Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem kleinen, abgedunkelten Kinosaal. Neben Ihnen in der ersten Reihe auf den roten Sesseln sitzen fünf weitere Zuschauer*innen. Sie alle tragen Kopfhörer und eine 3D-Brille; Ihre Schuhe haben Sie vor Betreten des Saals ausgezogen. Sie sind extra knapp zwei Stunden mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in den Norden Göteborgs auf die Halbinsel Tjörn gefahren, um an dieser Performance teilzunehmen.
Sie sind aufgeregt, denn es herrscht absolute Ungewissheit über das, was im Laufe der nächsten siebzig Minuten auf Sie zukommen wird. Das schwedische Künstler*innenduo Christer Lundahl und Martina Seitl – soviel haben Sie sich im Vorfeld angelesen – sei bekannt dafür, ihr Publikum mit ihren Arbeiten auf eine besondere Weise zu involvieren. In der Ankündigung von „An Elegy to the medium of film“ auf der Homepage des Tanz- und Theaterfestivals Göteborg war die Rede von Tarkowski als Inspirationsquelle und der Thematisierung individueller Imaginationsfähigkeit. Das wissen Sie, mehr nicht. Sie sind aufgeregt und froh, dass zu Ihrer Linken eine vertraute Person sitzt.
Die „Elegie“ beginnt mit einem Zoom hinein ins Innere eines auf der Leinwand sichtbaren Projektors, kommentiert von einer sanften, vermutlich weiblichen Stimme mit den Worten „I am the camera“. Dieses zugleich sprechende und sehende „I“ / „[eye]“ tritt an die Stelle Ihrer inneren Stimme, gibt Ihnen die Perspektive und das, was es zu sehen gibt, vor. Es wird Sie leiten und begleiten.
Let’s float… through the pictures
Das erste Filmbild, in das wir mittels 3D-Brille visuell „eintauchen“, zeigt einen Wald. Die Äste ragen scheinbar aus der Leinwand hervor. Fast ertappen wir uns bei dem Reflex, mit der Hand nach einem der virtuellen Äste zu greifen. Blätter, auf die getreten wird, knackende Äste, Wind und das Flirren und Surren von Insekten bilden die Geräuschkulisse, die das Als-ob illustriert. Cut. Unvermittelt springen wir in eine 2D-Projektion eines Filmauszugs. Die Szene (vielleicht aus einem Tarkowski-Film) zeigt einen Mann allein an einem See, in der Halbtotale. Wir übernehmen seine imaginäre Blick-Position und laufen auf ein Haus zu. Schnitt, Gegenschuss, Perspektivwechsel: Wir sind im Haus und sehen durch das Fenster, wie sich der Mann uns nähert. In diesem Moment zoomen wir aus der zweidimensionalen Projektion wieder in die dreidimensionale Repräsentation des Waldes, in der ein Projektor aufgestellt ist, auf dem besagte Filmsequenz nun im Still verweilt. Indes ist es dunkel geworden im Wald. Wir können kaum noch etwas sehen. Ahhhh——– Was war das? Eine Hand greift nach uns.
BLACK. Komplette Dunkelheit. Kein Notausgangsschild, das leuchtet, kein Blinken der Technik. Alles schwarz. „It doesn’t make any difference if I close my eye or not“. Uns überkommt Panik. Wir atmen tief und versuchen uns zu beruhigen.
Zum Glück setzt die Projektion fort: Wir sehen eine 2D-Repräsentation von Bruegels „Jäger im Schnee“. Wieder zoomen wir erst in das Bild hinein, um dann in den dreidimensionalen Raum „zurückzutreten“, der diesmal nicht den Wald, sondern das Kunsthistorische Museum Wien zeigt.
„I disappear.“ BLACK. Die Erde aus der Perspektive des Weltalls. BLACK. Wieder im Wald, ein dunkles Tier. BLACK. Eine in Rot getauchte Landschaft in der Totalen, darin ein Mann, der einen Baum fällt. BLACK. Die Untertitel weisen uns darauf hin, dass wir die Brille absetzen sollen. Und nun: Ende der Vorstellung?
Let’s float… through the darkness
Mit großem Unwohlsein in der Dunkelheit sitzend, sagt uns die Stimme, dass wir unsere Hand ausstrecken sollen. Wenngleich wir ahnen, was passieren wird, erschrecken wir heftig, als plötzlich wirklich eine Hand nach der unseren greift. Wir fühlen die Hand ganz genau, halten uns an ihr fest, als sie uns auffordert aufzustehen und ihr zu folgen. Die fremde Hand legt unsere Hand auf ihre Schulter. Ist sie der Körper zu der Stimme, die uns die ganze Zeit schon begleitet? Wer ist sie und wer sind wir?
Sie sagt, wir stehen an einem Abgrund. Mit einem Mal verschwindet ihr Körper ruckartig unter unserer Hand. Wir müssen jetzt irgendwo in dem kleinen Raum zwischen erster Reihe und Leinwand stehen. Der Ausgang ist am entgegengesetzten Ende. Wieder kochen Panikempfindungen hoch – denn ein Verlassen der Performance scheint nur durch Intervention möglich. Alleingelassen und desorientiert fragen wir uns, warum wir das hier eigentlich mitmachen.
Gezielt greift die Hand wieder nach der unsrigen, dann sogar noch nach unserer zweiten Hand. Wir halten beide Hände fest, ganz fest, denn sie bilden hier unseren Anker. „Let’s float.“ Zügig drehen wir uns gemeinsam im Raum. Sie spielt mit uns ein Fort-Da-Spiel der Berührung. Und uns bleibt nichts übrig als ihr zu vertrauen.
Let’s float… through your imaginations
Es gilt nun offenbar, uns qua Imagination unseren eigenen Film vorzustellen. Unsere Begleiterin wird dabei zur Stichwortgeberin: Wald, See, Haus – wir ertappen uns dabei, dass wir eher das Bildangebot der vorangegangenen Montage mental reproduzieren als eigene Imaginationen zuzulassen. Viel zu beschäftigt sind wir mit der leiblichen und affektiven Überforderung durch die Dunkelheit. Das Einlassen funktioniert nicht. Dann halten wir die nasse Hand unserer Führerin; wir seien am See und stellen fest, dass uns die Bildfetzen, die wir vor unserem inneren Auge haben, einfach nicht inspirieren wollen. Wir halten uns an die Begegnungen mit unserer Begleiterin, fühlen sie genau und dann, als wir uns gerade beginnen, an diese Situation zu gewöhnen, verlässt sie uns. Das Licht geht an, vereinzelt stehen sechs Menschen vor einem leeren Zuschauersaal. Wir, unsere Körper, unsere Wahrnehmungen und Imaginationen und vor allem unsere Ängste und Empfindungen waren hier Medium und Material einer Aufführung, die uns nachhängen wird.
But why do I have to float anyway?
Der Theaterwissenschaftler Adam Alston forscht zu immersiven Performanceformaten in der Gegenwartskunst. Am Beispiel zweier Projekte von Lundahl und Seitl entwickelt er die schlüssige These, dass ihr theater in the dark Aufführungssituationen konstituiere, deren Wirkungsdispositv im Kontext neoliberaler Gouvernementalität zu verorten sei (Alston 2016). Wer sich auf die Arbeiten einlässt, werde hier in einem Ethos eingeübt, das hohe Risikobereitschaft sowie buchstäblich „blindes“ Vertrauen in unbekannte Personen wie Situationen trainiere und (als „sign of a good citizenship“) zugleich positiv affirmiere.
Meiner Auffassung nach, bereitet „An Elegy to the medium of film“ seinen partizipierenden Zuschauer*innen keine ästhetische Erfahrung, sondern versetzt sie vielmehr in eine affektive Versuchsanordnung. Die Aufführungserfahrung besteht schlicht darin, dass sich die Teilnehmenden mit ihren Wahrnehmungen, Assoziationen und Empfindungen und vor allem auch mit ihren Ängsten und Grenzen in situ auseinandersetzen. Das gemeinsame „floating“ (durch Bilder, Imaginationen und Dunkelheit) erscheint weniger als Einladung oder Versprechen denn als Anspruch und Forderung, sodass die Erfahrung affektiver Überforderung hier als Erfahrung des Scheiterns erlebt wird.
Bedenklich auch dies: Wir treten hinaus ins traumhafte schwedische Halbinselidyll Tjörn und denken als erstes: Vielleicht sollten wir es gleich nochmal probieren, beim zweiten Mal, wenn wir wissen, was passiert, gelingt uns das Einlassen gewiss noch besser!
Literatur: Alston, Adam (2016): Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation. London.