(Sich selbst) erzählen – Tagungsbericht zum 25. Germanistentag in Bayreuth

Was den Wagnerianer*innen ihre Festspielzeit, ist den Germanist*innen ihr Germanistentag. Über 500 Wissenschaftler*innen aus Deutschland und der Welt kamen nach Bayreuth, um sich dem Thema „Erzählen“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu widmen.

Ob im Rahmen alltäglicher oder literarischer Rede, ob Serie, Film, Computerspiel oder Buch – Erzählen ist überall. Entsprechend vielfältig fiel auch das Veranstaltungsprogramm aus, das vom Erzählen im Mittelalter über das Erzählen als kommunikativer Alltagspraktik, erzählende Instanzen und Erzählen in unterschiedlichen Medien bis hin zum Erzählen als Kulturtechnik reichte.

Von Katzen, Wunschmaschinen und dem Menschen als erzählendem Wesen

Ganz naiv gefragt: Was heißt eigentlich „erzählen“? Das Tagungsposter gibt Auskunft (Achtung, Cat Content!): „Die Kunst des Erzählens besteht darin, eine Katze mit maximalem Effekt aus dem Sack zu lassen.“ Zur Begrüßung erfährt man: Erzählen heiße, „die Welt zu ordnen und zu deuten“. Der Erzähltheoretiker Matías Martinez formuliert formelhaft: „Geschehensdarstellung + x“. Und die Autorin Felicitas Hoppe spricht in ihrer Lesung vom Erzählen als einer „Wunschmaschine“.

Thomas Engels, Poster des 25. Deutschen Germanistentags an der Universität Bayreuth, 25.09.2016. © DGV

So unterschiedlich die Antworten auch ausfallen, in einem Punkt scheint Einigkeit zu bestehen: Erzählen ist ein Grundbedürfnis, eine Form sozialer Kommunikation und Interaktion. Wir lieben es nicht nur, uns von Geschichten unterhalten, fesseln, involvieren und affizieren zu lassen, sondern sind immer schon in Geschichten eingewoben und durch sie mit anderen Menschen verbunden. Über Erzählungen teilen wir uns selber mit, lassen andere an unserem Leben teilhaben und nehmen selbst Teil am Leben anderer. Erzählen ist Bestandteil des Lebens.

Die Frage ist nur: Gilt das für jede*n? Wer erhält eine Stimme? Wer kann und wer darf erzählen? Wer spricht für wen? Und wem wird zugehört, wessen Geschichten werden wahrgenommen? Bei aller Ubiquität des Erzählens gilt: Erzählen ist nicht abzulösen von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.

À la française: neue Debatten um ein altes Genre

Kein Germanistentag zum „Erzählen“ ohne autobiographisches Erzählen. Der gegenwärtigen Debatte des autobiographischen Schreibens wurde eine eigene, sich über drei Tage erstreckende Sektion gewidmet. Das ist aber nicht so selbstverständlich, wie man meinen könnte. Gerade die Erzähltheorie hat der Erzählung des eigenen Lebens nämlich – wenn überhaupt – nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Höchste Zeit also für eine „Narratologie der Selbsterzählung“.

Wie die Leiterin des gleichnamigen Teilpanels, Martina Wagner-Egelhaaf, eingangs erläuterte, artikuliere sich in der Wahl des Terminus „Selbsterzählung“ eine Skepsis gegenüber der traditionellen Autobiographie. Diese orientiere sich schließlich am westlich-männlich-weißen Subjekt und sei mit Vorstellungen eines klassisch linearen Erzählens verknüpft. Der weniger abgegriffene Ausdruck „Selbsterzählung“ schaffe Raum für neue Debatten um ein altes Genre. Zugleich setze sich dieser Begriff von der Kategorie der „Autonarration“ (Arnaud Schmitt 2010) ab, die derzeit in Frankreich en vogue ist und die (lange Zeit vernachlässigte) Realität des Autors in literarischer Form zu fassen versucht.

Audimax der Universität Bayreuth © Deutscher Germanistenverband

Thomas Engels, Audimax der Universität Bayreuth, 25.09.2016. © DGV

Ende aller Verwirrspiele?

Stark heruntergebrochen, verspricht der Begriff der „Autonarration“, einen Weg zur Überwindung postmoderner Konzepte der Autobiographie und der leidigen Fakt-/Fiktionsdebatte zu bahnen. Darin artikuliert sich zugleich ein ethisch wie affektiv fundiertes Begehren nach Eindeutigkeit: Autonarrative Texte verwirren ihre Leser*Innen nicht länger mit Ambivalenzen und Widersprüchen, sondern bemühen sich um Aufrichtigkeit.

Unser Vortrag zum Thema „Autobiographie und Mehrsprachigkeit“ nahm diesen theoretischen Impuls auf und diskutierte aus der Perspektive der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das Für und Wider des Konzepts der „Autonarration“. Am Beispiel der Autorin Yoko Tawada problematisierten wir dabei nicht nur die Wiedereinsetzung des autobiographischen Aufrichtigkeitspostulats durch die Autonarration, sondern öffneten auch den Horizont für ein dialogisches und nicht-souveränes Verständnis von Autorschaft.

Literatur:

Schmitt, Arnaud. 2010. JE RÉEL, JE FICTIF. Au-delà d’une confusion postmoderne. Toulouse: Presses universitaires du Midi.