Affective societies, affected scientists! 5 Fragen an Linus Westheuser

In der Interviewreihe „Affective societies, affected scientists!“ beantworten neue Mitglieder, assoziierte Kolleg:innen und Wissenschaftler:innen auf Stippvisite oder mit längerem Aufenthalt im Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ Fragen zur Affektivität und Emotionalität in Wissenschaft und Gegenwart. Heute stellen wir Ihnen Dr. Linus Westheuser vor. Er ist Postdoktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin und zusammen mit Steffen Mau und Thomas Lux einer der Koautoren des Bestsellers Triggerpunkte“ (Suhrkamp, 2023). Sein Interesse gilt der Frage, wie gewöhnliche Menschen mit Politik umgehen und wie aus ungleichen Lebenswelten gespaltene politische Weltbilder entstehen.

Welche Forschungsfrage beschäftigt Sie derzeit und welche gesellschaftliche Relevanz hat sie?

Mich interessiert im Moment, wie verschiedene soziale Milieus gesellschaftliche Veränderung erleben. Es geht darum, wie Ressourcen, Mentalitäten, aber auch das äußerst ungleich verteilte Gefühl politischer Handlungsfähigkeit dazu führen, dass einige soziale Gruppen gesellschaftliche Veränderung als Bedrohung, andere als Chance wahrnehmen; und außerdem darum, wie sich diese Wahrnehmung politisch umsetzt.

Welche Emotion hat Sie in letzter Zeit in ihrer Relevanz überrascht?

Die Wut der bürgerlichen Mitte angesichts des Wandels von Sprach- und Verhaltensnormen. Ich saß kürzlich auf einem Podium zum Thema „Cancel Culture“. Geladen hatte eine äußerst distinguiert-hochkulturelle Institution, das Publikum war entsprechend arriviert und älter. Aber statt der Affektkontrolle, die man dieser Gruppe zuschreiben würde, schwappte mir aus dem Zuhörerraum immer wieder eine wahnsinnige Wut entgegen, Leute verzerrten die Gesichter, riefen dazwischen. Der Auslöser war das Gefühl, von einem woken Meinungsdiktat zensiert zu werden, nichts mehr sagen zu dürfen. Der Spalt zwischen dieser heftigen Emotion und meiner Wahrnehmung einer Gesellschaft, in der konservative Gefühlsstrukturen immer noch so gut wie überall tonangebend sind, gab mir sehr zu denken. Symbolische Kämpfe um Status, die imaginäre Grundlegung der eigenen Identität, die moralische Ordnung des Alltags – das alles ist für politische Auseinandersetzungen ebenso wichtig, wie das Ringen um vermeintlich „realere“ materielle Interessen.

Welches Buch hat Sie in letzter Zeit besonders berührt?

„Blue Skies“ von T.C. Boyle. Es beschreibt eine soziologisch leider sehr realistische Dystopie, in der selbst drastischste Formen ökologischer Destabilisierung für die Protagonisten kaum mehr sind als ein unbefragtes Hintergrundrauschen ihrer individuellen Lebenspläne und Mühen. Man geht morgens raus und die Auffahrt ist schon wieder überschwemmt. Also, muss halt ein Motorboot angeschafft werden, um die Kinder pünktlich zur Schule zu bringen.

Auf welche Stimmungen und/oder Gefühle würden Sie im Moment gerne verzichten?

Auf den Defätismus, also das Gefühl angesichts der vielen düsteren Nachrichten unserer Zeit aus Selbstschutz abstumpfen und weiterscrollen zu müssen.

Gibt es ein affektives Movens oder auch affektive Barrieren in Ihrer Forschungsarbeit?

Als Forscher schlüpft man natürlich nicht morgens in eine andere Haut, sobald man den Dienst antritt. Wie schon erwähnt gibt es gesellschaftliche Stimmungen, die einem in den Daten begegnen, die einem selbst aber extrem fremd sind. Das kann eine Barriere sein, im Idealfall wird diese Befremdung aber in Form von Neugier fruchtbar. Von Stendhal gibt es ein Zitat, das die soziologische Zurücknahme der eigenen Weltsicht schön beschreibt: „Niemand ist im Grunde toleranter als ich“, schreibt er. „Es gibt Gründe, alle Meinungen zu vertreten; nicht, dass meine nicht sehr entschieden wären, aber ich verstehe, dass ein Mensch, der unter Umständen gelebt hat, die den meinen entgegengesetzt sind, auch gegensätzliche Auffassungen hat.“ Dasselbe gilt auch für die Gefühle der anderen.