Affective societies, affected scientists! 5 Fragen an Christopher Balme

In der Interview-Reihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten Wissenschaftler*innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir den Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Christopher Balme von der Ludwig-Maximilians-Universität München vor.

1. Welche Forschungsfrage bewegt Sie aktuell? Worin besteht ihre gesellschaftliche Bedeutung?

Vielleicht nicht überraschend dominiert bei mir in fast allen Forschungskontexten der Zusammenhang zwischen Theater und Institution. Das gilt sowohl für die DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ als auch das ERC-Projekt „Developing Theatre: Building Expert Networks for Theatre in Emerging Countries after 1945“. Im ersten Fall geht es um die Krisenhaftigkeit eines verfestigten, überdurchschnittlich gut finanzierten Theatersystems, während wir im anderen Projekt untersuchen, wie nach 1945 Versuche unternommen wurden, Theater in postkolonialen Ländern zu institutionalisieren. Dass professionelles Theater dort nur in vereinzelten Fällen richtig Fuß fassen konnte, hängt auch mit dem übergeordneten institutionellen Setting zusammen, das wir untersuchen.

2. Die Relevanz welcher Emotion hat Sie in letzter Zeit überrascht?

Wohl der hohe Grad an emotionaler Erregung, als ich neulich im Rahmen einer familiären Geburtstagsfeier merkte, dass mein Gesprächspartner antisemitische Klischees von sich gab (es ging um George Soros). Es handelte sich um ein voll ausgebildetes Exemplar der Spezies Verschwörungstheoretiker, der sich offenbar hauptsächlich über YouTube informierte. Meine Frau hatte Angst, ich wollte ihn verprügeln, und meinte, sie hätte mich noch nie so aufgeregt gesehen. Ich war selber überrascht, wie aufgebracht ich war, wahrscheinlich, weil ich zum ersten Mal persönlich mit solchen Ansichten in einem im weitesten Sinne familiären Kontext konfrontiert war.

3. Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Schranken in Ihrer Forschungsarbeit?

Mich affizieren im Moment am meisten die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite: das sind Doktorand*innen und jüngere Mitarbeiter*innen, die am Anfang ihrer Laufbahn stehen. Da das ökologische Gleichgewicht des deutschen Wissenschaftssystems empfindlich gestört und durch Überproduktion und Marktsättigung gekennzeichnet ist, fühle ich mich oft außerstande, ihnen zu helfen. Positiv affiziert bin ich vor allem im Moment durch die Zusammenarbeit mit zwei afrikanischen Doktoranden aus Nigeria und Ghana. Beeindruckt bin ich von ihrer Motivation und ihrem Optimismus, trotz der schwierigen Situation in ihren jeweiligen Ländern. Dadurch beschäftigt mich sehr die Frage, wie die Forschung, die wir im Projekt machen, Relevanz für sie und ihren künftigen Arbeits-und Forschungskontexten haben könnte.

4. Welches Buch hat Sie zuletzt stark affiziert?

Ich lese gerade das beeindruckende Buch von William Dalrymple: The Anarchy (2019). Es handelt sich um eine Geschichte der englischen ostindischen Kompanie, die nicht nur spannend erzählt, sondern auf viele neue indische Quellen zurückgreift. Es ist die Geschichte unbeschreiblicher Brutalität auf allen Seiten, aber auch eine Geschichte mit unübersehbaren Parallelen zur heutigen Situation: die Firma, die eine eigene Armee unterhielt, war einfach „too big to fail“, obwohl sie hochverschuldet, menschenverachtend und korrupt war. Allerdings hatte ca. die Hälfte der englischen Abgeordneten Aktien in der besagten Firma und hatten daher wenig Interesse, sie zu stark zu kontrollieren und regulieren. Auf jeden Fall aufschlussreich für die Beziehung zwischen Institutionalisierung und Governance.

5. Auf welche Stimmungen und / oder Gefühle würden Sie im Moment gerne verzichten?

Wahrscheinlich gelegentliche Verzweiflung angesichts der Siegeszüge des Populismus in Europa und den USA. Gott sei Dank ist die Situation in meiner Heimat Neuseeland etwas anders mit einer Premierministerin, die wirklich vernünftig ist und mit einem Parteienspektrum, das locker innerhalb der demokratischen Partei der USA passen würde.