Eine Interview-Reihe zum Theater der Gegenwart, seinen Strukturen, Kämpfen und Visionen
konzipiert und durchgeführt von Karina Rocktäschel und Theresa Schütz
Institutionen sind komplexe Gebilde, die soziales Verhalten regeln, normativ bewerten und relationale Beziehungsweisen des Affizierens und Affiziert-Werdens nachhaltig mitbeeinflussen und regulieren. Ihre Wirkungsweise ist mit gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prozessen aufs Engste verflochten. Deshalb stehen gesellschaftliche Umbrüche und der Ruf nach einem Wandel einzelner Institutionen häufig in engem Zusammenhang. Diese Interview-Reihe möchte sich verschiedenen Institutionen in Gesprächsformaten zuwenden und aktuellen Aushandlungsprozessen des Wandels nachspüren. Verschiedene Akteure aus der Szene geben Einblick in die Spezifik des Arbeitsumfeldes Theater, erläutern, welche Strukturen überwunden werden sollten, welche Themen derzeit hart umkämpft sind und welche Visionen es für ein (Stadt-)Theater der Zukunft gibt.
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Teil 7: Immaterielles Erbe der postmigrantischen Gesellschaft dokumentieren
Kein schöner Archiv ist das gemeinsame künstlerisch forschende Projekt von Nuray Demir und Michael Annoff. Seit 2018 dokumentieren sie in verschiedenen Projekten das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft. Sie zeigen auf, dass das performative Erbe der Kultur von keiner Institution erfasst werden kann, sondern in vielfältigen kulturellen Praktiken des Alltags begründet liegt, die in der Dominanzkultur oft unter den Radar des Sicht- und Hörbaren fallen. Karina Rocktäschel traf sich für ein Gespräch mit beiden, um über ihre Arbeit und ihre Erfahrung mit Institutionen zu reden.
Karina Rocktäschel: Fangen wir mit dem Beginn von Kein schöner Archiv an. Wie habt Ihr euch gefunden?
Nuray Demir: Wir kennen uns bereits seit über zwanzig Jahren und haben uns als Freund*innen stets begleitet. Eigentlich waren wir beide – vor wirklich langer Zeit – von dem Wunsch angetrieben, Schauspiel zu studieren. Wir waren aber von der Tatsache abgeschreckt, dass zu dieser Zeit auf den Bühnen immer nur weiße Menschen zu sehen waren. Die Männer waren bis auf wenige Ausnahmen 1,80 m groß und sahen recht ähnlich aus. Die Diversität bei den Frauen ging über blond, brünett und rothaarig nicht hinaus. Auf diese Repräsentation und auch die Hierarchie im Theater wollten wir uns schließlich nicht einlassen.
Michael Annoff: Aus unterschiedlichen sozialen Positionen und Privilegien heraus haben wir schließlich unser Studium begonnen. Ich habe Anthropologie und Nuray Kunst studiert. In dieser Zeit haben wir in jeweils andere Felder geschaut, was uns sehr verbunden hat. Irgendwann war uns klar, dass wir zusammenarbeiten und uns hierbei vor allem mit Migrationsgeschichte und der postmigrantischen Gesellschaft und weiteren damit verknüpften Markierungen sozialer Positionen wie Klasse und Queerness beschäftigen wollen. Schließlich hielten wir das Konzept des immateriellen Erbes für interessant, um diese Geschichten, Positionierungen und Lebensrealitäten zu verhandeln.
KR: Mir scheint, bei den Arbeiten von Kein schöner Archiv greifen soziale, künstlerische und kuratorische Linien eng ineinander. Wie würdet Ihr das beschreiben?
ND: Ich würde unsere Arbeit als transdisziplinär beschreiben. Sicher ist sie künstlerisch und kuratorisch, aber im transdisziplinären Sinne. Sie kann auch als künstlerische Forschung verstanden werden.
MA: Durch unsere Auseinandersetzung mit dem immateriellem Erbe entgrenzen wir die Kategorien des künstlerischen und kuratorischen Arbeitens. Denn immaterielles Erbe ist ephemer und kann daher nur in performativen Kontexten aufgezeigt werden, die wir sorgsam auswählen. Wir haben öfter die Rückmeldung bekommen, dass es förderpolitisch schwer ist, uns in eine Sparte einzuordnen.
KR: Das finde ich interessant, weil ich es als ein Zeichen dafür sehe, dass institutionalisierte Kategorien oft gar nicht mit der Realität künstlerischen Arbeitens übereinstimmen. Das bringt mich zu der Frage, wie Eure Zusammenarbeit mit spezifischen Orten funktioniert. Fragen sie Euch an oder geht Ihr auf sie zu und bewerbt Euch zusätzlich für Fördergelder?
ND: Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben Förderungen erhalten und davon Projekte entwickelt. Dann überlegen wir, wo wir diese Projekte realisieren können. Beispielsweise hätten wir eine Arbeit wie „Banden bilden“ (2023) z.B. nicht in der Akademie der Künste gemacht. Wir haben uns für stations am Kottbusser Tor entschieden, weil allein die Lage dieses unabhängigen Ausstellungsraumes mit der Geschichte Berlin-Kreuzbergs und damit zusammenhängend mit einer Form von Bandenbildung zu tun hat. Wir bekommen aber auch Anfragen von Institutionen oder Autor*innen.
KR: Apropos „Banden bilden“: Mir ist aufgefallen, dass der Versammlungsbegriff in Euren Projekten häufig auftaucht. Auch „Banden bilden“ wurde als performative Versammlung beschrieben. Für mich impliziert dieser Begriff einen demokratischen Grundgedanken. Verwendet ihr den Begriff in diesem Sinne?
MA: Ja, der Begriff taucht immer wieder auf, muss aber im Kontext mit dem immateriellen Erbe gesehen werden. Das immaterielle Erbe wird häufig nur sehr abstrakt vermittelt, eigentlich nur über eine Liste der UNESCO. Wir aber machen die Behauptung, dass wir immaterielles Erbe live und öffentlich herstellen und aufzeigen. Das ist es so eine Art theatraler Pakt. Er setzt voraus, dass das immaterielle Erbe nur als Erbe erkenntlich wird, indem wir uns versammeln. Und die Versammlung braucht es, damit Menschen bezeugen, dass das passiert ist. Und das andere, was ich auch wichtig finde, ist, dass es eine differenzierte Teilhabe der Versammlung gibt. Es geht nicht um die Behauptung einer radikalen offenen Teilhabe, sondern um Partikularität: Bestimmte Perspektiven bringen ihr Erbe zur Aufführung.
KR: Gleichzeitig habe ich eine Art Neubesetzung des Begriffs „Bande“ in dem Projekt wahrgenommen. Ich persönlich verbinde mit ihm eine Form von linken Aktivismus, kann mir aber auch vorstellen, dass er im konservativen, weißen Imaginären negativ konnotiert ist.
ND: Die Bande ist an sich ein medial aufgeblasener Begriff und wir fragen uns mit so einem Projekt zunächst: Wie elastisch ist der Begriff? Können wir den auch positiv lesen? Also ich kann das. Auch wenn ich an die Bande zunächst als Form von Verbindung denke. Teilweise ist Familienbande, wenn die weiß ist, positiv konnotiert. Wenn sie nicht weiß ist, wird sie kriminalisiert und so weiter und so fort. Uns interessieren nicht nur positive Umschreibungen oder Überschreibungen, sondern auch Ambivalenzen.
KR: Ihr habt im Mai 2023 in der Bundeskunsthalle Bonn das Festival „Das [neue] WIR. Die Kunst und ihre Institutionen werden uns alle gehören“ organisiert. Wie kam es dazu?
MA: Die Bundeskunsthalle hat uns im Rahmen eines Programms zur Diversitätsentwicklung angefragt und wir durften vor dem Hintergrund mehrere Formate zu Teilhabegerechtigkeit in der Kunsthalle selbst und in der Bundesrepublik im Allgemeinen vorschlagen. In einem offenen Gesprächsprozess haben wir spezifische performative Versammlungen vorgeschlagen, die dann zu einem zweitägigen Festival gebündelt wurden. Außerdem haben wir eine Intervention in die Architektur der Kunsthalle im Rahmen der Ausstellung „Wer wird sind. Fragen an ein Einwanderungsland“ (kuratiert von Johanna Adam) realisiert.
ND: Das Festival muss aber in Bezug zur Struktur der Bundeskunsthalle betrachtet werden: Mit Extramitteln wurden zunächst zwei Stellen für Volontär*innen geschaffen, die das Haus innerhalb von zwei Jahren diversifizieren sollen. Und auch unser Projekt wurde aus Diversitäts-Mitteln finanziert. Und da haben wir gedacht, wir verhandeln das Thema einfach an zwei Tagen!
MA: Wir sind in das Archiv der Bundeskunsthalle gegangen und haben uns mit der Geschichte dieser Institution beschäftigt, um darauf aufbauend das Programm unseres Festivals zu überlegen. Das ist schon bemerkenswert: Im Jahr 1978 haben sich im Steigenberger Hotel Bonn verschiedene Personen getroffen, um zu besprechen, ob es eine Bundeskunsthalle brauche. Dort kamen ungefähr vierzig Männer miteinander ins Gespräch, haben diskutiert und referiert. Annemarie Renger, die damalige Bundestagsvizepräsidentin, war die einzige Frau.
ND: Und es gab eine Person of Colour…
MA: …, ja, einen indischen Museumsdirektor. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte, die eben auch eine Migrationsgeschichte ist, ist die Gründung der Bundeskunsthalle auffällig wenig divers. Immerhin fällt diese Gründungsgeschichte in eine Zeit, in der sogenannte Gastarbeiter*innen in Deutschland millionenfach Familien gründeten und sich entschieden zu bleiben. Vor diesem Hintergrund wollten wir fragen: Was sind eigentlich die Diversifizierungsbemühungen der letzten dreißig Jahre, d.h. ungefähr seit der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland? Mit dieser Befragung wollten wir auch thematisieren, welche Bemühungen es schon ohne eine Diversitäts-Agenda in den Künsten gab, d.h. bevor das in den großen Häusern der bundesdeutschen Kulturlandschaft noch nicht auf der Tagesordnung war. Es ging auch darum zu schauen, welche Alternativen oder Konzepte es für diesen Begriff der Diversität gibt, der so stark dominanzkulturell vereinnahmt wird.
ND: Unser zweitägiges Programm wurde zu einer Art Besetzung, die von Beginn an von einer Flüchtigkeit geprägt war. Daher haben wir auch viel mit ephemeren Materialien gearbeitet, wie bspw. mit Luftballons, weil klar war, dass die Luft hier sehr schnell raus sein wird. Grundsätzlich gingen das Konzept und die Kuration gut auf und alle Beteiligte waren zufrieden. Aber uns war von Beginn an klar, dass so kein nachhaltiger Wandel in einer Institution möglich sein kann.
MA: Zum Thema „Wandel der Institutionen“: Also das immaterielle Erbe, mit dem wir uns beschäftigen, stellt die museale Institution sicher stärker als die theatrale Institution in Frage. Aber wenn ich mir anschaue, was die Transformation der Institutionen bewirkt, würde ich sagen, das geht von der Dominanzkultur aus. Die muss sich wandeln.
KR: Zum Abschluss eine utopische Frage: Könnt ihr Euch eine ideale Institution vorstellen? Wie würde sich die anfühlen?
ND: Jetzt werde ich vielleicht etwas pathetisch: Dort gibt es Konflikte, die ausgetragen werden, Komplexität, die verhandelt und auch erst einmal zugelassen wird. Also Konflikte und Ambivalenzen gehören genauso dazu wie Verbindungslinien und Übersetzungsarbeit. Wir haben zu dieser Frage tatsächlich bereits eine Arbeit gemacht und diese utopischen Gedanken ausgeführt: Sie sind in einer Lecture-Performance enthalten, die wir für die 15. Triennale Kleinplastik Fellbach entwickelt haben.
MA: Wenn ich das aus der Perspektive der Subjekte der Dominanzkultur denke, würde ich mir wünschen, dass die Leute in den Institutionen tatsächliche Pluralität zulassen. Weil eigentlich sind diese ganzen Intendant*innen, Kurator*innen oder Hochschuldirektor*innen oft einfach damit beschäftigt, den eigenen Status-Quo zu halten, so dass Leute wie sie diese Position fortführen. Und sie ziehen bestimmte Diskurse über Pluralität heran, um diese Pluralität zu simulieren oder sie nur stückweise zuzulassen.
ND: Es gibt dieses Buch von Amani Abuzahra („Ein Ort namens Wut“). Und sie beschreibt diese Problematik ganz deutlich. So sind für einige Personen in spezifischen Positionen manche Themen einfach nur Theorien und Begriffe, die nichts mit den Lebensrealitäten zu tun haben. Dadurch werden sie beliebig und können ausgewechselt werden, sie werden zu einem Material unter anderem. Das ist auch Teil meiner oder unserer Beobachtungen im Umgang mit Institutionen (in Bezug auf den Diversitätsbegriff, Anm. der Redaktion).
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Anfang Februar 2024 erschien das neue Projekt von Nuray Demir und Michael Annoff. Die performative Publikation www.thewordsoftheartyclass.com untersucht intersektional Klasse und Rassismus in den Künsten.