„Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?“ – Die Autorin Maxi Obexer im Gespräch über Engagement und dramatisches Schreiben

Die aktuellen Fluchtbewegungen nach Europa und nach Deutschland sowie die Auseinandersetzungen um die europäische Einreise- und Grenzpolitik sind in jüngster Zeit auf vielfältige Weise künstlerisch aufgegriffen und verhandelt worden. Sowohl an unmittelbaren ‚Hilfsmaßnahmen‘ von institutioneller Seite (wie etwa der Beherbergung von Geflüchteten in Theatern oder Spendensammlungen vor und nach der Aufführung) als auch an künstlerischen Projekten zu Flucht und Migration zeigt sich der Wunsch, Kunst und Politik in einen produktiven Austausch zu bringen. Die insbesondere im Feld des Theaters auffällige Neigung zur sozialen Intervention zielt darauf, sich nicht nur der eigenen gesellschaftlichen Funktion, sondern auch der damit verbundenen Privilegien bewusst zu werden und diese zu nutzen. Auch Literatur und bildende Kunst reagieren auf die Fluchtbewegungen und die Lage der Geflüchteten vor Ort – in eigenem Rhythmus und auf spezifische Weise. Am 19./20. Januar 2017 haben wir auf der Tagung „Engagement im Zeichen von Flucht und Migration. Aktuelle Tendenzen in Literatur und Theater“ Reaktionen auf die aktuelle Situation aus verschiedenen Künsten verglichen und durchaus kontrovers diskutiert. Organisiert wurde die Tagung von Matthias Warstat, Friederike Oberkrome und Hans Roth in Kooperation mit Jürgen Brokoff und Anne Fleig.

Mit dem Begriff des Engagements haben wir versucht, den aktuellen Auseinandersetzungen um Flucht und Migration im Theater, aber auch in der Literatur, eine historische Perspektive zu geben. Zu betonen ist nämlich, dass sich Künstlerinnen und Künstler immer wieder durch konkrete gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen zu kritischen Stellungnahmen oder auch Eingriffen veranlasst gesehen haben. Der Begriff des Engagements spricht neben ökonomischen oder institutionellen Aspekten vor allem die eigene affektive Beteiligung an, die auch als Antwort auf bestimmte Ereignisse verstanden werden kann. Daher ist es nicht unerheblich zu fragen, wer spricht und wer durch die Literatur zum Sprechen gebracht wird. In diesem Zusammenhang meint Sprechen zweierlei: Jemanden eine Stimme zu geben, ermöglicht auf der einen Seite Artikulation und Solidarität, auf der anderen Seite können dadurch aber bestehende Hierarchien zwischen Künstler*innen, Migrant*innen oder Aktivist*innen auch befestigt werden. Da sich die Frage nach den Bedingungen der jeweiligen Artikulation nicht von der der Repräsentation lösen lässt, ist sie unmittelbar politisch.

Den Auftakt der Tagung bildete ein Gespräch mit der Autorin Maxi Obexer, die sich in ihren Arbeiten auf vielfache Weise mit dem Sprechen auseinandersetzt. Im vergangenen Jahr hat sie für ihr Hörspiel „Illegale Helfer“ (2015) den Robert Geisendörfer Preis für herausragende publizistische Leistungen erhalten. Der Text basiert auf zahlreichen Gesprächen und hat dadurch dokumentarischen Charakter. Eine Bühnenfassung hatte letzten Sommer am Hans Otto Theater in Potsdam Premiere, wo aktuell ihr Stück „Gehen und Bleiben“ zu sehen ist, das sich ebenfalls auf der Basis von Gesprächen mit Flucht und Heimat befasst.

Die Verbindungen zwischen Literatur und Theater stehen im Zentrum der Arbeiten der seit den 90er Jahren in Berlin lebenden Autorin, die am Theater vor allem die Präsenz der gesprochenen Sprache und die Kommunikation mit dem Publikum schätzt. Neben zahlreichen Theaterstücken, die an verschiedenen Häusern in der Bundesrepublik, in Österreich, der Schweiz und Italien uraufgeführt wurden, hat Maxi Obexer Essays, Hörspiele, Erzählungen und Libretti geschrieben – ihr Interesse am Szenischen kommt dabei überall zum Tragen. Dies gilt auch für ihren bisher einzigen Roman „Wenn gefährliche Hunde lachen“, der 2011 erschienen ist. Das Thema Flucht zieht sich durch ihr gesamtes Werk – angefangen bei dem Stück „Das Geisterschiff“ (2005), das auf eine Schiffskatastrophe im Mittelmeer von 1996 zurück geht, ihren Roman bis hin zu aktuellen Theatertexten, aber auch künstlerischen Projekten mit Geflüchteten.

Im Folgenden dokumentieren wir einen Auszug aus dem Gespräch vom 19. Januar 2017.

Anne Fleig: Du hast für das Hörspiel „Illegale Helfer“ im vergangenen Herbst den Robert Geisendorfer Preis erhalten. In der Laudatio wird betont, dass das Stück nicht Mitleid fordert, sondern zum Nachdenken über die Grenzen der Menschlichkeit auffordert. Dieses Nachdenken leistet vor allem der Text selbst durch deine sehr nüchterne und zugleich packende und präzise Verknappung von ganz vielen Gesprächen, die du geführt hast und die dem Text vorausgegangen sind. Wie hast du diese Menschen gefunden? Hast du gezielt nach illegalen Helfern gesucht oder gab eine zufällige persönliche Begegnung den Anstoß dazu?

Maxi Obexer: Es geht tatsächlich zurück auf meine Arbeit am „Geisterschiff, also auf Recherchen in Sizilien zu einer ganz anderen Geschichte, nämlich einem untergegangenen Schiff mit 283 Toten, das von der italienischen Regierung unter Berlusconi geheim gehalten worden war. Die Hauptangeklagten waren weltweit aber die Fischer. Im Zuge dieser Recherche erfuhr ich von den Fischern, dass sie die Leichenteile, die sie in ihren Netzen fanden, den Behörden vorgelegt hatten, damit aber einfach nach Hause geschickt wurden. Das brachte mich auf eine weitere Fährte und eigentlich haben mich die Fischer selber dort hingebracht, nämlich auf Fischer, die ins Gefängnis kamen, und deren Fischerboote beschlagnahmt worden waren, weil sie Geflüchtete in Seenot gerettet haben.

Mit der Hilfe, die sie gaben, und die natürlich auch das Internationale Seerecht vorschreibt, haben sie ihre Lizenz und damit Existenz riskiert. Bemerkenswert fand ich auch, dass all die, die geholfen haben, mir gesagt haben, sie würden es wieder tun. Obwohl sie bestraft wurden. Während insgesamt die Gesetzeslage dazu geführt hat, dass Fischer in der Regel einen weiten Bogen um Flüchtlingsboote machten. So kam ich auf den Hauptkonflikt, dass es nämlich internationale Rechte wie Seerechtsgebote, Menschenrechtsgebote, Arbeitsrechte gibt, die durch die Verschärfung der nationalen Gesetzgebung missachtet werden. Dies führt zu Situationen, wo Menschen durch das Gesetz veranlasst werden, unmenschlich zu handeln, ihre eigenen Wertvorstellungen über Bord zu werfen und sogar gegen internationales Recht zu verstoßen.

Durch verschiedene Inszenierungen von „Das Geisterschiff“ lernte ich Leute aus dem Publikum kennen, die Ähnliches taten, nämlich zu helfen und nicht dort damit aufzuhören, wo das Gesetz die Hilfe verbietet. Sondern genau dann für Menschen da zu sein, wenn ihnen aufgrund des fehlenden rechtlichen Status‘ alles verweigert wird.

Anne Fleig: Der Titel des Textes weist deutlich auf den Konflikt zwischen Hilfe und Gesetzesbruch hin. An dem Hörspiel beeindruckt, dass die meisten Sprecher eben auch wirklich diese Menschen sind und durch ihre eigene Stimme eintreten für ihr Handeln. Daneben gibt es eine Stimme, die eine fiktive Stimme ist. Sie ist so etwas wie eine Reflexionsfigur oder eine chorische Figur, weil sie auch eine Figur ist, die gelegentlich Bedenken anmeldet, Fragen stellt. Ich hatte den Eindruck, dass es dir wichtig ist, dass es hier diese verschiedenen Formen des Sprechens gibt?

Maxi Obexer: Bei den anderen war es klar, dass es eigentlich nur dokumentarisch sein kann. Das hat verschiedene Gründe, aber es hat auch den Grund, dass der Konflikt nicht zuerst in ihnen selbst liegt, sondern in dieser Gesetzeslage. Ich suchte nicht nach der Dialektik innerhalb dieser Protagonisten, und es gibt da nichts, was literarisch zugespitzt, geformt, oder ironisiert werden musste, etwa wie beim „Geisterschiff“. Bei den illegalen Helfern ging es mir um etwas anderes und es war klar, dass sich dafür die dokumentarische Form eignen würde. Ich wollte gleichzeitig eine fiktive Figur einführen, die theatermäßig gesprochen eine Brücke schafft zum Publikum, also zu einem Publikum, wie ich es bin. Es ist ein Mensch, der hadert, der zögert, der noch nicht dort ist, wo die illegalen Helfer bereits sind. Der sich also beständig fragt „Was kann ich tun?“, der noch nicht weiß, was er denn zu tun bereit wäre, und der damit Schritt für Schritt weitergeht und langsam eindringt in diese Welt. Auch er vollzieht eine Handlung, aber es ist eine andere als die, die sich bei den illegalen Helfern zeigt. Diese fiktive Figur ist wichtig, auch um zu verhindern, dass die Illegalen Helfer als Helden ausgestellt werden und wir nur draufschauen können.

Anne Fleig: Die verschiedenen Stimmen machen das Hörspiel so interessant. Die Stimmen selber, also auch in ihrer stimmlichen Qualität, sind so etwas wie Zeugen für die Geschichte. Man könnte insofern vielleicht auch sagen, dass die Stimmen selber Zeugnis ablegen. Wäre das auch eine Möglichkeit, um das Dokumentarische zu bestimmen, dass es auch um dieses Zeugnis geht oder die Zeugenschaft?

Maxi Obexer: Den Begriff des Zeugen würde ich gegenwärtig woanders unterbringen. Nämlich bei der Frage, wie wir Autorinnen und Autoren damit umgehen, dass wir auf sehr viele Zeugen angewiesen sind und in Realitäten nicht vordringen können oder wo es zumindest schwierig ist. Wie und in welchen Formen wir über Welten schreiben können, von denen uns andere berichten. Welche Infragestellung des Autors oder der Autorschaft ist damit verbunden und wie können wir das durchbrechen, wie können wir damit umgehen? Den Zeugen habe ich bisher dort verortet, wo er selber nicht in dem Geschehen ist. Während diese Menschen sich vor allem darin auszeichnen, dass das, was sie sagen, aus purer Handlung besteht. Sie reden über Dinge, die sie tun, sie handeln.

Anne Fleig: Das kann ich gut verstehen. Ich hatte diesen Begriff erwogen, weil es eigentlich der zentrale Konflikt ist, dass im Hintergrund immer dieses Rechtsproblem lauert. Darüber könnten wir vielleicht auch nochmal sprechen, dass es insofern auch darum geht, dass diese Stimmen wirklich um die richtige Auslegung, wenn es die denn gibt, des Rechts ringen. Dass der Mut, den sie brauchen, oder auch die Risikobereitschaft vor allem damit zu tun hat. Du hast es auch schon angedeutet, dass hier die Menschenrechte und die Gesetze der Nationalstaaten bzw. die Gesetze der europäischen Union in einem fundamentalen Konflikt stehen. Insofern beziehen sich unterschiedliche Rechtssysteme auf konfligierende Weise aufeinander und das bezeugen sie eben auch. Der ganze Text bezeugt diesen Konflikt, und das hat mich auf diese Zeugengeschichte gebracht.

Maxi Obexer: Ja, das ist natürlich interessant, weil es auch eine Art von Verhandlung ist, etwas, das das Theater in seiner genuinsten Form anbietet. Wir Autorinnen und Autoren, wir verschärfen oder zeigen die Konflikte auf. Also der Hauptkonflikt ist wirklich dieser zwischen internationaler Gesetzgebung, Arbeitsrechte, Seerechte, Rechte, die über Jahrhunderte hinweg durchgesetzt wurden. Die jetzt durch die Verschärfung der einzelnen Länder oder auch der EU eben ständig bekämpft werden und im täglichen Vollzug missachtet werden. Insofern sind diese Leute Täter und Zeugen gleichzeitig.

Anne Fleig: Du hast jetzt als Autorin gesprochen. Was können aus deiner Sicht die Theater dazu beitragen, diesen doch erheblichen Konflikt zu bearbeiten?

Maxi Obexer: Ich glaube, was Kunst wirklich vermag, ist andere Realitäten aufzuzeigen. Was wir als Autorinnen können, ist auch mit den Mitteln der Sprache zu verführen, andere Wirklichkeiten zu sehen, andere Menschen zu erkennen und eine neue Wahrnehmung zu schaffen. Die Offenheit herzustellen, um dort hineinzugelangen, wo wir sonst nicht so leicht hinkämen. Auch mit Hilfe der Empathie. Und gleichzeitig ist es auch immer noch Kunst, deren Wirkung nur über das eigene freie Denken und Empfinden zustande kommt. Man macht ja nicht Kunst, um etwas zu erreichen, so wie es Pateiprogramme versuchen, sondern alles, was hergestellt wird, ist wirklich primär und direkt und soll Ausdruck sein, über den sich die Zuschauer*innen selbst ein Bild machen sollen. Ich sehe zurzeit die Theater in einer ganz besonderen Herausforderung und es ist auch jetzt deren Chance, dass sie ihre Relevanz unter Beweis stellen, indem sie diese gesellschaftlichen Transformationen künstlerisch, politisch, ästhetisch auf- und ernst nehmen.