#MachtDieHandykameraDirAngst?

Ein Gespräch zwischen Irene Chabr und Kerstin Schankweiler über Selfie-Proteste in den sozialen Medien

Der folgende Textbeitrag ist die gekürzte Version eines Gesprächs zwischen der Kunsthistorikerin Kerstin Schankweiler und der Künstlerin Irene Chabr, das 2016 im Rahmen eines Kooperationsprojekts zu „Selfie-Protesten“ an der FU Berlin stattfand und in voller Länge im Sammelband „Handeln mit Bildern. Bildpraxen des Politischen in historischen und globalen Kulturen“ (hg. v. Christiane Kruse u. Birgit Mersmann) 2018 erscheinen wird.

First Lady Michelle Obama präsentiert ein Schild mit dem Hashtag #BringBackOurGirls zur Unterstützung der von Boko Haram entführten nigerianischen Schülerinnen. Veröffentlicht am 7. Mai 2014 auf dem offiziellen FLOTUS-Twitter-Account. Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Michelle-obama-bringbackourgirls.jpg

First Lady Michelle Obama präsentiert ein Schild mit dem Hashtag #BringBackOurGirls zur Unterstützung der von Boko Haram entführten nigerianischen Schülerinnen. Veröffentlicht am 7. Mai 2014 auf dem offiziellen FLOTUS-Twitter-Account. Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Michelle-obama-bringbackourgirls.jpg

 

Kerstin Schankweiler: Selfie-Proteste sind ein relativ neues Phänomen von Hashtag-Aktivismus und sind eine politische und ästhetische Praxis in den sozialen Netzwerken. Eines der bekanntesten Protest-Selfies, das auf Twitter die meisten „retweets“ erhielt, war das Selfie von Michelle Obama (s. Abb.), mit dem sie am 7. Mai 2014 an der Kampagne #BringBackOurGirls teilnahm. Diese richtete sich gegen die Entführung von 273 Schulmädchen durch Boko Haram. Mit 3,3 Millionen Tweets innerhalb der ersten Wochen der Kampagne handelt es sich bei diesem Hashtag vermutlich um eine der am weitesten verbreiteten Online-Protestaktionen überhaupt.

Irene Chabr: Die Art der Inszenierung ist bei dieser Kampagne ganz typisch für Selfie-Proteste: Ein Blatt Papier, das mit einem Slogan oder Hashtag versehen wurde, wird von den Teilnehmenden in die Kamera gehalten. Der eigene Körper wird als Protestinstrument inszeniert und in Form des Selfies eingesetzt. Das Besondere an dem Selfie-Protest #BringBackOurGirls war allerdings die große Anzahl an US-amerikanischen Prominenten, die sich beteiligten. Neben Michelle Obama engagierten sich diverse Pop-Stars, Moderator*innen, Hollywood-Schauspieler*innen. Dies führte natürlich zu einer besonderen medialen Aufmerksamkeit – weit über die Sozialen Medien hinaus. Schilder mit dem Slogan erschienen auf dem roten Teppich, in TV-Studios, die klassischen Print-Medien berichteten darüber.

KS: Richtig, #BringBackOurGirls war als globale Kampagne neben Nigeria vor allem in den USA und Großbritannien sehr erfolgreich. Das war sicherlich auch deshalb so, weil nicht nur das Thema Frauenrechte und Konzepte von Mutterschaft mit verhandelt wurden – denn es ging ja um eine Soldarisierung mit den Müttern der entführten Mädchen –, sondern weil dieser Protest gegen Boko Haram auch einer Logik des ‚War on Terror‘ folgte und zudem diffuse Ängste in der Gesellschaft nährte.

IC: Die Aufmerksamkeit, die #BringBackOurGirls in den USA erreichte, wurde auch sehr kontrovers diskutiert. Es wurde etwa gesagt, dass Amerika die Kampagne „gekapert“ und sie dadurch eine Eigendynamik entwickelt habe, die mit den Anliegen der Initiator*innen kaum noch etwas zu tun habe. Gleichzeitig wurden andere problematische Aspekte wie die militärische Präsenz und Aktivität der USA in Nigeria überdeckt. So hat beispielsweise die nigerianisch-amerikanische Journalistin Jumoke Balogun in einem Artikel des The Guardian argumentiert.

KS: Wie das für andere öffentliche Bilder auch der Fall ist, werden Online-Kampagnen wie diese vielfältig angeeignet und instrumentalisiert. Aber es ist mir wichtig zu betonen, dass Selfie-Proteste eigentlich als politische Graswurzel-Aktionen konzipiert sind, als Form des politischen Protestes, an dem theoretisch jede*r teilnehmen kann – ohne das idealisieren oder romantisieren zu wollen. Sie sind ein Phänomen der politisierten populären Kultur. Und sie sind sehr unterschiedlich, in Bezug auf ihren Inhalt, ihre Symbole, ihre Verbreitung, die Dauer ihrer Aktivität. Aber alle Selfie-Proteste richten sich gegen problematische gesellschaftliche Verhältnisse oder Ereignisse und machen sich die affektiven Dynamiken von Bildern im Social Web zunutze. #WeAreThe99% gilt als erster Selfie-Protest. Er war Teil der Occupy-Bewegung nach der Finanzkrise und kritisierte die als ungerecht wahrgenommene Verteilung von Vermögen in den USA. Das Genre ist mittlerweile weit verbreitet, die Anzahl der Kampagnen nicht mehr überschaubar.

IC: Solche Kampagnen basieren natürlich auf einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ – ein Begriff, den Georg Franck prägte und der im Zusammenhang mit Social Media immer wieder diskutiert wird. Es braucht die vielen Retweets, die diversen Reinszenierungen und nicht zuletzt ein breiteres mediales Echo, damit die Proteste wahrgenommen werden. Die Frage der Aufmerksamkeit wird wiederum oftmals in Bezug – und auch in Kontrast ­– zur politischen Wirksamkeit solcher Kampagnen gestellt.

KS: Obwohl ich auch wahrnehme, dass die Wirksamkeit des Hashtag-Aktivismus in den Medien heiß debattiert wird, muss ich sagen, dass mich in meiner Forschung weniger interessiert, welche Auswirkungen diese Kampagnen realpolitisch in der analogen Welt haben. Die Selfie-Proteste interessieren mich als Kunsthistorikerin in erster Linie als Bildphänomen, das ich als Praxis und Politik der Affizierung beschreibe. Selfie-Proteste sind ein eigenes Genre, eine Form von Demonstrationen, die sich von der Straße ins Internet verlagert haben. Die Protestierenden stehen sich nicht mehr analog und face-to-face gegenüber, sondern ihre digitalen Porträts und Slogans formieren sich in den sozialen Netzwerken zu einem virtuellen Protest. Man könnte sagen, dass diese Bilder zu Agenten des Protestes werden. Sie sind zwar nicht unabhängig von ihren Produzent*innen, haben sich aber doch von ihnen losgelöst. Es sind dann im Grunde die Bilder, die demonstrieren.

IC: Grundsätzlich brauchen die Kampagnen die Straße, beziehungsweise den ursprünglich als öffentlich bezeichneten Raum, nicht mehr – sie funktionieren für sich in den digitalen Netzwerken. Trotzdem sind das durchlässige Räume, die Slogans und Bild-Inszenierungen wandern durchaus auch zwischen dem Netz und der Straße hin und her. Zudem werden sie von den ‚alten‘ Medien wie Fernsehen oder Zeitung aufgegriffen und so nochmals weiterverbreitet. Diese Verbreitung und weltweite Vernetzung suggeriert uns eine globale Protest-Community – insbesondere bei solchen Kampagnen wie #BringBackOurGirls, bei denen ein großer Teil der Teilnehmenden aus Solidarität und nicht aus eigener Betroffenheit mitmacht.

KS: Die Frage, wer da eigentlich angesprochen ist und wer teilnimmt, ist sehr interessant. Die Kampagnen richten sich meistens an eine ganz bestimmte Gruppe von Personen. Es geht immer um ein ‚Wir‘ und ein ‚Sie‘. Da wird eine Gemeinschaft konstituiert, die sich ganz klar abgrenzt von den ‚Anderen’, zu denen man nicht gehört. Bei #IAmALiberianNotAVirus zum Beispiel können nur Personen aus Liberia oder im Exil lebende Liberianer*innen teilnehmen. Das war eine Kampagne, die sich gegen die Stigmatisierung von Menschen im Zuge der Ebola-Krise richtete. Es geht ganz stark um die eigene Identität und die Frage nach Zugehörigkeit. Oder nehmen wie das Beispiel #TraditionallySubmissive, ein Protest muslimischer Frauen gegen die Äußerung des damaligen britischen Premierministers David Cameron, das Erlernen der englischen Sprache könne der „traditionellen Unterwürfigkeit muslimischer Frauen“ Abhilfe verschaffen. Das spricht auch eine ganz bestimmte Community an. In diesem Fall nur Musliminnen, die dann auch sehr individuell und gemäß ihrer biografischen Prägungen reagierten. #BringBackOurGirls ist angesichts dieser weiteren Beispiele eigentlich eine ziemliche Ausnahme. Bei dieser Kampagne hatte man den Eindruck, sie beschwöre fast schon eine Art affektive Weltgemeinschaft: Die Welt gegen Boko Haram und jede*r kann sich mit den Protestierenden solidarisieren.

IC: Wobei man diesen Aspekt des Sich-Solidarisierens ja auch bei anderen Kampagnen, beispielsweise bei #JeSuisCharlie finden kann. Wichtig erscheint mir, dass die vermeintlich einheitliche Protestsprache des Selfies die ganz unterschiedlichen Ausgangssituationen und Motivationen verschleiert, aus denen solche Bilder entstehen. Aus welchem Umfeld heraus wird ein Protest-Selfie gepostet, mit welchen Möglichkeiten und Privilegien? Das ist ein Thema, das mich in meiner künstlerisch-forschenden Auseinandersetzung mit diesen Bildern sehr umtreibt. Die syrische Journalistin Zaina Erhaim etwa machte mit ihrem Protest-Selfie und einem Blog-Post deutlich, welche veränderte Bedeutung der Slogan Je Suis Charlie, der nach der Attacke auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo zirkulierte, für sie im kriegsversehrten Aleppo annimmt. Und gerade bei #BringBackOurGirls finden wir ja diese Diskrepanz zwischen den nigerianischen Aktivist*innen und den US-amerikanischen VIPs, die mit den scheinbar gleichen medialen Mitteln und Selfie-Posen kommunizieren, dies aber aus einer anderen Situation heraus und mit einer ganz anderen medialen Reichweite tun. Entsprechend viele spöttische Reaktionen und Parodien folgten dann auf Obamas Selfie, ja, es wurde schließlich sogar zum Internet-Mem und rief zahlreiche Gegen-Selfies auf den Plan. Es entstand sozusagen ein Selfie-Protest gegen den Selfie-Protest.

Irene Chabr ist Künstlerin und arbeitet als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. Ihre Forschung befasst sich mit Bildwanderungen in den sozialen Medien und zirkulierenden Gesten des Zeigens.

 

Danksagung: Wir danken dem Dahlem Humanities Center an der Freien Universität Berlin für die Aufnahme im Dahlem Junior Host Program 2016 und die Förderung des Kooperationsprojektes, in dessen Rahmen dieses Interview entstanden ist.

Weiterführende Literatur: Schankweiler, Kerstin (2016): Selfie-Proteste. Affektzeugenschaften und Bildökonomien in den Social Media. Working Paper SFB 1171 Affective Societies 05/16.