Wandel der Institutionen

Eine Interview-Reihe zum Theater der Gegenwart, seinen Strukturen, Kämpfen und Visionen

konzipiert und durchgeführt von Karina Rocktäschel und Theresa Schütz

Institutionen sind komplexe Gebilde, die soziales Verhalten regeln, normativ bewerten und relationale Beziehungsweisen des Affizierens und Affiziert-Werdens nachhaltig mitbeeinflussen und regulieren. Ihre Wirkungsweise ist mit gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prozessen aufs Engste verflochten. Deshalb stehen gesellschaftliche Umbrüche und der Ruf nach einem Wandel einzelner Institutionen häufig in engem Zusammenhang. Diese Interview-Reihe möchte sich verschiedenen Institutionen in Gesprächsformaten zuwenden und aktuellen Aushandlungsprozessen des Wandels nachspüren. Im ersten Teil steht die Institution (Stadt-)Theater im Fokus. Verschiedene Akteure aus der Szene geben Einblick in die Spezifik des Arbeitsumfeldes Theater, erläutern, welche Strukturen überwunden werden sollten, welche Themen derzeit hart umkämpft sind und welche Visionen es für ein (Stadt-)Theater der Zukunft gibt.

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Teil 3: Theater, performative Künste und Technologie

Ein Interview mit Daniela Ginten, Kulturmanagerin und künstlerische Leiterin des Festivals Performing Arts & Digitalität 2020. Sie ist Geschäftsführerin der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und spricht mit Karina Rocktäschel über das neue Festival, das Verhältnis von Theater, Institution und Technologie(n) sowie den Einfluss der Pandemie auf die Entwicklungen.

Karina Rocktäschel: Wie kam es zu der Idee, ein Festival zu gestalten, das explizit künstlerische Arbeiten in den performativen Künsten zeigt, die sich sowohl auf inhaltlicher als auch ästhetischer Ebene auf digitale Technologien fokussieren?

Daniela Ginten: Zu dieser Festivalidee kam es über Umwege. Die Akademie ist ja keine Vereinigung von ausschließlich Theaterleuten. Sie bringt Mitglieder aus allen Bereichen der Darstellenden Künste, Theaterleute wie auch Medienleute, zusammen, die in ihrem Berufsalltag sonst kaum Begegnungen miteinander haben. Bei unserer Mitgliederversammlung haben wir gemerkt, wie erstaunlich interessant die Gespräche zwischen diesen Sparten werden können. Gerade unter dem Gesichtspunkt darstellender Künste gibt es Schnittpunkte und Problematiken, die man aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutieren kann. Ausgelöst durch die Diskussionen der Akademie haben wir festgestellt, dass das Thema Digitalisierung eher ein in den Medien verhandeltes Sujet ist. Und so kam es – vor etwa zwei Jahren, also noch vor Corona – zu der Überlegung, zu diesem medien- und spartenübergreifenden Thema Veranstaltungen zu machen, um es ein bisschen breiter zu diskutieren. Das war der Ausgangspunkt zum Festival.

KR: Und kommt solch eine Idee in der Akademie vom Vorstand oder von den Mitgliedern der Akademie selbst?

DG: Jede:r darf Ideen haben und zur Sprache bringen. In dem Fall war es tatsächlich meine Idee, die in der Diskussion mit anderen Mitgliedern besprochen und natürlich auch von den Vorständen mitgetragen wurde.

KR: Und wie kommt es zu Darmstadt als Austragungsort?

DG: Darmstadt hat sich sehr schnell angeboten, weil die Stadt 2017 den Titel „Digitalstadt“ verliehen bekommen hat. Da Digitalisierung in der Stadt bereits ein großes Thema war (und weiterhin ist), gab es von kulturpolitischer Seite aus sehr gute Voraussetzungen. Man musste bei den Institutionen und den Kooperationspartnern vor Ort nur wenig Überzeugungsarbeit leisten.

KR: Funktioniert die Teilnahme der Künstler:innen via Ausschreibung oder Einladungen?

DG: Wir sind zweigleisig gefahren. Zum einen haben wir im Kreis der Mitglieder einen Call gemacht, wodurch bereits das eine oder andere Projekt zustande gekommen ist. Zum anderen haben wir parallel dazu recherchiert, was und wen es in diesem Bereich gibt. Über den Kreis der Akademie hinaus haben sich dann sehr schnell und sehr einfach Kontakte und Gespräche ergeben.

KR: Welche künstlerischen Beispiele, welche Technologien waren für die Auswahl von Interesse?

DG: Wir haben versucht, die Auswahl möglichst breit anzulegen. Wir wollten eben nicht ein Festival für bspw. VR (Virtuelle Realität, Anm. der Redaktion) oder KI (Künstliche Intelligenz, Anm. der Redaktion). Gerade die große Vielfalt der Technologien und ihre unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten sind spannend. Und natürlich haben wir uns um größtmögliche Aktualität bemüht, allerdings sind die Entwicklungen hier rasant. Die digital arbeitenden Künstler:innen nutzen heute schon wieder andere Technologien. So stehen bspw. Interaktion oder Social Media als Ausspielplattformen mittlerweile sehr viel stärker im Fokus als noch vor ein paar Monaten. Und ich bin sicher, da wird noch mehr kommen. Wir stehen erst am Anfang.

KR: Mich würde interessieren, wie Sie das Verhältnis von performativen Künsten und Technologie einschätzen. Glauben Sie, dass in diesem Bereich mehr investiert werden sollte? Während des Corona-Shutdowns wird dies notgedrungen gemacht, aber die Frage, welche Formate finanziert werden, bleibt. Wenn die Zeit der Lock- und Shutdowns hoffentlich vorbei sein wird, auf welche Formate wird dann wohl mehr gesetzt werden? Was ist Ihr Eindruck im Zuge des Festivals gewesen?

DG: Corona war ja gewissermaßen so etwas wie ein ‚Booster‘. Es hat Diskussionen, Überlegungen und auch Kreativität freigesetzt, die ohne die Pandemie niemals in dieser Geschwindigkeit möglich gewesen wären. Wir mussten am Anfang richtig recherchieren und suchen, um überhaupt – bis auf diejenigen Akteure, die wie die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund bereits bekannt sind – Projekte zu finden oder auch zu initiieren.

Ich befürchte, wenn die Corona-Krise halbwegs im Griff ist und die klassischen Live-Besuche wieder stattfinden können, vieles wieder runtergefahren werden wird. Ich glaube dennoch, dass Einiges bleiben wird. Und vermutlich werden sich mehr Akteure als zuvor mit Technologien beschäftigen. Es wurden ja mittlerweile bspw. am Hebbel am Ufer in Berlin oder am Theater Augsburg so etwas wie eine vierte Sparte eingerichtet. Gerade das Theater in Augsburg setzt hier auf VR. Zudem gibt es neue große Förderprogramme, die im Zuge der Pandemie aufgelegt worden sind. Ich habe neulich eine Liste von der Kulturstiftung des Bundes bekommen, in der 68 Projekte vorgestellt werden, die nun mit einer unglaublichen Summe gefördert werden. Da tut sich einiges.

Leider finde ich momentan die Fragestellungen zu sehr fokussiert auf dieses „Wie kann ich noch mit meinem Publikum in Kontakt bleiben, obwohl wir uns nicht mehr treffen können?“ Das ist zwar wichtig, aber ich finde, man sollte sich auch mehr auf die künstlerischen Möglichkeiten konzentrieren und Digitalität nicht nur als technisches Vehikel betrachten, um die eigenen Inhalte noch besser und noch breiter in die Welt zu streuen, sondern tatsächlich auch als immanenten, ästhetischen Bestandteil anwenden. Und ich fürchte, dass es nach der Pandemie auch wieder sehr viel weniger sein wird als es jetzt ist.

KR: Und war das Publikum bei Ihrem Festival coronabedingt zahlenmäßig kleiner als erwartet oder sogar auch ein anderes, weil es gezielt mit anderem Interesse gekommen ist?

DG: Natürlich konnten wir den Hygieneregeln entsprechend nur beschränkt Plätze vor Ort anbieten. Da sich alle Besucher:innen registrieren mussten, haben wir im Anschluss eine kleine Auswertung des Publikums gemacht. Und das war schon interessant. Aufgrund des Einnahmenausfalls haben wir auf alle Marketingmaßnahmen verzichtet, d.h. wir haben keine Anzeigen geschaltet. Dennoch haben erstaunlich viele Leute von unserem Festival erfahren. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass relativ viele von weit angereist kommen und dass es sich vor allem auch unter Kolleg:innen so gut herumsprechen würde.

Das Festival wurde auch hier vor Ort extrem gut aufgenommen, gerade von den jungen Leuten. Wir haben Gästebücher ausgelegt, und es ist zum Teil fast rührend, was hineingeschrieben wurde. Daran sieht man auch, wie unbekannt diese mit virtueller Realität arbeitenden Formate bei den meisten Leuten noch sind und wie erstaunt sie sind, was es alles gibt. Das fand ich überraschend, dass es Aussagen gab wie: „Ich hatte in meinem Leben noch keine VR-Brille auf“ oder „Es ging ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper“.

KR: Ihren Hinweis zum Gästebuch finde ich sehr spannend. Würden Sie aus Ihrer Perspektive sagen, dass die VR-Technologie eine neue Sensibilität bei den Menschen, die teilnehmen, (er)schafft? Werden bestimmte Gefühle hervorgerufen, die in anderen, sagen wir analogen Arbeiten, nicht so im Vordergrund stehen? Bspw. kommen mir die VR-Beispiele, die ich kenne, oft ein bisschen unheimlich vor. Und da frage ich mich, ob Sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben?

DG: Ich würde es jetzt vielleicht nicht als unheimlich bezeichnen. Ich meine, man weiß ja, dass man eine Brille aufhat und weiß, man steht bspw. in einem ganz normalen Raum, und da ist nichts. Das Projekt des Niederländers Daniel Ernst, „Die Fernweh-Oper“, hat eigentlich einen hohen Abstraktionsgrad, weil es animiert ist, aber nichtsdestotrotz steht man da drin, und ich greife dann nach etwas und erschrecke: „Oh Gott, ich habe keine Hand, meine Hand ist weg“. Also der Intellekt begreift es schon, aber man ist so unmittelbar in den Szenen drin und so distanzlos, dass man schon überrascht ist, verblüfft oder auch überwältigt. Gerade die VR-Produktionen arbeiten ja zum Teil sehr stark mit einer Überwältigungsstrategie. Im Grunde könnte dies einerseits Tür und Tor für alles Manipulative öffnen, andererseits ließen sich auch Menschen für Themen sensibilisieren oder gewinnen, denen gegenüber sie erst einmal nicht so aufgeschlossen sind. Das ist meines Erachtens ein großes Thema: Wie gehe ich mit dieser Immersion, mit dieser Überwältigung, die ich in solchen Arbeiten erfahre, um? Da haben Künstler:innen eine ganz große Verantwortung.

KR: Wie steht es im Feld der Künstler:innen, die zum Thema Technologie arbeiten, mit der Gleichstellung?

DG: Ich muss sagen, ich war total überrascht. Als ich die Idee für dieses Festival hatte, dachte ich, dass ich da vermutlich nur mit Männern zusammenarbeiten werde. Alles, was mit Technik zu tun hat, scheint ja per se erst einmal männlich konnotiert zu sein. In meinen Recherchen realisierte ich, dass das überhaupt nicht stimmt. Zwar sind die Bereiche Programmierung und technologische Ausspielung nach wie vor von Männern dominiert, aber wenn es um Formate geht, um Fragestellungen, was man mit der Technologie überhaupt machen kann, waren es gefühlt mehr Frauen als Männer, die sich damit beschäftigen.

KR: Es gab dieses Festival unter Corona-Bedingungen. Wie geht es weiter?

DG: Das Ergebnis hat uns bestärkt, eine zweite und gerne auch noch weitere Ausgaben zu machen, aber Projektanträge haben gewisse Vorlaufzeiten, das heißt 2021 wird nichts stattfinden, aber wir planen fest für das darauffolgende Jahr. Ich muss sagen, die Offenheit in den Institutionen für das Thema ist bereits jetzt eine ganz andere, man muss nicht mehr so viel erklären. Es scheint mir nun sehr viel leichter zu sein als beim ersten Mal.

KR: Und Sie meinen, das liegt an der Corona-Krise, dass die Institutionen dem Thema Digitalität offener gegenüber sind?

DG: Das glaube ich schon, ja, es spielt zumindest eine große Rolle. Es gab vorher keine Notwendigkeit, sich damit zu beschäftigen. Ich glaube, es wurde zumindest in dem subventionierten Kulturbetrieb – ist ja auch ganz klar – nicht genau hingeguckt. Also man hat sich sehr auf das beschränkt, was mehr oder weniger gut lief, nach dem Motto „never change a running system“. Warum sollte sich etwas ändern, wenn es läuft?

KR: Denken Sie, die Institution Theater kann sich gar nicht selbst verändern, sondern es muss erst etwas von außen kommen? Mir scheint, dass das gerade der Fall ist.

DG: Da haben Sie absolut recht. Diese Institutionen sind ja, strukturell gesehen, gigantische Behörden. Ein Haus, an dem 500 Menschen oder mehr arbeiten, das ist einfach ein riesiger Betrieb. Und solche Riesenbetriebe sind wahnsinnig schwerfällig. Und ja, ich glaube, es hängt letztendlich ganz oft an einzelnen Personen. Natürlich hängt es an der Theaterleitung, was sie ansteuert, was sie für Ziele hat, es hängt an den künstlerischen Mitarbeitenden, an den Dramaturg:innen, an den Schauspielleiter:innen etc. Sie können sehr viel machen, aber ich glaube, an sich ist die Institution Theater durchaus träge. Da muss man an die Strukturen ran.