Safety Within and Without. Gefühlspolitik entlang der Proteste an der Columbia Universität

Viele in der Schlange wissen nicht genau, ob sie überhaupt reinkommen werden, am Morgen nach der Besetzung der Hamilton Hall auf dem Morningside Campus der Columbia Universität in New York. Der Zugang zum umzäunten Hauptcampus ist schon seit Beginn des pro-palestinänsischen Protestcamps nur noch mit einem Universitätsausweis möglich, den alle Studierende und Mitarbeitende der Columbia besitzen. Nach dem Höhepunkt und vorläufigen Ende des Protests, der Nacht, in der hunderte Einsatzkräfte der New Yorker Polizei das besetzte Gebäude stürmen und um die hundert Aktivist*nnen festnehmen, wird der Zugang zu allen Gebäuden auf und rund um den Campus nun noch strikter reguliert als zuvor. Über die Einlasskriterien herrscht unter den Wartenden vor dem bewachten Tor an dem Morgen Unklarheit. Nur Studierende, die auf dem Campus leben und essenzielle Mitarbeitende dürfen rein, heißt es. Wer den Campus betreten möchte, muss seinen Ausweis auf ein Lesegerät halten; blinkt es grün, darf man durchgehen, blinkt es rot, muss man draußen bleiben. Ein Hochschullehrer fragt, ob er zu den essenziellen Mitarbeitenden der Universität gehöre. Das rote Licht sagt nein.

Columbia-Encampment, © Elgen Sauerborn

An diesem Morgen liegen hinter den Mitgliedern der Universität knapp zwei Wochen eines Ausnahmezustands, in dem Studierende ein Protestcamp auf dem Hauptcampus errichteten und die Universitätsleitung unter anderem dazu aufforderten, sich von der Zusammenarbeit mit Unternehmen mit Bezug zu Israel zu trennen. Zahlreiche Aktivist*innen ohne Universitätsausweis unterstützen die Proteste vor den Toren des Campus. Oft entstand der Eindruck, dass den Stimmen der Elite-Studierenden mehr Gewicht und mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als vielen anderen pro-palästinensischen Aktivist*innen zuvor. Die Bilder der protestierenden Studierenden gingen um die Welt, unzählige Journalist*innen stehen mit ihren Kameras Tag und Nacht vor den Eingängen des Campus und versuchen Einblick zu bekommen in das, was hinter den Zäunen stattfindet.

Der Protest der Studierenden polarisiert und das Unverständnis, das bei vielen dafür herrscht, findet wie so oft durch den Bezug auf die Gefühle der Beteiligten ihren Ausdruck. Vielen jungen Amerikaner*nnen, so heißt es zum Beispiel in einem Artikel der nbc news, ermöglichen die Proteste eine „emotionally fraught introduction to heated student activism“. Der US-amerikanische Radiosender npr berichtet nach den Festnahmen: „The police action in New York came as the continuing student protests exposed the raw emotions across the country’s campuses“. Und auch die Universitätspräsidentin Minouche Shafik ruft in einem Statement vom 22. April zur Beruhigung auf:„ I hope everyone can take a deep breath […]“.

Dieses Sprechen, Kalkulieren und Reflektieren über die Gefühle der Aktivist*innen lässt sich bei allen Beteiligten des Protests beobachten. Doch wie in allen sozialen Zusammenhängen werden Wut und Ärger der einen Gruppe anders bewertet als Wut und Ärger einer anderen. Wer redet also wann über welche Gefühle und welche Funktion hat dieses Thematisieren von Emotionen in den Protesten selbst?

Wenn Universitätsleitung, Studierende, Aktivist*innen oder öffentliche Akteur*innen Emotionen im Zusammenhang mit den Protesten thematisieren, lässt sich dies nicht trennen von dem Eindruck eines Zwei-Klassen-Protests. Durch den für Universitätsmitglieder limitierten Zugang zum Campus entstand dieser Eindruck bereits in den Tagen und Wochen vor der Besetzung der Hamilton Hall. Auf der einen Seite rufen, singen und klatschen die studentischen Aktivist*innen im Protestcamp, über das die Welt berichtet, und auf der anderen Seite, vor den hohen Zäunen des Campus, die anderen, die „outside activists“ wie Präsidentin Shafik sie nennt. Dass es sich hier weniger um eine Metapher als um eine sehr reale Abbildung von Zugängen zu einer Elite-Hochschule wie der Columbia handelt, spiegelt sich auch in dem Sprechen über Emotionen wider. Ausgerechnet die intellektuelle und finanzielle Spitze des Landes, die Kinder aus gutem Hause, die zukünftigen Führungskräfte und Eliten aus der Ivy League-Schmiede sind nun diejenigen, die aggressiv und wütend ihrem politischen Forderungen Ausdruck verleihen?

Ein Wiesenabschnitt mit Isreal-Flaggen vor dem Protestcamp, das dahinter mit Zelten vor der Columbia zu sehen ist
Ein Wiesenabschnitt mit Isreal-Flaggen vor dem Protestcamp, © Elgen Sauerborn

Viele Lehrende und Studierende der Columbia widersprechen diesem Bild. In den Tagen vor der Hausbesetzung verfestigt sich an vielen Stellen der Eindruck von zwei verschiedenen Protesten: einem recht gut koordinierten Innen und einem eher heterogenen Außen, an dem viele verschiedene, auch extremistische Gruppen von allen politischen Seiten beteiligt sind. Ich war an einigen Tagen selbst auf dem Campus und was ich sah, war ein friedlicher und gut organisierter Protest. In unmittelbarer Nähe zum pro-palästinensischen Camp versammelten sich immer wieder Gegenprotestierende, die ruhig und weitgehend ungestört Israel-Flaggen schwenkten. Auf einer Wiese direkt neben dem Camp steckten Hunderte solcher blau-weißen Fahnen im Miniaturformat im Gras. Ich habe an den Tagen bis Präsidentin Shafik die Aktivist*innen zur Räumung des Camps aufforderte, woraufhin einige von ihnen das nahegelegene Gebäude Hamilton Hall besetzten, weder Zerstörung noch überschäumende Wut gesehen. Der Campus ist groß und einige hundert Meter weiter entfernt, hinter der bekannten Alma Mater-Skulptur auf den Stufen zur Low Library, hat man zu manchen Tageszeiten abgesehen von Rufen und Gesängen der Protestierende und ähnlich lauten, ununterbrochen kreisenden Helikoptern über dem Campus wenig mitbekommen. Studierende, die nicht an den Protesten teilnahmen, lagen auf den Wiesen des schönen Geländes und lasen Bücher, tranken Kaffee und arbeiteten an ihren Laptops.

Haben die Universitätsleitung und New Yorks Bürgermeister Eric Adams also recht, wenn sie von den aufmischenden und Chaos auslösenden „outside activists“ bzw. „outside agitators“, also den Anstifter*innen von außen sprechen, die den friedlichen Protest übernehmen? Ein ähnlicher Eindruck wird von weiteren Stimmen geteilt. So heißt es in einem Artikel im Economist ein paar Tage später: „From inside the campus the crowds looked like a zombie phalanx, full of brainless hunger, trying to get in.” Das entspricht den Befürchtungen von Bürgermeister Adams, der nicht müde wurde, über die Radikalisierung durch Außenstehende zu sprechen. Dabei bleibt die Rolle der 32 Beteiligten ohne Columbia-Verbindung, die bei der nicht mehr so friedlichen Hausbesetzung, im Zuge derer insgesamt 112 Aktivist*innen verhaftet wurden, relativ unklar.

Die Zäune vor dem Campus spalten sicher vieles, aber nicht die Tendenz, Emotionen für politische Zwecke zu mobilisieren und zu instrumentalisieren. Die strategische Nutzung von Gefühlen findet nicht nur außerhalb des Campus statt, sondern ist Teil des universitären Umgangs mit den Protesten. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Hochschullehrende, die ihre Solidarität mit den Studierenden in orangefarbenen Westen bekunden, ihre Wut über die Entscheidungen der Universitätsleitung, die Campbewohner*innen zu verhaften, offen äußern. Und auch die Situation vor den Campustoren, in der Fakultätsmitglieder die Maßnahmen der Universitätsleitung anprangern, und sie von „Shame!“-Rufen der Anwesenden unterstützt werden, illustriert die politische Mobilisierung von Gefühlsrhetoriken.

Präsidentin Shafik verweist während der gesamten zwei Protestwochen wiederholt darauf hin, dass eines ihrer wesentlichsten Bedenken das Sicherheitsgefühl der Studierenden und aller Angestellten der Universität sei. In nahezu jedem der Statements, die sie zu den Unruhen auf und vor dem Campus veröffentlicht hat, liest man nicht nur von der Priorität der Sicherheit aller Universitätsmitglieder, sondern sehr explizit auch vom Gefühl von Sicherheit. Auch sie greift das Bild der Unruhestiftenden von Außen auf, die für die Unsicherheitsgefühle der Studierenden verantwortlich sein sollen: „Many students have also felt uncomfortable and unwelcome because of the disruption and antisemitic comments made by some individuals, especially in the protests that have persistently mobilized outside our gates.“

Polizei-Wagen vor der Columbia, © Elgen Sauerborn

Am 22. April, knapp fünf Tage nach der Errichtung des Camps, verkündet Shafik, dass auch diese Angst um Sicherheit eine wesentliche Motivation war, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen: „Students across an array of communities have conveyed fears for their safety and we have announced additional actions we are taking to address security concerns.“ Und diese Maßnahmen hatten es in sich: Sicherheitskräfte und Kontrollen an den Eingängen des Campus wurden aufgestockt. Seminare und Prüfungen wurden online abgehalten. Zum jetzigen Zeitpunkt, über eine Woche nach dem Ende des Protest, ist einem großen Teil der Columbia-Mitglieder noch immer der Zugang zum Campus verwehrt. Die große Jahresabschlussfeier für alle Graduierten auf dem Hauptcampus wurde abgesagt und auf viele kleine Feiern aufgeteilt. Im Zuge der Besetzung der Hamilton Hall, das nur eines von vielen Gebäuden auf dem Campus ist, wurden am Abend des 30. April ganze Straßenzüge um die Universität auf der Upper West Side abgesperrt. Studierende kamen teilweise nicht mehr in ihre Unterkünfte. Als an diesem Abend hunderte Einsatzkräfte der New Yorker Polizei auf den Campus einmarschierten und durch Fenster in das besetzte Gebäude kletterten, löste das fraglos viele Gefühle bei allen Beteiligten as. Ob diese Studierenden sich dabei aber besonders sicher gefühlt haben mögen, ist anzuzweifeln.