„The Eternal Network“. Die Ausstellung der Transmediale in sieben Fragen

Twittern, Posten, Liken, Sharen – digitale Netzwerke sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken und prägen die Arten und Weisen, wie wir in affective societies zusammenleben. Die Ausstellung der diesjährigen Transmediale „The Eternal Network“ im Haus der Kulturen der Welt hinterfragt die Möglichkeiten und Grenzen internetbasierter Netzwerke: Einst Synonym für die Hoffnung auf flache Hierarchien, werden „Soziale“ Medien heute vor allem von zentralistischen Unternehmen beherrscht, die aus unseren Daten Profit schlagen. Gleichzeitig zeigen die künstlerischen Positionen der Gruppenausstellung Alternativen auf, wie digitale Netzwerke anders zu denken sind. Eine Annäherung in sieben Fragen.

Ausstellungsansicht “The Eternal Network”, Foto: Luca Girardini, transmediale

1. Herrscht im Internet Schwerkraft?

Jeder kennt es: das Bild des Internets als Netz mit vielen Knoten und scheinbar gleichberechtigten Nutzer*innen. Das World Wide Web als schwerelose Cloud aus leuchtenden Datenströmen. Wäre das Internet eine Landschaft, sähe sie weitaus komplexer aus, zeigt die französische Künstlerin Louise Drulhe mit ihrem Bildessay „Critical Atlas of the Internet“ (2015) gleich zu Beginn der Ausstellung. Hier begegnen uns poröse und formbare Oberflächen, durch die unsere Daten kontinuierlich durchsickern und diese verändern, schiefe Ebenen, die unsere Aufmerksamkeit beim Surfen in vorherbestimmte Richtungen lenken, und tiefe Krater, die von nur einer Handvoll Global Players gegraben wurden und in die ein Großteil der gesamten Netzaktivität fällt. Einige der tiefsten stammen von US-amerikanischen Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon und Twitter. Wenn Schwerkraft im Internet existiert, dann ist die USA der unweigerliche Schwerpunkt, das „centre of gravity“ mit enormer Sogwirkung.

2. Wo verlaufen die Grenzen im Netz?

Was ist mit den Grenzen innerhalb dieser Netz-Topographie? In ihrem „Critical Atlas of the Internet” spricht Drulhe von lokalen Projektionen, die je nach Land nur einen Ausschnitt des globalen Internets zugänglich machen. Das Internet sieht in China anders aus als in Marokko oder in Deutschland. Die einstige Utopie eines grenzenlosen Raums für alle hat längst ausgedient. Stattdessen – so wird fast überall im Ausstellungsraum deutlich – ist die Territorialität des Netzes mit physischen, politischen und ökonomischen Grenzen der realen Welt verflochten. Wie lassen sich diese Grenzen sichtbar machen? Der in Shanghai lebende Künstler Guo Cheng hat in seiner Arbeit „The Net Wanderer – a Tour of Suspended Handshakes“ (2019) die abgelegenen Standorte der Netzwerkinfrastrukturen der „Great Firewall of China“, einem der größten Zensurprojekte weltweit, anhand von Geolokalisierungsdaten aufgespürt. Ein Video zeigt ihn, wie er diese unsichtbare – und doch so reale – Mauer entlanggeht. Parallel werden die Besucher*innen in der Ausstellung dazu eingeladen, die chinesische Firewall als virtuelle Tourist*innen zu besuchen. Es steht ein Laptop bereit, auf dem man nach Belieben surfen kann. Gibt man eine Webseite ein, die von der chinesischen Zensur betroffen ist, wird man zu einem Spiel weitergeleitet. Die IP-Adresse des Firewall-Knotens wird schließlich an die gegenüberliegende Wand graviert. Die virtuelle Grenze manifestiert sich so Ziffer für Ziffer und Zeile für Zeile im Ausstellungsraum.

3. Können digitale Netzwerke die Klimakatastrophe abwenden?

Ein Supercomputer macht es möglich: Durch die Vernetzung von Satellitenbildern, Geo- und Klimadaten werden Vorschläge zur Lösung ökologischer Probleme errechnet. Warum verlegen wir nicht einfach eine Lithiummine von Südamerika ins Silicon Valley, um Ressourcen zu sparen? Die simulierten Zukunftsszenarien, die der Algorithmus „Asunder“ (2019) der Künstler*innen Tega Brain, Julian Oliver und Bengt Sjölén ausspuckt, schlagen außerdem vor, die Arktis zu kultivieren, Flüsse kurzerhand umzulegen und Küsten zu begradigen. Absurde Lösungen, die in Frage stellen, ob Geoengineering die Klimakatastrophe abwenden kann – egal wie viel Rechenleistung dahintersteckt. Die Frage nach den „Ökologien“ der digitalen Netzwerke beschäftigt eine ganze Sektion der Ausstellung. Erinnert wird dabei auch an die Materialität der elektronischen Infrastrukturen, sowie an die Massen von E-Waste, die als Nebenprodukt unserer tagtäglichen Vernetzung den Planeten belasten: „The digital revolution, as it turns out, is littered with rubbish“ (Gabrys 2013).

“Asunder” von Tega Brain, Julian Oliver, Bengt Sjölén in der Ausstellung “The Eternal Network”, Foto: Luca Girardini, transmediale

4. Brauchen wir eine neue Kosmologie für das digitale Zeitalter?

Nichts weniger als eine neue Kosmologie im Zeitalter der digitalen Vernetzung schlägt Timur Si-Qin vor. Mit seiner „New Peace“-Serie (seit 2016) entwickelt der Künstler und Philosoph die Idee eines säkularen Glaubens, der unsere Bezüge zum Nichtmenschlichen radikal neu denkt – jenseits der (westlichen) binären Dualismen von organisch/synthetisch, geistig/materiell oder natürlich/kulturell. Passenderweise schickt er uns in der Ausstellung auf eine Virtual Reality-Reise durch eine menschenleere, dystopisch anmutende Computerlandschaft, während uns eine weibliche Stimme die konzeptuellen Grundlagen dieser neuen Weltanschauung ins Ohr säuselt („A New Protocol VR (v 1.2)“, 2018): „New Peace is a new protocol to understanding one’s place in the vastness of time and space. A radically inclusive, secular faith of the real. A mysticism for the anthropocene that fosters a spiritual relationship to matter itself.” Mit VR-Brillen ausgestattet auf dem Weg zum Mythischen. Sieht so postdigitale Spiritualität aus?

5. Wird unser körperliches Empfinden grenzenlos?

Um die Entgrenzung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Körpern geht es auch der Künstlerin Johanna Bruckner in ihrer Videoinstallation „Molecular Sex“ (2020). Sie entwirft eine flirrende Welt, in der Plastik biologisches Leben verändert, in der nanotechnologisch produzierte Wesen mühelos ihr Geschlecht verändern, Menschen mit Empfindungs-Prothesen ausgestattet werden und Sexroboter die Grenzen menschlich-körperlicher Empfindung ausdehnen. Eine Welt, die nicht zuletzt an Donna Haraways post-humanistisches, feministisches A Cyborg Manifesto von 1983 erinnert. Überlagert wird das Ganze von Bildern eines Meerestiers, dem „Brittle Star“, der nur durch die Vernetzung mit der Außenwelt überlebt – das Tier besitzt kein eigenes Gehirn und verarbeitet alle Informationen durch molekulare Verbindungen mit anderen Körpern. Ausgerechnet eine Tiefseequalle wird so zum Symbol für digitale Vernetzung. Der Cyberspace erscheint so als ein „embodied space“, in dem hybride Körper und Netzwerke nicht mehr voneinander zu trennen sind.

“Molecular Sex” von Johanna Bruckner in der Ausstellung “The Eternal Network”, Foto: Luca Girardini, transmediale

6. Können wir digitale Technologie nutzen, um die Codes des Patriarchats zu hacken?

Diese Frage beschäftigt Cyberfeministinnen seit den 1990ern, die sich das World Wide Web als „saboteurs of big daddy mainframe“ kritisch aneigneten (VNS Matrix, 1991). Bis heute dominiert eine Geschichte des Internets, die vor allem von (weißen) Männern handelt. Mit dem von Mindy Seu zusammengestellten „Cyberfeminism Catalog 1990-2020“ präsentiert die Ausstellung ein wichtiges Gegennarrativ und führt diverse Positionen feministischer Netzkultur zusammen. Der Begriff des Cyberfeminismus dient dabei als Oberbegriff, der hinterfragt, erweitert und – durch Strömungen wie dem feministischen Afrofuturismus oder Hackfeministas sowie durch neue Begriffe wie TechnoFeminsm oder Glitch Feminism – verkompliziert wird. „This is not a book about women and technology,“ so schreibt Seu über den Katalog. „Nor was this book created for women. Throughout these pages, scholars, hackers, artists, and activists of all regions, races, sexual orientations, and genetic make-ups consider how humans might reconstruct themselves by way of technology. What is a woman anyway?”

7. Ist es Zeit für ein kollektives Network-Detox?

Das kritische, teils subversive Potential digitaler Netzwerke scheint heute überschattet zu werden von der Übermacht kapitalistischer Unternehmen. Dabei sind Facebook, Twitter und Co. keineswegs alternativlos. Auch das zeigt die Ausstellung: Im sogenannten „Fediverse“ (kurz für föderierte soziale Netzwerke) leben die Internet-Ideale der Anfangszeit wieder auf. Mit ihren dezentralen und offenen Strukturen wollen Netzwerke wie Mastodon eine Alternative zur Massenüberwachung „asozialer“ Medien bieten. Doch allein die Präsentation im Ausstellungsraum – schlichte Informationsgrafik und Low-Budget-Zine auf einem Schreibtisch – illustriert die marginale Bedeutung solcher alternativen sozialen Netzwerke. Wenn alle meine Freunde auf Facebook sind, erscheint die Welt im Fediverse auf einmal sehr einsam. Es ist schon paradox: Auch wenn die öffentliche Kritik an den kapitalistischen Sozialen Medien immer lauter wird, scheint ihr Einfluss nur größer zu werden; sie sind allgegenwärtig und geradezu unvermeidlich. Auch die Transmediale wird – selbstverständlich – über Facebook und Twitter beworben. Die Frage, die im Vorwort des Ausstellungsführers gestellt wird („Ist es Zeit für ein kollektives Network-Detox?“) bleibt daher eine rein rhetorische.

Die Ausstellung ist noch bis zum 1. März 2020 im Haus der Kulturen der Welt zu sehen.