Eine zentrale These des Sonderforschungsbereichs 1171 ist, dass Affective Societies kein reines Gegenwartsphänomen sind. Wie der vorherige Beitrag zur Frage von Empörung als politischer Emotion zu zeigen versucht hat, werden Gesellschaften seit jeher fundamental von affektiven Dynamiken geprägt, die sich erst im historischen Verlauf formieren und sukzessive ihre Gestalt verändern können. Dies zeigt sich exemplarisch an den aktuellen medialen Debatten um den Rücktritt des deutschen Fußballnationalspielers Mesut Özil. Während Özils Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu einem Spiegelbild für eine angebliche gescheiterte Integration von Migrant*innen muslimischer und türkischer Herkunft stilisiert wurde, ist sein Eintritt in die Nationalmannschaft im Jahr 2010 noch unter umgekehrten Vorzeichen diskutiert worden. Hier galt die DFB-Elf als Muster für eine diverse Gesellschaft, in der Personen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen.
An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie sich die affektive Kontur des migrationspolitischen Diskurses in den letzten Jahren verschoben hat, nicht zuletzt im Zuge des ,langen Sommers der Migration‘ (Hess et.al. 2016). Allerdings ist bereits die Erfolgsgeschichte, die um Messt Özils Debüt im Jahr 2010 gestrickt wurde, eingebettet in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Migration, die sich vor allem an Thilo Sarrazins im selben Jahr erschienenen Buch „Deutschland schafft sich ab“ entzündeten. Er vertritt darin wissenschaftlich unhaltbare Thesen, nach denen sich muslimische Migrant*innen pauschal nicht in das deutsche Bildungssystem einfügen würden, der deutschen Wirtschaft schadeten und geltendes Recht nicht akzeptierten.
Vor diesem affektpolitischen Hintergrund lohnt sich ein erneuter Blick auf die Aufführung „Verrücktes Blut“ des Berliner Ballhaus Naunynstraße, die sich im selben zeitlichen Horizont wie Sarrazins Pamphlet und Özils Debüt bewegt. Sie feierte im September 2010 Premiere und wurde zum Überraschungshit der Saison, der bis heute, mittlerweile am Maxim-Gorki-Theater, gespielt wird. Der Erfolg dieser Inszenierung scheint mitverantwortlich dafür, dass der am Ballhaus Naunynstraße geprägte Begriff des Postmigrantischen Theaters Einzug in Diskurse des Feuilletons und der Wissenschaft fand.
Während die Entstehungs- und Probenzeit von „Verrücktes Blut“ mit der WM 2010 zusammenfällt, reagiert das Stück inhaltlich auf die damaligen Debatten um Thilo Sarrazins Thesen. Dabei vertritt es auf paradigmatische Weise die Programmatik eines postmigrantischen Theaters, das „die Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationsintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen“, sichtbar machen will. Zugleich geht es hier um eine institutionelle Kritik an der Diskriminierung und Exklusion von Menschen mit Migrationshintergrund, die oftmals – wie im Falle von Sarrazins Biologismen – rassistisch strukturiert sind. Im Folgenden soll nachvollzogen werden, mit welchen Mitteln die Aufführung auf das Integrationsparadigma Bezug nimmt und es kritisch auf die Partizipationsmöglichkeiten in der deutschen Theaterlandschaft ummünzt. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei der paradoxe Bezug auf die auf das 18. Jahrhundert zurückgehende aufklärerische Vorstellung der Schaubühne als einer moralischen Anstalt, die zur ästhetischen Erziehung und Besserung des Menschen im Dienste der Humanität beitragen soll.
Bei “Verrücktes Blut” handelt es sich um ein von Regisseur Nurkan Erpulat und Dramaturg Jens Hillje in Improvisationen mit den Darsteller*innen entwickeltes Stück, das sich lose an dem französischen Film “La Journée de la Jupe” orientiert. In diesem Film kommt es in der Schule eines Pariser Banlieues zu einer Geiselnahme durch eine von ihrer Klasse überforderte Lehrerin. In der Theateradaption sieht sich die Deutschlehrerin Sonia Kelich auf ähnliche Weise mit einer so genannten Problemklasse – gemeint ist eine Schulklasse mit hohem Anteil an Kindern mit türkischem oder arabischem ‚Migrationshintergrund’ – konfrontiert. Auf dem Lehrplan steht Friedrich Schillers kanonisches Sturm-und-Drang-Stück “Die Räuber”, das vor dem Hintergrund einer Familienfehde und einer Bande von rebellischen Außenseitern jugendliches Freiheitsstreben und das Aufbegehren gegen überkommene gesellschaftliche Normen und Werte verhandelt. Während die Lehrerin denkt, dass dieses Thema ihren Schüler*innen einiges zu sagen haben müsste, verhalten sich diese maximal desinteressiert, wobei insbesondere die männlichen Schüler ihre Lehrerin nach Kräften provozieren. Nach einer Eskalation der Lage hält Sonia Kelich plötzlich unerwartet die Pistole eines Schülers in ihren Händen. Damit zwingt sie ihre Schulklasse nun, Szenen aus dem Stück zu proben, um ihnen mit Gewalt die bürgerlichen Ideale Schillers sowie eine korrekte deutsche Aussprache und überhaupt endlich einmal Respekt und Anstand einzubläuen.
Während diese Konstellation bis hierhin der Filmvorlage ähnelt (dort steht allerdings Molière auf dem Stundenplan), weicht die Aufführung im Grundton und in der Stoßrichtung entscheidend vom Original ab. Denn wo der Film ein von Kriminalität und Chauvinismus geprägtes Bild junger Menschen mit Migrationshintergrund aufruft, mit der Lehrerin sympathisiert und einen tragischen Verlauf nimmt, ist „Verrücktes Blut“ in vielerlei Hinsicht als eine Farce angelegt. Anstatt nämlich ein ‚realistisches‘ Bild zu zeichnen, eignen sich die Darsteller*innen den Habitus und Sprachduktus, der deutsch-türkischen Jugendlichen zugeschrieben wird, in einer betont grellen Weise an. Klischeebeladene Figuren wie der chauvinistische Gangsterjunge oder das verschüchterte Kopftuchmädchen, aber auch die zunächst verklemmte, dann immer aggressiver auftretende Lehrerin sind beinahe als Abziehbilder angelegt, die in teilweise bizarr zugespitzten Situationen aufeinandertreffen.
Dieser betont künstliche Gestus verdichtet sich einerseits in mehreren Interludien, in denen das Ensemble unvermittelt Schubert-Lieder anstimmt, andererseits in der starken Markierung des Theaterrahmens zu Beginn und gen Ende der Aufführung. So ziehen die Darsteller*innen anfangs auf offener Bühne ihre Kostüme an, treten dann in klischeehaften Posen vor das Publikum und werden, wie es im Textbuch heißt, vor den Augen der Zuschauer*innen zu „Kanaken“. Dieses Muster wiederholt sich am Schluss, wenn es zu einer ironischen Aufkündigung der vierten Wand kommt. Nach der Schlusspointe, die eröffnet, dass die Lehrerin Sonia Kelich selbst eine assimilierte Migrantin ist, scheinen die Akteure sich plötzlich beobachtet zu fühlen. Sie adressieren das Publikum nun direkt, erklären den ‚Unterricht’ ein zweites Mal für beendet und beschließen, gemeinsam ‚Döner essen zu gehen‘, während einer der Akteure ins Publikum ruft: „Was seht ihr in mir? Einen Türken oder einen Schauspieler?“.
Es ist vor allem dieses metatheatrale Spiel-im-Spiel-Moment, das die politischen Potentiale der Aufführung bestimmt. So wird von Anfang an die Künstlichkeit existierender Klischees über migrantische Schüler*innen, wie sie insbesondere die Lehrerin aufruft, markiert. Damit beziehen sich die hier nur angerissenen inszenatorischen Zuspitzungen in „Verrücktes Blut” zwar auf die Frage der Inklusion durch kulturelle Bildung, aber nicht ohne zugleich auf die problematische Kehrseite von simplifzierenden Topoi wie ,Kopftuchmädchen‘ und ,Gangsterjungen‘ aufmerksam zu machen. Kulturell codierte Vorstellungen über unterdrückte und gewaltbereitete Jugendliche werden vielmehr als Teil eines gesellschaftlich verankerten Blickregimes behandelt, womit nicht zuletzt ein naives bildungsbürgerliches Verständnis von Theater als „Modell einer politisch handlungsfähigen, aufgeklärten Gesellschaft“attackiert wird. Denn vor diesem Hintergrund erscheint das Theater keineswegs als eine privilegierte pädagogische Reflexionsinstanz für migrationspolitische Themen. Vielmehr wird darauf aufmerksam gemacht, wie gängige Muster der Fremdzuschreibung den Spielraum für im doppelten Sinn migrantische ‚Akteure‘ begrenzen. Es gehört zu den interessanten künstlerischen Paradoxien von „Verrücktes Blut“, dass sie dieses Plädoyer für Theater als Möglichkeitsraum im zwanghaften Einstudieren von Schillers Drama entfaltet. Denn damit wird zum einen danach gefragt, wer auf der Theaterbühne vertreten wird und zum anderen problematisiert, dass es dabei auch auf das Wie ankommt.
Im Zuge seiner Rücktrittserklärung dieser Tage übt Mesut Özil scharfe Kritik am DFB-Präsidenten Reinhard Grindel. Auch wenn es nur ein Aspekt einer komplexen Gemengelage ist, ist doch interessant, dass Özil darin die Konditionierung von migrantisch geprägten Identitäten beklagt, die auch „Verrücktes Blut“ thematisiert. So heißt es bei ihm: „In den Augen von Grindel und seinen Unterstützern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen – und Immigrant, wenn wir verlieren“. Auch wenn Theaterwissenschaftler*innen mit Vergleichen von Fußball und dem nicht-agonalen Spiel des Theaters tendenziell vorsichtig sind, lässt sich hier doch einer ziehen. Denn in beiden Fällen wäre eine Pluralisierung von Rollenangeboten und Wahrnehmungsweisen wünschenswert.
Dieser Beitrag ist Teil der Themenreihe Affekt, Emotionen und das Politische.
Literatur:
Hess, Sabine/ Kasparek, Bernd/ Kron, Stefanie/ Rodatz, Mathias/ Schwertl, Maria/ Sontowski, Simon (Hg.) (2016): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin: Assoziation A.
„Verrücktes Blut“. Regie: Nurkan Erpulat, Text: Jens Hillje und Nurkan Erpulat. UA: 02.09.2010. Berlin, Ballhaus Naunynstraße.