Sprach-Spiel-Räume. Das Theater von Nassim Soleimanpour

Eine Retrospektive unternimmt gemeinhin den Versuch, Schaffensphasen, zentrale Themen oder wiederkehrende Motive und Arbeitsweisen im Werk eines Künstlers auszumachen. Dementsprechend finden Retrospektiven in der Regel erst statt, wenn bereits ein relativ umfangreicher Korpus an Arbeiten existiert; als Rück-Blick auf die getane Arbeit sozusagen.

Anders im Fall des 35-jährigen iranischen Theaterautoren Nassim Soleimanpour. Obwohl sein Œuvre noch recht übersichtlich ist, führt das Londoner Bush Theatre zur Eröffnung der Spielzeit 2017/18 seine gesamten bisherigen Theatertexte auf: Neben dem international sehr erfolgreichen ersten Stück White Rabbit, Red Rabbit aus dem Jahr 2011 werden die Arbeiten Blank (2016), Nassim (2017, Regie: Omar Elerian), und das in Ko-Produktion mit dem dänischen Regisseur Jesper Pedersen entstandene Cook (2017) gezeigt.

Plakatankündigung der Retrospektive Nassim Plays am Londoner Bush Theatre, © Friederike Oberkrome

Eine solche Gesamtschau macht insofern Sinn, als alle vier Arbeiten auf demselben experimentellen Prinzip des ‚Unrehearsed Reading‘, der Aufführung als Leseprobe, beruhen. Dementsprechend ist es der ausdrückliche Wunsch des Autors, dass die Performer*innen seiner Theatertexte das Skript zum Zeitpunkt der Aufführung nicht kennen; sie sollen es weder gegoogelt noch gelesen, geschweige denn geprobt haben und erhalten den Text erst in der Aufführung selbst, gut verschlossen in einem großen, weißen, an sie adressierten Umschlag. Im situativen Lesen begegnen sie dann der im Text deutlich präsenten, teilweise selbstreflexiven und stellenweise durchaus restriktiven Stimme des Autors, die ihnen die eigenen Worte in den Mund legt und ihnen Text und Handlungen vorgibt.

“It quickly becomes apparent that the ‘I’ speaking on stage is not me, but the playwright […], he travels through his words, using the performer as a conduit”, so beschreibt die Schauspielerin Stephanie Merritt, die auf dem Edinburgh Fringe Festival in White Rabbit, Red Rabbit performt hat, ihre Erfahrungen im Guardian. Und weil die Unkenntnis des Textes spielerisch-explorative Voraussetzung der Aufführungen ist, steht an jedem Aufführungsabend im Bush Theatre ein/e andere/r Performer*in auf der Bühne – ich sah zum Beispiel Josie Lawrence in Blank, Hari Dhillon in Nassim und Scottee in White Rabbit, Red Rabbit.

In jedem seiner Stücke wird diese formale Grundbedingung je nach inhaltlicher Themensetzung variiert. Soleimanpours Debüt White Rabbit, Red Rabbit fragt danach, inwieweit Text und/oder Performer*in als Sprachrohr bzw. Stellvertreter des Autors fungieren können. Soleimanpour, der aufgrund der Verweigerung des Kriegsdienstes im Iran zunächst keinen Pass erhalten und deshalb nicht aus dem Land ausreisen konnte, schickte stattdessen sein Stück White Rabbit, das mittlerweile tatsächlich in über 20 Sprachen übersetzt wurde, auf eine Reise um die Welt: der Text thematisiert in Antizipation seiner späteren Aufführungsgeschichte, wie er sich anstelle Soleimanpours über Zeitschwellen und Ortschwellen hinweg bewegt und so einen Möglichkeitsraum entwirft, der für Soleimanpour auch die Theatersituation selbst kennzeichnet: “you [as the audience, F.O.] are my freedom“.

In den zwei parallel verlaufenden Erzählszenarien in White Rabbit, Red Rabbit wird allerdings deutlich, dass die Theatersituation keineswegs nur auf Freiheiten basiert, sondern von unterschiedlichen theaterimmanenten und -externen Abhängigkeitsverhältnissen durchzogen ist. So werden in einer ersten, fabelartig anmutenden Geschichte über das Leben eines Hasen Prozesse sozialer Konditionierung thematisiert, die Wettbewerbsdenken und Konkurrenzhandeln befördern und damit gesellschaftliche Ein- und Ausschlussmechanismen (re-)produzieren. Einer dieser geschilderten Wettbewerbe wird schließlich mit Zuschauer*innen auf der Bühne nachgespielt: Wer von den fünf Auserwählten schafft es als Erste*r, eine Möhre von einer auf der Bühne platzierten Leiter herunterzuholen? Und wer steht anschließend als ‚Verlierer*in‘ im Rampenlicht?

White Rabbit, Red Rabbit. Sept. 2017. Performer Scottee mit fünf Zuschauer*innen bei der Preisverleihung für den schnellsten „Hasen“, © Friederike Oberkrome

Expliziter wird das Machtverhältnis zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen im zweiten Strang problematisiert, der ein potentiell tödliches Glücksspiel inszeniert: der Performer Scottee, dem  vor der Aufführung ein kleines Döschen zugesteckt wurde, erfährt auf der Bühne vor Publikum, dass es sich dabei um Gift handele, das er in eines der beiden, auf einem Tisch platzierten Wassergläser einrühren und die Gläser daraufhin blind vertauschen soll. Die Autorstimme fordert anschließend das Publikum auf zu entscheiden, welches der beiden Gläser er zu trinken hat.

Das Spiel mit Abhängigkeiten zwischen Publikum und Akteur*innen ist ein zentrales Charakteristikum von Soleimanpours Texten, das er auf immer wieder neue Weise ausagiert. Die Akteur*innen lassen sich auf ein Spiel im Grenzbereich des Theatralen ein, da sie weder einen Handlungsablauf des Abends kennen noch eine Rolle oder Figur erarbeitet haben, hinter der sie zurücktreten könnten. Insofern es aber einen Text gibt, der Worte und Handlungen vorschreibt, ist Improvisation im Sinne eines Stegreif-Spiels ebenso wenig möglich. In ihrem schon zitierten Erfahrungsbericht beschreibt Stephanie Merritt  das Skript folglich einerseits als Sicherheitsanker auf der Bühne. Gleichzeitig werde durch diese Art der Aufführung das theatrale (Macht-)Verhältnis zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen sowohl formal als auch inhaltlich erforscht und verunsichert: “There are moments when he instructs me, through the text, to involve the audience. Through this he subtly questions our ideas of complicity and obedience, our passivity and the notion of control […]”.

Dieses Wechselspiel wird besonders in der Aufführung von Blank deutlich, in der die Schauspielerin Josie Lawrence auf der Bühne zu sehen war. Wie der sprechende Titel bereits verrät, fordert der Autor in diesem Skript von der Performerin, ausgelassene Lücken im Text mit eigenen Worten zu füllen und ihn gewissermaßen zu Ende zu schreiben. Nachdem Lawrence die ersten zwanzig Minuten von sich selbst zu erzählen hatte, wird mit dem „Sniper-Spiel“ ein Dialog mit dem Publikum initiiert: die Zuschauer*innen werden aufgefordert, Lawrence ein Wort, eine Frage oder einen kurzen Satz entgegenzuschleudern, auf den sie unmittelbar kontern soll, denn „a word can kill a person on stage, right?“

In der zweiten Hälfte des Stückes wird das Publikum schließlich zum Co-Akteur bzw. -Skripteur, wenn es eine imaginäre Biographie für einen auf die Bühne geholten Zuschauer entwerfen soll. Wie sich am Beispiel von Blank schon andeutet, spekulieren Soleimanpours Theatertexte auf die improvisatorischen Fähigkeiten der Performer*innen – in Bezug auf das fragmentarische Skript und im Hinblick auf die Unwägbarkeiten, die durch den Einbezug der Zuschauer*innen entstehen. Eine gelungene Aufführung von Soleimanpours Theatertexten ist deshalb keineswegs den Präskriptionen des Autors im Text zu verdanken, sondern den vielfältigen Relationen zwischen der Trias Text/Skript – Akteur*innen – Publikum.

Blank. Sept. 2017. Josie Lawrence mit zwei Zuschauer*innen; im Hintergrund die in Stichpunkten festgehaltene biographische Zukunft , © Friederike Oberkrome

Soleimanpours Ästhetik und Arbeitsweise lässt sich als ein dezidiert experimentelles Theater charakterisieren, in dem der Autor diese drei Elemente in unterschiedlichen Versuchsanordnungen arrangiert und sie damit im Laufe des Abends im buchstäblichen Sinne auf die Probe stellt. Diese Verhältnisse werden in Soleimanpours Texten nicht zuletzt auch auf das Nachleben der Aufführungen ausgedehnt, indem sie selbst Strategien der Dokumentation integrieren. So fordert Soleimanpour das Publikum in White Rabbit, Red Rabbit und in Blank an unterschiedlichen Stellen dazu auf, Fotos von den einzelnen Szenen zu machen und sie an ihn zu schicken. (So entstanden im Übrigen die Bilder dieses Artikels.) Dadurch habe sich in seinem Email-Postfach ein ganzes Archiv an Geschichten gesammelt, die das Publikum aus aller Welt von sich zu erzählen weiß. In diesem Zusammenhang spricht Soleimanpour von Blank als Geschichtenmaschine, die im Apparat des Theaters eine mechanische Erprobung des Lebens („mechanical rehearsal for life“) ermöglichen soll, was anhand der gemeinsamen Erfindung der Zuschauerbiographie exemplarisch wird.

Auch in seiner aktuellen Arbeit Nassim, die jüngst auf dem Edinburgh Fringe Festival ausgezeichnet wurde, spielt das Ausprobieren und (Er)lernen eine zentrale Rolle. Hier experimentiert Soleimanpour mit dem Thema Spracherwerb und Übersetzung: Der englisch schreibende Autor unternimmt den Versuch, dem/r Performer*in des Abends eine Geschichte in seiner wörtlich zu verstehenden Muttersprache Farsi beizubringen. Erneut werden auch Zuschauer*innen einbezogen, die in einem Memorierspiel kurze Sätze oder Satzfragmente in Farsi lernen sollen; wer sich seine Sätze nicht merken kann, wird mit dem Essen einer Tomate bestraft – was dem Text zufolge auch für Nassim als Kind galt, als er mit seiner Mutter anhand eines Bilderbuchs Farsi gelernt hat. Und so wird die Theaterbühne zum Sprachlabor, die Aufführung zu einem Sprachkurs in Farsi, den Soleimanpour zunächst per Videoübertragung von der Hinterbühne und schließlich leibhaftig auf der Bühne anleitet.

Nassim fungiert damit auch als selbstreflexiver Kommentar zu seinen vorangegangenen Stücken, insofern der Autor nicht mehr nur im Text vorkommt, sondern selbst auf der Bühne steht. Dabei spricht er allerdings nicht, sondern kommuniziert mit dem Performer Hari Dhillon immer noch als Autorfigur über das geschriebene Skript, das per Kamera auf eine Leinwand projiziert wird. Am Ende ist es dann nicht Nassim selbst, sondern der Performer Hari Dhillon, der einen Skype-Anruf bei Soleimanpours Mutter tätigt und ihr in Farsi diese Geschichte erzählt.

Nassim Plays – so lautet der Titel dieser Retrospektive, der zunächst ganz naheliegend auf die Stücke zu verweisen scheint, die Soleimanpour geschrieben hat. Doch grammatikalisch gesehen müsste es dann eigentlich heißen: Nassim’s Plays. Diese sprachliche Irritation auf dem Programmzettel ist alles andere als unbedacht, sondern weist gezielt auf Soleimanpours sprachliche Experimente auf der Theaterbühne hin. Der Titel fängt das virtuose Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache ein, das in der Anlage von Soleimanpours Stücken zu einer ambitionierten Herausforderung der theatralen Situation selbst tendiert. Wer bestimmt, was im Rahmen der Aufführung geschieht? Welche Macht wird dem Text bzw. der Autorstimme zuerkannt? Und wie verhalten sich Performer*innen und Publikum zu ihren vorgeschriebenen Rollen? Diese Fragen kehren auf unterschiedliche Weise in allen Texten von Soleimanpour wieder und werden immer neu perspektiviert und ausgehandelt – das wird in der Retrospektive anschaulich. Die intensive Auseinandersetzung mit Sprache und ihrem Vermögen, Verbindungen und Verständigung zwischen Menschen zu stiften, ist das wesentliche Thema, von dem Nassim Soleimanpours Theatertexte zeugen. Ihre affektive Intensität erhalten die Abende durch die Offenheit des Skripts, das unerwartete Wendungen, plötzliche Einfälle oder unverhoffte Eingriffe nicht nur zulässt, sondern vielmehr erfordert. Dadurch entstehen sehr persönliche, beinah intime Situationen zwischen den Anwesenden, die sich beispielsweise im Versuch, den textlichen (An-)Forderungen mit persönlichen Anekdoten beizukommen, selbst aufs Spiel setzen. Oder werden sie aufs Spiel gesetzt?

Dass die produzierte Intimität nicht ins Sentimentale oder Pathetische abrutscht, liegt an der Konzeption der Aufführungen als theatrales Experiment, das sich immer wieder selbst befragt und unter Spannung setzt. Nicht selten entstehen dadurch Überraschungseffekte, die die Geschichte(n) des Abends in eine verblüffend andere Richtung lenken. Ein Spiel mit offenem Ausgang also.

 

 

Literatur:

Nassim Soleimanpour: Two plays. Oberon Books 2017: London.