Affect Me. Social Media Images in Art – ein Zeug*innenbericht

Rabih Mroué, The Pixelated Revolution, 2012, Part 1 of the series The Fall of a Hair, 2012 (video still). Video, Farbe, Ton, Bildschirm mit Countdown | video, colour, sound, countdown screen, 21:58 min, Courtesy der Künstler | the artist & Sfeir-Semler Gallery, Beirut & Hamburg

Der Kunstraum KAI 10 der Arthena Foundation befindet sich im Düsseldorfer Hafen, der in den letzten Jahren mit ambitionierten Architekturprojekten immer mehr an Beliebtheit gewann. Unter der Woche trifft sich hier die Medienbranche, doch an einem winterlichen Wochenende spiegeln die schillernden Fassaden leere Straßen.

Diese Stille trifft im KAI 10 plötzlich auf buntes Stimmengewirr. Wir folgen ihm durch den Eingangsbereich und befinden uns schon inmitten der Installation Be Realistic, Ask for the Impossible (2017) von Lara Baladi, die ihre Besucher*innen auf den Tahrir-Platz in Kairo transportiert. An bunten Wänden hat die Künstlerin großformatige Zeichnungen, collagierte Medienbilder und flirrende Bildschirme angebracht. Es ist die ägyptische Revolution 2011, mit der uns Baladi hier konfrontiert, die sogenannte „Facebook-Revolution“, bei der Informationen und Bilder in einem bis dahin ungekannten Ausmaß in den sozialen Medien zirkulierten. So zeigen Baladis Videoarbeiten auch nicht nur die offiziellen Nachrichtenbilder, sondern ebenso Amateuraufnahmen und YouTube-Videos, die den zivilen Augenzeug*innen und Online-Communities eine neue politische Macht verleihen.

Affect Me. Social Media Images in Art heißt die Ausstellung, in der Baladis Arbeit zu erleben ist. Sie wurde von Julia Höner (KAI 10) und Kerstin Schankweiler (FU Berlin) kuratiert und ist noch bis zum 10. März 2018 zu sehen. Der Titel deutet auf das Potenzial von Bildern in den sozialen Medien, ihre Betrachter*innen zu affizieren. Affekte bezeichnen in der Psychologie gemeinhin intensive und kognitiv wenig kontrollierte Gemütserregungen. Entgegen dieser individualistischen Perspektive interessierte sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts vor allem für die körperliche und relationale Dimension, d. h. für das Vermögen des Körpers, zu affizieren und affiziert zu werden, so Gilles Deleuze. Der Affekt sei eine Kraft, der die Grenzen des Körpers verschiebe, ihn einem Gegenüber öffne und mit ihm verbinde (Deleuze, 1988). Auch die Kunst könne eine solche affektive Erfahrung ermöglichen, wenn sie sich von der repräsentativen Darstellung löse und stattdessen Intensitäten produziere. In diesem Sinne zitiert Deleuze auch wiederholt Francis Bacon, der „eher den Schrei als den Schrecken malen“ wollte (Deleuze, 1995: 41).

Mit dieser affektiven Empfänglichkeit setzt sich auch Thomas Hirschhorn auseinander. Seine Skulptur Subjecter (Katastrophé) (2010) geht die Besucher*innen im wahrsten Sinne des Wortes körperlich an: Eine Schaufensterpuppe tritt uns in einem langen Kleid entgegen, das mit zahlreichen Fotografien beklebt ist. Diese wirken in der Masse rauschhaft und verstörend: Es sind Aufnahmen leidender Menschen in Krisensituationen. Ihre Quellen und Kontexte bleiben offen, der Großteil unterscheidet sich jedoch von den noch erträglichen Bildern, die durch die Filter der großen Medien gelangen. Hirschhorn geht es nicht darum, Geschichten zu erzählen, sondern den blanken Horror spürbar zu machen.

In diesem Punkt lässt sich die Videoarbeit von Rabih Mroué vergleichen. Der Künstler stellt eine Aufzeichnung seiner Lecture-Performance The Pixelated Revolution (2012) aus, in der er Handyvideos aus dem syrischen Bürgerkrieg zeigt. Wir blicken mit der filmenden Person auf das verwirrende Geschehen, die Person selbst sehen wir nicht. Plötzlich verwackelt das Bild, Geschrei ist zu hören, und der Bildschirm wird schwarz. In dieser Sekunde wird deutlich, dass sich die Person hinter der Kamera im Visier von Scharfschütz*innen befand und das Video vermutlich den Moment ihres Todes festhält. Dabei erlauben die unscharfen Bilder keine genauen Aussagen zum Ort oder zu den Beteiligten, doch wohnt ihnen ein Authentizitätsversprechen inne, das uns zu Zeug*innen des Geschehens macht.

Die verpixelte Ästhetik digitaler Bilder zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Bei Thomas Ruffs Arbeit jpeg ny11 (2006) handelt es sich um eine Fotografie der Ruine des World Trade Centers, die der Künstler im Internet gefunden hat. Diese vergrößerte er auf fast zwei mal zwei Meter, sodass die Pixel des für Onlinezwecke komprimierten Bildes deutlich hervortreten. 9/11 fällt in die Zeit vor den sozialen Medien, stellt aber das erste Ereignis dar, das uns primär über medial vermittelte Bilder erreichte. Ruffs Vergrößerung verdeutlicht, dass diese Medienikonen im Grunde nicht viel zeigen, und doch über ein hohes Affizierungspotenzial verfügen, das eine globale Gemeinschaft derer ermöglicht, die nicht das Geschehen vor Ort, sondern das mediale Ereignis bezeugen.

Das Objekt, das uns Lynn Hershman Leeson zeigt, scheint tatsächlich an einem Ort des Geschehens gewesen zu sein: Seine Oberfläche ist nicht verpixelt, sondern zersplittert. Mitten im Ausstellungsraum hat die Künstlerin auf einem Sockel ein iPhone positioniert, das von einer trüben Scheibe umgeben ist (iPhone Crack (August Moon), 2014). Nähern sich die Besucher*innen, wechselt das abgespielte Video von der Außenscheibe auf den eigentlichen Bildschirm und macht seine Zerstörung sichtbar. Dieses Objekt lässt uns auf zweifache Weise an seiner Geschichte teilhaben, die um die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA kreist: Sobald uns der Bewegungsmelder vor dem Handy erfasst, werden wir  zum einen mit den lauten Bildern und Geräuschen der Straßenkämpfe konfrontiert. Zum anderen bezeugt das Handy selbst durch seinen zerstörten Körper die gewaltvollen Auseinandersetzungen.

Neben diesen Arbeiten, die sich die affizierende Wirkung der Bilder unmittelbar zunutze machen, zeigt die Ausstellung eine zweite Gruppe, die sich analytischer Strategien bedient. Randa Maroufi etwa untersucht Praktiken der Selbstdarstellung in den sozialen Medien. In ihrem Kurzfilm Le Park (2015) bewegt sich die Kamera langsam durch einen verlassenen Freizeitpark in Casablanca. Im Hintergrund sind Stimmen zu hören, eine Radiosprecherin berichtet von Kriminalität im Internet. Als die Kamera um eine Ecke biegt, stoppt plötzlich der Ton und Personen werden sichtbar: Jugendliche stellen einen Messerkampf dar, zum Tableau vivant erstarrt. Die Kamera umkreist sie wie ein Untersuchungsobjekt – ihre Markenkleidung, Handys, Waffen – und liefert verschiedene Blickwinkel auf die Gruppe. Die Bilder, die hier und in den kommenden Räumen re-inszeniert werden, entstammen den sozialen Medien. Sie thematisieren jugendliche Profilierung und Gewaltverherrlichung im Netz sowie die Rezeption dieser Bilder, die reale Konsequenzen wie Kriminalisierung und Festnahmen nach sich zieht.

Auch Irene Chabr setzt sich mit den Funktionsweisen von Bildern in den sozialen Medien auseinander. Mit ihrer Installation Wandernde Gesten II (2017) untersucht sie Selfie-Proteste, bei denen die fotografierten Personen ein Schild mit einer politischen Botschaft in die Kamera halten. Chabr sammelt diese Fotografien, löscht aber die Schrift aus, wodurch das bedeutungstragende Element verschwindet und die Gesten stärker hervortreten. Dabei werden einfache Bildformeln sichtbar, die immer neue Nachstellungen anregen. Doch auch Unterschiede manifestieren sich, etwa im Hinblick auf die Authentizität der Protestierenden oder die Funktion der Bilder. So entstammen einige Beispiele der Werbeindustrie, die sich die Bildsprache der sozialen Medien für ihre kommerziellen Zwecke aneignet.

D. H. Saur interessiert sich vor allem für die Interaktion von Bildern im Netz. Mit Hope 2008–2017 (2008–2017) visualisiert er, wie sich Barack Obamas Wahlplakat „Hope“ in den sozialen Medien viral verbreitete und zahlreiche Meme hervorrief. Auf einem großen Papierbogen sortiert und annotiert der Künstler die einzelnen Variationen und zeichnet die Zusammenhänge und Entwicklungslinien kartografisch nach. Damit ermöglicht er einen Überblick über Aneignungen und Verschiebungen, verdeutlicht aber auch, dass die komplexen Bildordnungen der sozialen Medien nur bedingt linear erfasst werden können.

Die wissenschaftlichste Position der Ausstellung präsentiert schließlich Forensic Architecture. Die Forschungsgruppe analysiert politische Verbrechen auf Grundlage sehr unterschiedlichen Bildmaterials, nicht selten aus den sozialen Medien. Mit ihrer Arbeit Air Strike Atimah (2015) zeigt die Gruppe, wie sie den Ort und Hergang von drei Bombenangriffen an der syrisch-türkischen Grenze mithilfe des Foto- und Videomaterials ziviler Augenzeug*innen rekonstruieren konnte. Ein Modell der Explosion überführt die Bilder zudem in ein dreidimensionales Untersuchungsobjekt.

Damit schließt Forensic Architecture den Bogen dieser Ausstellung, die ein umfangreiches Spektrum der politischen Wirkmacht von Bildern in den sozialen Medien vor Augen führt. Dieses reicht von der Erschaffung affektiver Gemeinschaften über die Ermächtigung ziviler Zeug*innen bis hin zur investigativen Forschung. Die Ausstellung beleuchtet die Funktionsweisen dieser Phänomene, aber auch die Erwartungen und Versprechen, die sie im Namen der sozialen Medien formulieren. So werden wir mit neuen Blickwinkeln und visionären Ideen entlassen, doch ebenso mit kritischen Fragen.

 

Literatur:

Deleuze, Gilles. 1988. Spinoza: Praktische Philosophie. Berlin: Merve Verlag.

Deleuze, Gilles. 1995. Francis Bacon: Logik der Sensation. München: Wilhelm Fink Verlag.