Schlägt man Terézia Moras Roman Das Ungeheuer (2013) auf, so fällt sofort die ungewöhnliche grafische Gestaltung des Buches auf: ein horizontaler Strich teilt jede Seite in zwei Hälften. Während der obere Text, eine Art Reiseroman, aus der Perspektive von Darius Kopp erzählt wird, enthält die untere Seite die Tagebuchdateien seiner durch Suizid umgekommenen Frau Flora. Die Suche nach einem Platz für ihre Asche treibt die Handlung voran. Laut Mora handelt es sich bei diesen Aufzeichnungen um einen „geheimen Text“, den sie deswegen auch nie oder nur selten öffentlich vorträgt.
In ihrer gleichnamigen Poetikvorlesung widmete sich die 1971 in Sopron (Ungarn) geborene, seit 1990 in Berlin lebende Autorin und Übersetzerin der teils manifesten, teils verborgenen Mehrsprachigkeit und intertextuellen Polyphonie ihrer Erzählungen und Romane.
Unter dem Titel Der geheime Text stand schließlich auch der Eröffnungsabend der Tagung Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen (Gegenwarts-)Literatur, die vom 2. bis 4. November 2017 an der Freien Universität Berlin stattfand und vom Teilprojekt A03 Geteilte Gefühle des Sonderforschungsbereichs Affective Societies veranstaltet wurde.
Im Gespräch mit der Projektleiterin und Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig gab Terézia Mora anekdotenreiche Einblicke in ihre mehrsprachige Schreibpraxis. Was bedeutet es, eine Sprache zu beobachten oder zu ’spüren‘ (vgl. Mora 2016, 31)? Welche Rolle spielen Klang und Hören? Inwiefern lässt sich Sprache als affektives „Trägermaterial“ (Mora 2013, 174) begreifen? Fragen wie diese bildeten den Ausgangspunkt der Veranstaltung, in deren Verlauf die Autorin nicht nur die Produktivität der Lücke im Prozess ihres Schreibens herausstellte, sondern auch das ein oder andere Geheimnis lüftete: Wer sich schon immer gefragt hat, woher eigentlich „das Ungeheuer“ kommt, erhielt verschiedene Deutungsangebote. Für das Publikum war dieser Abend nicht zuletzt deshalb ein besonderes Ereignis, weil Mora diesmal eine Ausnahme machte: Sie las aus dem „geheimen Text“ ihrer Protagonistin Flora.
Im Folgenden einige Auszüge aus dem Gespräch:
Anne Fleig: Klingt die ungarische Sprache beim deutschen Schreiben immer noch mit?
Terézia Mora: Durchaus an manchen Stellen, also dort, wo das Deutsche sehr dünn wird.
Anne Fleig: Was heißt das?
Terézia Mora: Wo mein Deutsch dünn wird, kommt das Ungarische herein. Mitunter tut sich beim Schreiben eine Lücke im Satz auf, weil mir nur das ungarische Wort einfällt. Warum ist das eine Lücke? Weil an dieser Stelle das Deutsche fadenscheinig ist oder das Ungarische sehr stark ist. Warum ist es stark, kommt dann die Frage. Warum kommt an dieser Stelle das ungarische Wort herein? Überprüfe: Inwiefern unterscheidet es sich von dem nächstmöglichen deutschen Wort? Kannst du das dann nehmen, ja oder nein? Du musst natürlich ein deutsches Wort nehmen, aber welches nimmst du? Das Ungarische ist im Grunde genommen eine Störung, aber auch eine Hilfe, denn offensichtlich befindest du dich im Satz an einem Punkt, wo für dich eine Frage entsteht. Du kannst sie nicht spontan beantworten, du musst darüber nachdenken. Also mache ich das. Das Ungarische ist auch jedes Mal präsent, wenn es inhaltlich evoziert wird, wenn zum Beispiel die Figur Ungarin ist oder die Behauptung aufgestellt wird, sie würde auf Ungarisch scheiben.
Mein Roman Das Ungeheuer enthält beispielsweise zwei Texte: Einmal den Text eines trauernde Ehemannes, der Deutscher ist, und einmal die nachgelassenen Aufzeichnungen seiner verstorbenen ungarischen Ehefrau Flora, die diese Aufzeichnungen auf Ungarisch verfasst hat. Wir wissen nicht genau, weshalb, aber wir können es uns denken: Weil das ihre geheime Sprache ist. Für mich als Autorin stellte sich daraufhin die Frage: In welcher Sprache schreibst du jetzt Floras Texte? Es wird am Ende zwar ein deutschsprachiges Buch sein, aber es wäre schlau, die Texte zuerst auf Ungarisch zu schreiben. Das ist ein sehr spannender Moment, weil ich ein paar Monate vorher die Erfahrung gemacht habe, dass ich immer noch nicht auf Ungarisch schreiben kann.
Das hat mich dann dazu veranlasst, einen halben Roman auf Ungarisch zu schreiben. Ich wusste, dass Das Ungeheuer schwierig werden würde, aber ich wollte, dass sich die beiden Texte radikal voneinander unterscheiden. Floras Text sollte tatsächlich etwas komplett anderes sein und dazu habe ich meine nicht mehr so gut beherrschte Muttersprache benutzt. Es kostete mich Blut, Schweiß und Tränen. Häufig fing ich an, auf Ungarisch zu schreiben, merkte jedoch: Das ist nicht Ungarisch, du übersetzt gerade! Ich habe das Schreiben in solchen Momenten dann immer radikal unterbrochen. Es war furchtbar! Schließlich habe ich mich aber mit Floras Text durchgequält und das hat tatsächlich dazu geführt, dass der Text weniger literarisch wurde oder besser gesagt, dass der Text privater und inoffizieller wirkt. Als ich damit fertig war, kam die nächste Herausforderung: Der Text sollte einsprachig deutsch sein und das heißt, dass der ungarische Text ins Deutsche gebracht werden musste, darauf achtend, dass ich ihn nicht verbessere. Das war ein wahnsinnig spannender Prozess. Das Ungeheuer ist das Buch, in dem ich das Ungarische ganz bewusst und ganz massiv eingesetzt habe, um einen speziellen deutschen Text zu erhalten.
Anne Fleig: Ich habe mich gefragt, was eigentlich „das Ungeheuer“ ist. Das Ungeheuer steht für die voranschreitende Depression der Protagonistin Flora. Aber könnte man auch sagen, dass der Strich das Ungeheuer ist? Dieser Strich, der anzeigt, dass Flora keinen Platz im Haupttext des Lebens hat?
Terézia Mora: Ich habe mehrere Vermutungen oder Gedanken dazu, was „das Ungeheuer“ ist. Die möchte ich aber nicht sagen, denn das wäre ja blöd. (Publikum lacht.)
Anne Fleig: Die Interpretation mit dem Strich würden Sie aber nicht von sich weisen, oder?
Terézia Mora: Nein, das würde ich nicht von mir weisen. Hauptsächlich kommt „das Ungeheuer“ aber aus einem Gedicht von Ágnes Nemes Nagy, einer großartigen, bereits verstorbenen ungarischen Dichterin. Außer mir weiß das aber niemand, bis jetzt zumindest. (Publikum lacht.)
Anne Fleig: Ich habe mal die Wortbedeutung von „Ungeheuer“ nachgeschlagen und dabei herausgefunden, dass das, was nicht geheuer ist, auch das ist, was nicht zum Hauswesen gehört, also kein Zuhause hat.
Terézia Mora: Oh! Tatsächlich! Das erinnert mich an „das Unheimliche“.
Anne Fleig: Genau! Aber das Wort „geheuer“ ist heute nicht mehr üblich.
Terézia Mora: Ja, das erkennen wir nicht so gut wie das „Heim“ im „Unheimlichen“. Oh, sehen Sie, wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich den Text auch „Der heimliche Text“ nennen können. Jetzt ist es Der geheime Text.
Literatur:
Mora, Terézia: Das Ungeheuer. Luchterhand 2013: München.
Dies.: Der geheime Text. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung. Sonderzahl 2016: Wien.