Eine Interview-Reihe zum Theater der Gegenwart, seinen Strukturen, Kämpfen und Visionen
konzipiert und durchgeführt von Karina Rocktäschel und Theresa Schütz
Institutionen sind komplexe Gebilde, die soziales Verhalten regeln, normativ bewerten und relationale Beziehungsweisen des Affizierens und Affiziert-Werdens nachhaltig mitbeeinflussen und regulieren. Ihre Wirkungsweise ist mit gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prozessen aufs Engste verflochten. Deshalb stehen gesellschaftliche Umbrüche und der Ruf nach einem Wandel einzelner Institutionen häufig in engem Zusammenhang. Diese Interview-Reihe möchte sich verschiedenen Institutionen in Gesprächsformaten zuwenden und aktuellen Aushandlungsprozessen des Wandels nachspüren. Im ersten Teil steht die Institution (Stadt-)Theater im Fokus. Verschiedene Akteure aus der Szene geben Einblick in die Spezifik des Arbeitsumfeldes Theater, erläutern, welche Strukturen überwunden werden sollten, welche Themen derzeit hart umkämpft sind und welche Visionen es für ein (Stadt-)Theater der Zukunft gibt.
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Teil 1: Entwurf und gelebte Heterotopie: Das AYŞE X-Staatstheater
Den Auftakt macht der Regisseur und Autor Emre Akal. Er ist einer der Akteur:innen, die die Gründung des AYŞE X-Staatstheaters im Jahr 2019 initiiert haben. Im Gespräch mit Karina Rocktäschel reflektiert er über die Idee eines Theaters für alle.
Karina Rocktäschel: Wie seid Ihr zu der Idee AYŞE X-Staatstheater gekommen? Aus welcher Position heraus und mit welchem Hintergrund wurde sie entwickelt?
Emre Akal: Es ging uns um die Frage, wie man Theater neu denken kann, wie man es tatsächlich als Struktur neu begreifen kann. Und wie man die Mechanismen, die bis jetzt im Theater gängig waren, anders denken könnte. Uns war relativ klar, dass wir gerade nicht über diese Debatten von Diversität usw. reden möchten, sondern aus einem Zukunftsgedanken heraus dieses Projekt entwickeln und uns fragen wollen: Wie könnte das Theater aus einer Wunschvorstellung heraus in zehn Jahren aussehen? Wie würden wir miteinander arbeiten, wenn das Miteinander weniger von oben herab bestimmt wird? Wie können wir Schutzräume für Mitarbeitende bauen? Was für ein System könnte man schaffen, um Schauspieler:innen zu schützen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen? Wer entscheidet was für wen gezeigt wird? Und wie kann man dieses Medium Theater zu einem wahrhaftig öffentlichen Raum machen, der nicht nur für ein bestimmtes Publikum gedacht ist, sondern als Gebäude ein öffentlicher Raum ist, der für alle zugänglich ist.
KR: Was ist das AYŞE X-Staatstheater genau – ein Projekt, ein Entwurf oder ein Theoriekonzept?
EA: Um diesen Entwurf zu erstellen, haben wir uns erst einmal mit ganz vielen Künstler:innen deutschlandweit verbunden. Am Ende waren wir eine Gemeinschaft von ungefähr 85 Künstler:innen bundesweit, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten kommen, die an Institutionen arbeiten, diese leiten oder in der Freien Szene tätig sind. Unser Hauptpunkt war das Interesse für eine strukturelle Veränderung. Und all das Wissen dieser Menschen ist in den Entwurf eingeflossen, den wir im November letzten Jahres vorgestellt haben. Es gab eine Eröffnungsfeier in München mit vielen Keynotes, Workshops, kleinen Performances und einer Premiere. Das hat uns viel Aufmerksamkeit eingebracht, denn es kam unerwartet, dass sich plötzlich eine Gruppe von Menschen formiert, die ein Staatstheater gründet und sich damit zunächst jener Institutionsbezeichnung ermächtigt. Es geht uns um Ermächtigung, um Empowerment, darum, sich Räume zu nehmen. „Staatstheater“ in Kombination mit „AYŞE X“. Ayşe ist eine Frau, die in München lebt, für uns ein Idol darstellt, bislang aber kaum gesehen wurde. Und dieser Bruch in der Kombination von AYŞE und Staatstheater hat Aufsehen erregt. In erster Linie ging es uns um die Frage nach Strukturen und ihren Machtverhältnissen: Wie kann man Machtverhältnisse aufbrechen und Verantwortung an unterschiedlichste Stellen abgeben? AYŞE X-Staatstheater ist ein fluides System. Es ist eben nicht das eine Haus bzw. Gebäude, das das Theater repräsentiert. AYŞE X-Staatstheater ist unabhängig, raumunabhängig. Eine Heterotopie.
KR: Habt Ihr mit Ayşe Çetin, der Schauspielerin und Aktivistin, deren Namen ihr verwendet, auch zusammengearbeitet?
EA: Ja, wir haben viele Gespräche mit ihr geführt und sie war auch ein Teil unserer Eröffnungsfeier. Sie hat eine Ansprache gehalten und dann symbolisch den Schlüssel des Theaters überreicht bekommen. Diese Sichtbarkeit für Sie – aber auch für andere Beteiligte – war für mich persönlich die wichtigste Errungenschaft. Das war nur durch einen Akt der Ermächtigung möglich. Es ging um die Kreation einer neuen Gegenwart, mit den Mitteln der Gegenwart und Vergangenheit, aber aus der Zukunft gedacht.
KR: Und wie sieht die Struktur Eures Staatstheaters aus?
EA: Zunächst ging es um die Frage, wie ist das Theater heute aufgebaut und wie Abteilungen im Theater strukturiert sind. Wir haben die Sprache des Theaters benutzt und sie deformiert. Wir benutzen das Wort „Häuser“ und deformieren es zu „Houses“. Houses sind für uns Vereinigungs- und Interessensräume. Sie bilden die Grundstruktur unseres Staatstheaters. Sie sind deswegen Houses, weil sie in jeder Weise ein Zuhause sein sollen. Aber auch weil die Menschen, die darin aktiv sein könnten, die Verantwortung dafür tragen müssten. Und auch die englische Begrifflichkeit ist ganz bewusst gewählt. Im Deutschen hat beispielsweise „Haus des Schauspiels“ eine andere Intonation als „House of Performing“. Letzteres scheint uns sehr viel offener zu sein und bietet sehr viel mehr Raum für unterschiedliche Formen, Ästhetiken und Sprachen. Innerhalb aller Häuser sollten Themen verhandelt werden, aber nicht nur Themen, sondern auch Fragen, zum Beispiel: Welche Arten von Zusammenarbeit möchten wir haben? Welche Probleme haben wir? Was fordern wir? Das heißt jedes House hätte das Recht, etwas von der gesamten Institution zu fordern sowie darin einzubringen. Und jedes House hätte eine:n eigene:n Sprecher:in, der/die gewählt oder ausgelost werden.
KR: Jedes Theater besteht ja nicht nur aus einer produzierenden Struktur, sondern auch aus einer konsumierenden. Gibt es bei Euch Gedanken zum Publikum?
EA: Ja, es gibt im Konstrukt auch ein „House of Publikum“, wo Gäste das Recht haben, ihre Themen einzubringen und Forderungen zu stellen. Entscheidungen werden transparent gemacht. Zahlendes Publikum sollte nicht außen vor gelassen, sondern bei Interesse aktiv in Gedanken- und Austauschprozesse einbezogen werden. Damit versuchen wir, den Raum als öffentlichen Raum zu denken. Und wenn unser Theater ein öffentliches Gebäude wäre, wäre es ein Raum, der dem Publikum offen stände für einen Kaffee, ein Gespräch oder andere Aktivitäten wie z.B. Kurationen des Publikums.
KR: Ihr wollt nicht nur das Publikum einbeziehen, sondern auch in die Stadt gehen und danach fragen, was die Stadt eigentlich interessiert. Das finde ich deswegen bemerkenswert, weil Institutionen ja oft gerade nicht so funktionieren. Üblicherweise bewegt man sich zu ihnen hin, wobei nicht alle Menschen gleichermaßen Zutritt haben.
EA: Das ist ein wichtiger Punkt. Was bedeuten Theatergebäude? Wenn ein Theater zu einem öffentlichen Ort werden soll, darf es nicht nur an einem Gebäude hängen, sondern es müsste sich verschiedenster Räume bemächtigen. Wir haben so viele und gleichzeitig auch überhaupt keine Räume, die man nutzen kann. Zudem gibt es sehr viele Menschen in unserer Gesellschaft, die zu sehr vielen Räumen aus unterschiedlichsten Gründen überhaupt gar keinen Zugang haben. Deswegen ist es absolut wichtig, dass das Theater verschiedene Räume sein Eigen nennt und dabei auch in ständiger Verbindung mit der Stadt steht. Man muss sich von der Hierarchie der Räume, von Statusgruppen und damit verbundenen Rollen befreien.
KR: Stellen wir uns vor, es gäbe dieses zukünftige Theater schon, wie würdest Du dessen Atmosphäre beschreiben?
EA: Es ist ein Ort, an dem man mit viel Respekt behandelt wird. Wie kann man Mitarbeitenden das Gefühl geben, dass sie wertvoll sind, was müsste man ihnen bieten? Braucht es ein Bett? Braucht es eine Küche? Braucht es einen Ort des Rückzugs? Das gleiche gilt auch für die Büroräume. Wenn es keine Intendant:innen mehr gibt, wie teilt man die Räume dann auf? Teilt man sie nach der Wichtigkeit der Person oder lieber nach thematischen Schwerpunkten auf? Wenn wir über Gender sprechen, über Queerness, Diversität usw. fällt ein Aspekt ganz oft unter den Tisch und das ist die Frage, wie man Menschen die Möglichkeit geben kann, künstlerisch zu wachsen, künstlerische Persönlichkeiten hervorzubringen. Momentan sind wir noch mit dem Reden beschäftigt. Es passiert vereinzelt etwas, aber noch viel zu wenig.
KR: Ich habe gelesen, dass Ihr Euch anderen Institutionen gegenüber öffnen wollt. Welche habt Ihr da im Blick?
EA: Alle, die da sind. Wir müssen uns mit Bildungsinstitutionen zusammentun. Man müsste bis zur ersten kindlichen Ausbildung gehen und sich theoretisch bereits mit Kindergärten verbinden, mit Schulen und erstmal die Frage stellen, was wir dort ge- und was ent-lernt haben, was aber eigentlich wichtig wäre. Es gibt Kräfte, die einen Wandel versuchen wie z.B. die Münchner Kammerspiele unter Barbara Mundel oder das Theater Dortmund unter Julia Wissert. Das AYŞE X-Staatstheater ist keine Anti-Institution, sondern eine Institution, die vor allem aus der Verbindung mit anderen Institutionen heraus wachsen könnte. Beispielsweise hätten Schauspieler:innen von AYŞE X auch immer die Möglichkeit, mit anderen Theatern zu kooperieren und das, was sie im AYŞE X-Staatstheater entlernt haben, weiterzutragen. Und insofern ist es kein Entwurf, der sich verschließt.
KR: Das heißt, Menschen können AYŞE X in andere Lebensbereiche, andere Institutionen und Räume einbringen. AYŞE X wird durch einen Prozess der steten Verbreitung zur Institution, nicht lediglich durch einen Gründungsakt. Das scheint mir ein großer Unterschied zur konventionellen Institution zu sein, die seit ihrer Gründung besteht. Euer fluides Konstrukt übersteigt – meiner Ansicht nach – auch den Begriff der Heterotopie, der für Euch allerdings wichtig ist, oder?
EA: Das Konzept der Heterotopie ist für uns schon wichtig gewesen, vor allem, um uns von Utopien abzugrenzen. Denn eine Utopie ist das, was meistens leider nicht funktioniert. Deshalb ist es eine Heterotopie als Behauptung eines existenten Ortes, den vielleicht nicht alle sehen können, der aber vorhanden ist. Und darin liegt auch die Kraft, die sich mit gängigen Parametern von festen Orten oder Räumen nicht zwingend greifen lässt. Weil es ausgesprochen ist, ist es in der Welt.
KR: Zudem scheint mir das AYŞE X-Staatstheater – wenn auch nur ansatzweise – von einzelnen Personen gelebt zu werden, oder?
EA: Ich würde sagen, „gelebt werden“ funktioniert bei ganz vielen Menschen auf einer gedanklichen Ebene. Und genau das formiert auch das AYŞE X-Staatstheater. Unser Gespräch ist ein Beleg dafür, dass es weiter lebt. Wenn jemand aus dem AYŞE X-Team an der Universität eine Forschungsarbeit macht, dann lebt es dort weiter und auch wenn eine Kollegin in einem Vortrag darüber erzählt, lebt es weiter.
KR: Das heißt, wir alle sind AYŞE X, wenn wir die Struktur befürworten und zu ihrer Sichtbarkeit beitragen. Eine letzte Frage zum Abschluss: Hat die Corona-Pandemie Euren Entwurf verändert?
EA: Corona hat unseren Entwurf hinsichtlich der Frage nach Dezentralität verstärkt. Es hat aber auch vieles zunichte gemacht, was an Vorhaben da war. Gerade weil wir mit vielen Menschen verbunden waren, die risikogefährdet sind, können wir uns momentan nicht zusammentun und an weiteren Manifestationen arbeiten.