenhänge. Zwei Bände. Freiburg: Karl Alber.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Themenreihe Affekt, Emotionen und das Politische.