Brigitte Bargetz hat sich in ihrem Buch Ambivalenzen des Alltags vorgenommen, das tägliche Leben von Menschen als Ausgangspunkt für ein Denken über das Politische zu machen. Für diesen Blog stellt sich dabei die Frage: geht es hier auch um die langersehnte Übersetzung der Affect Studies in die politische Theorie, wie jüngst bereits hier und da versucht worden ist? (Für einen sehr erhellenden Überblick siehe den Review-Essay von Jan Slaby „Affekt und Politik“, der demnächst in der Philosophischen Rundschau erscheinen wird.) Man könnte es deshalb vermuten, weil Brigitte Bargetz eine der profilierten jungen deutschsprachigen Politiktheoretikerinnen ist, die aus feministischer Perspektive an der Einbeziehung von Affekten und Emotionen in die politische Theorie arbeitet.
Dass sie nun ein Buch über den Alltag vorlegt, verwundert da nur beim ersten Hinsehen. Aus der Perspektive meines eigenen Faches, der Sozial- und Kulturanthropologie, muss der Zusammenhang von Emotionen und Affekte mit der Perspektive auf den Alltag kaum erklärt werden. Zunächst ist der empirische Alltag regelmäßig Gegenstand des ethnographischen Blicks – die Anthropologie die empirische Alltagswissenschaft schlechthin, wie Bargetz nebenbei selbst zu Beginn ihres Buches anmerkt (S. 21). Als Gründungsdokument des turn to affect in der Anthropologie gilt (ob zu Recht oder zu Unrecht müsste in einer anderen Buchbesprechung geklärt werden) Kathleen Stewarts Ordinary Affects (2007). In diesem Buch bricht Stewart mit üblichen narrativen ethnographischen Schreibkonventionen und wählt einen episodisch-poetischen Stil, um das Affizieren und Affiziertwerden sie umgebender Alltagsphänomene zu beschreiben. Die Stichworte everyday oder ordinary sind damit eigentlich schon zur Chiffre eines affekttheoretischen Blicks auf die Welt geworden. So läge es auch nahe, von Bargetz’ Buch eine politische Theorie des Affekts zu erwarten.
Und zu einem gewissen Grad erfüllt ihr Buch diese Erwartung, wenn auch anders, als man denken könnte. Brigitte Bargetz hat sich dazu entschieden, ein Buch zu schreiben, das nicht so ganz in den sozial- und kulturwissenschaftlichen trend to affect passen mag. Das liegt auch daran, dass sie sich entschlossen hat, ihre politische Theorie des Alltags aus den Alltagstheorien dreier marxistisch orientierter Autor*innen zu entwickeln: dem französischen Soziologen Henri Lefebvre, der ungarischen Philosophin Agnes Heller und dem US-amerikanisch-britischen Cultural-Studies-Theoretiker Lawrence Grossberg.
Brigitte Bargetz stellt zu Beginn ihres Buches (Kapitel 1) zwei Defizite in der politischen Theorie fest, die sie adressieren möchte. Zunächst ist es aus ihrer Sicht bislang nicht zu einer Einbeziehung des Alltags in die politische Theorie gekommen, wobei sie die theoretische Beschäftigung mit dem Alltag auch als eine politische Intervention begreift. Sie will das Politische auch und vor allem jenseits des Staates suchen und sie will dabei politische Mikropraktiken ernstnehmen (zwei Anliegen übrigens, die sie mit der politischen Anthropologie teilt, dem Zweig der Sozial- und Kulturanthropologie, die sich mit dem Politischen beschäftigt).
Weiterhin sieht Bargetz ihren Ansatz als Beitrag zu denjenigen politischen Theorien, die auf die analytische Trennung zwischen der Politik und dem Politischen Wert legen – eine theoretische Formation, die im deutschsprachigen Raum oft „politische Differenz“ (Marchart 2005) genannt wird (Kapitel 2). Diese theoretische Richtung beruft sich auf die politische Theorien Carl Schmitts und Hannah Arendts (unter Auslassung ihrer sehr ungleichen politischen Ausrichtungen), und hat sich über die Rezeption der französischen Tradition (Jacques Rancière, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau usw.) als eine der wichtigsten kontemporären Strömungen der politischen Theorie etabliert. Bargetz stellt fest, dass feministische Aspekte, insbesondere der dekonstruktive Blick auf das „liberale Trennungsdispositiv“ (ein Begriff von Birgit Sauer), in der Theoriedebatte der politischen Differenz zu kurz kommen. Ihrer Analyse nach liegt dem liberalen Trennungsdispositiv die Behauptung einer asymmetrischen Dichotomie zugrunde: „Demzufolge haben Öffentlichkeit und – daran anschließend – Politik, Rationalität, Objektivität, Universalität, Produktionsarbeit, Geist, Männlichkeit, Kultur, Technik und Moderne den Vorrang gegenüber Privatheit, Intuition, Gefühl, Subjektivität, Partikularität, Reproduktionsarbeit, Körper, Weiblichkeit und Tradition“ (S. 75 f.).
Hier wird bereits erkennbar, worin die Bedeutung ihres Buches für das Projekt der Einbeziehung von Affekten und Emotionen in die politische Theorie liegt. Aus feministischer Perspektive ist eine Theoretisierung von Gefühlen als Teil von Politik geradezu ein Frontalangriff auf das liberale Trennungsdispositiv – mithin ein Teilprojekt des grundsätzlichen feministischen Anspruchs, das Private müsse politisch werden. Dabei will Bargetz die Trennung zwischen privat und öffentlich nicht einfach aufheben und beide Sphären totalitär vereinigen. Sie strebt an, in einen Analyseprozess darüber einzutreten, wann und unter welchen Bedingungen welche Dinge zum Privaten bzw. zum Öffentlichen gemacht werden.
Das Kernstück ihrer Arbeit bildet Bargetz’ Lektüre der Alltagstheorien Henri Lefebvres, Agnes Hellers und Lawrence Grossbergs (Kapitel 3). Henri Lefebvres Arbeiten versteht Bargetz dabei als eine Alltagstheorie der Ambivalenz. Lefebvre sieht den Alltag nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Banalität, als politisch relevant an. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse würden im Alltag erst erlebbar und wirksam. Dabei biete der Alltag sowohl Raum für Entmächtigung (Lefebvre spricht von Autorepression im Neokapitalismus) als auch Raum für Ermächtigung (Lefebvre spricht von einer Revolution des Alltags). Diese Ambivalenz des Alltags durchzieht Bargetz’ gesamte politische Theorie des Alltags.
Agnes Hellers Arbeiten liest Bargetz als eine Theorie der Subjekte. Heller führt die Unterscheidung zweier Subjektmodi des Alltags ein, die unterschiedliche Handlungspotentiale beinhalten: Partikularität und Individualität. Partikular sind Subjekte, wenn sie auf ihr engeres Umfeld und die Erhaltung ihrer eigenen Lebensbedingungen fokussiert sind. Individuell sind Subjekte, wenn ihr Blick auf die Gestaltung der Gesellschaft gerichtet ist. Heller baut auf der Marx’schen Vorstellung von Klassenbewusstsein auf und sieht die emanzipative Erkenntnis der eigenen subjektiven Position als Grundlage des politischen Handelns im Alltag. Haben Subjekte ihre soziale Position erkannt, äußern sich radikale affektive Bedürfnisse, im Zuge derer revolutionäre Subjektivität produziert wird. Laut Bargetz bietet Heller mit dieser Unterscheidung von partikular und individuell ein Konzept an, mit dem sich Alltagshandlungen kritisieren und normativ bewerten lassen.
Lawrence Grossbergs Arbeiten liest Bargetz schließlich als eine Theorie der räumlich-affektiven Macht. Grossberg schließt an die Hegemonietheorie Antonio Gramscis und den von Stuart Hall maßgeblich geprägten Cultural Studies an. Daher versteht Grossberg den Kampf um Hegemonie in Politik und Ökonomie als einen Kampf im und um das Feld des Popularen. (Populäre) Kultur ist gleichzeitig Kampfplatz und Waffe im Stellungskrieg (eine Terminologie Gramscis). Seinen Machtbegriff fasst Grossberg zum einen in räumlichen Metaphern, indem er Macht in Anschluss an Gilles Deleuze als Maschine oder Assemblage denkt, aus denen Menschen Fluchtlinien entwickeln können, die entweder in den Raum des Politischen oder zurück in ihr eigenes Leben führen können. Außerdem wird Macht in Körpern (von Menschen) affektiv wirksam. Affekte deutet Grossberg dabei als internalisierte und naturalisierte Ideologie, die erst durch Affekte Bedeutung erhält und wirksam wird. Laut Grossberg gibt es sowohl affektive Ermächtigung (z.B. in sozialen Bewegungen), wenn Körper für den gegenhegemonialen Kampf mit Energie versorgt werden, als auch affektive Epidemien (z.B. bei Terrorangst), die Subjekte zerstreuen und depolitisieren.
Auf der Grundlage dieser drei Theorieansätze zeichnet Bargetz den Alltag als eine komplexe und vielschichtige Denkfigur, in der Subjekte als durch ambivalente Prozesse affektiv-räumlicher Macht positioniert erscheinen (Kapitel 4). Der Alltag ist also nicht unschuldig. Grenzt man ihn aus der politischen Theorie aus, vernachlässigt man die Erfahrungs- und Erkenntnishorizonte der allermeisten Menschen jenseits der Schaltstellen staatlicher Macht. Dabei liegt es Bargetz am Herzen, die Ambivalenz der Denkfigur Alltag stark zu machen: Alltag ist weder per se reaktionär noch progressiv. Der Alltag repetiert ebenso wie er transformiert, er reproduziert und produziert, er bringt Subjekte hervor und strukturiert Subjekte, er kann Subjekte politisch instrumentalisieren und disziplinieren, wodurch sie bestehende politisch-ökonomische Verhältnisse reproduzieren, oder auch Raum emanzipatorischer Aneignung werden.
Vor dem Hintergrund und quer zu diesen Ambivalenzen des Alltags, müssen aus Bargetz’ Sicht sieben Dimensionen beachtet werden, die den Ausgangspunkt ihrer kritischen politischen Theorie des Alltags bilden: Alltag wird durch Praxen (re-)konstituiert (Dimension der Praxis); Alltag materialisiert sich und schreibt sich in tätige und fühlende Subjekte ein (materiell-affektive Dimension); Alltag ist, wenn er auch nicht auf bestimmte Zeiten und Räume beschränkt ist, so doch stetig mit konkreten Räumen und konkreten Zeiten verwoben (raum-zeitliche Dimension); das Gefüge des Alltags ist zu komplex, um es in all seinen Facetten beschreiben zu können (Dimension der Unrepräsentierbarkeit); politische Verhältnisse können durch Alltagspraxen kritisiert werden und Handlungsmacht im Alltag wird zu einem möglichen Maßstab für Politik (kritische Dimension); Alltag, Politik, und Ökonomie sowie die darin positionierten Subjekte sind aufs Engste miteinander verwoben (relationale Dimension); das komplexe dynamische Alltagsgefüge lässt sich nicht auf Dualismen wie öffentlich-privat, modern-vormodern, Körper-Geist usw. reduzieren (nicht-dichotomisierende Dimension).
Politiktheoretisch leitet Bargetz aus ihrer Alltagstheorie zwei wesentliche Konsequenzen ab (Kapitel 5). Zunächst muss man Ambivalenzen als intrinsische Eigenschaft des Politischen ernstnehmen, ans Licht bringen und politisieren. Damit erweitert sie zum einen die feministische Dichotomiekritik, indem sie diese in ein Verständnis ambivalenter Relationalität umformuliert. Sie trägt zu den Theorien des Politischen bei, indem sie darauf hinweist, dass eine Theorie, die im Anschluss an Marx bei den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen ansetzt, sich nicht allzu leicht vom Alltäglichen abwenden und – wie etwa die politischen Theorien Hannah Arendts, Oliver Marcharts und Chantal Mouffes – dem abstrakt Politischen den Vorrang vor der konkreten Politik einräumen darf. Sie verweist entgegen den Theoretiker*innen, die Subjekte in relationalen Gefügen verschwinden lassen wollen, auf die Unhintergehbarkeit subjektiver Entscheidungen im Alltag. Und sie hält den Vertreter*innen und Kritiker*innen von Identitätspolitiken entgegen, dass die Ambivalenz des Alltags auch ein nicht-identifizierendes Involvieren ermöglicht, wobei politisches Handeln nicht notwendigerweise eine Identifikation beinhaltet, sondern auch durch Ambivalenzen und Irritationen geschehen kann.
Zweitens drängt Bargetz darauf, aus alltagstheoretischer Perspektive Affekte und Emotionen für das Politische mitzudenken. In feministischer Lesart öffnet eine solche Perspektive gerade den Fokus darauf, wie stark der Alltag von Frauen* mit politischen und ökonomischen Machtverhältnissen verwoben ist, wie die von ihr angesprochene Debatte über Reproduktionsarbeit deutlich macht. Bargetz geht es um eine Emotionalisierung des Politischen, also darum, zu zeigen, wie das Öffentliche und das Private affektiv-emotional durchwirkt sind. Eine politische Theorie des Alltags muss also auch die Politik der Affekte in ihrer Ambivalenz aufdecken, die sowohl durch affektive Epidemien (Grossberg) partikularisieren (Heller), als auch emanzipatorisch wirken kann. So schließt Bargetz auch mit Audre Lordes Ratschlag, eine Politik der Wut zu entwickeln, die Ungleichheitsverhältnisse benennt und verändern will.
Kommen wir also zur Ausgangsfrage dieses Textes zurück: Legt Brigitte Bargetz hier die langersehnte politische Theorie des Affekts vor? Die Antwort ist ganz im Sinne von Bargetz ambivalent. Ja und nein. Man wird sich entscheiden müssen. Ihre Intervention in die affekttheoretische Debatte ist nicht unwichtig. An materiellen Alltagspraxen anzusetzen, ist eine wichtige Leitlinie nicht nur für die politische Theorie, sondern auch für die nicht selten hypertheoretisierenden affect studies. Ihre Theorie der Ambivalenz ist scharfsinnig und analytisch flexibel. Damit geht sie auch gegen die gelegentlich geäußerte bedenkliche Tendenz in der Affekttheorie an, Affekte in der Politik als etwas grundsätzlich Produktives anzusehen.
Doch man wird zugestehen müssen, dass ihre Theorie der Ambivalenz als theoretische Kritik wirksamer ist denn als normatives Programm. So deutet Bargetz ihre Empfehlung für eine Politik der Wut doch nur sehr vage an und buchstabiert kaum aus, wie denn nun eine emanzipatorische Politik des Affekts aussehen kann. Dass diejenigen Alltagspraktiken, die partikularisieren anstatt zu individualisieren (um an die von Bargetz verwendete Terminologie Agnes Hellers anzuknüpfen), kritisiert werden sollen, darüber herrscht sicher Einigkeit. Nur wie die einen von den anderen zu unterscheiden sind, darüber lässt sich in ihrem Buch recht wenig nachlesen. Die Entscheidung, deren Notwendigkeit in Bargetz’ Theorie der Ambivalenz des Alltags eingeschrieben ist, kann uns die Autorin also nicht abnehmen; die Entscheidung nämlich, welche die politische Tat emanzipiert, welche einhegt. Dass Bargetz uns hierbei keine kleinteilige Gebrauchsanweisung an die Hand gibt, braucht uns nicht zu verwundern, und schmälert auch nicht die Bedeutung ihres Ansatzes.
Dieser hat aus meiner Sicht zwei wichtige Aspekte: Ihre politische Theorie des Alltags, in der sie Affekte und Emotionen stark macht, ist die interdisziplinär anschlussfähigste Konzeptformation, die deutschsprachig bislang vorgelegt worden ist. Sie bemüht sich aufrichtig um eine integrative Theorie, mit der sich in viele Richtungen weiterdenken lässt. Zweitens bietet Bargetz aufgrund ihrer Schnittstelle zum empirischen Alltag eine Reihe von Anknüpfungspunkten für wissenschaftlich-empirische und politische Projekte. Mit Ambivalenzen des Alltags erreicht Brigitte Bargetz das Vornehmste, das politische Theorie leisten kann: Sie hilft uns beim Denken.
Bargetz, Brigitte (2016): Ambivalenzen des Alltags: Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen. Bielefeld: Transcript. 26,99 €.
Referenzen
Marchart, Oliver. 2005. Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Stewart, Kathleen. 2007. Ordinary Affects. Durham: Duke University Press.