Seit Anfang des Jahres 2018 forschen Soziolog*innen, Psycholog*innen und Psychiater*innen der Freien Universität Berlin, der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und der Georg-August-Universität Göttingen gemeinsam an Fragestellungen zur Rolle von Emotionen und Werten in Integrationsprozessen. Das Projekt „Affektive und kulturelle Dimensionen von Integration infolge von Flucht und Zuwanderung“ (kurz AFFIN) wird in den nächsten drei Jahren, u.a. basierend auf neuen Daten aus der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten, Themen wie Risikofaktoren psychischer Gesundheit, Einstellungen, Sorgen, Werturteile oder Spracherwerb als Dimensionen von Integration untersuchen. Das Interesse für Emotionen und Affekte als Forschungsgegenstand hat seinen Ursprung auch in der erfolgreichen Zusammenarbeit im Sonderforschungsbereich 1171 „Affective Societies“.
Das AFFIN-Verbundprojekt schöpft aus dem Zusammenspiel der vier Teilprojekte, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte wie Geflüchtete oder Aufnahmebevölkerung bzw. Mikro- oder Makroebene fokussieren. In einer gemeinsamen Gesprächsrunde, haben der Soziologe Christian von Scheve (Verbundprojektkoordinator, Freie Universität Berlin), der Psychiater Eric Hahn (Teilprojektleiter, Charité Berlin), die Psychologin Lena Walther (Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité, CBF, Berlin) und die Soziologin Katja Schmidt (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIW) sich ausgetauscht über Forschungsziele, interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Umgang mit politisch-sensiblen Forschungsinhalten.
Zur Entstehung und Zielen des Projekts
Christian von Scheve: Ich habe eigentlich die ersten Gedanken gehabt durch Forschungsfragen aus dem Sonderforschungsbereich „Affective Societies“: Was passiert eigentlich mit Emotionen und Affekten unter Bedingungen von Mobilität, Transnationalität und Globalisierung? Von dieser Warte aus ergibt sich natürlich auch eine spannende Fragestellung für Zugehörigkeit und Migration. Dazu kommt, dass besonders in öffentlichen Debatten oftmals eine Art „Rezeptwissen“, etwa über deutsche Geschichte, politische Institutionen, Werte und Umgangsformen, als Allheilmittel von Integration gesehen wird. Spracherwerb ist ohne Zweifel wichtig, aber bislang wurde in den Sozialwissenschaften die Emotionalität und Affektivität von Migrant*innen und Geflüchteten kaum berücksichtigt. Welche Bedeutung haben Flucht und Migration für Gefühle von Zugehörigkeit und Fremdheit und was bestimmt im Aufnahmeland das Wohlbefinden von Geflüchteten? Und welche Rolle spielen Emotionen für die unterschiedlichen Facetten von Integration? Unsere These ist, dass wir Integration nur bruchstückhaft erfassen, solange wir diese affektive Dimension nicht in den Blick nehmen.
Eric Hahn: Wir wollen herausfinden, welche Migrations- und Integrationsbedingungen sich günstig auf die psychische Gesundheit auswirken und, im Umkehrschluss, wie wir mögliche Risikofaktoren identifizieren können. Wissenschaftlich wurden hier insbesondere die emotionale und affektive Ebene nicht ausreichend berücksichtigt. Im psychiatrisch-psychologischen Teilprojekt an der Charité schauen wir uns daher genauer an, wie sich Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung, aber auch unterschiedliche Ankunfts- und Aufnahmebedingungen auf psychisches Wohlbefinden auswirken. Der Projektverbund selbst geht auch auf einen Call des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zurück. Nachdem wir ihn gelesen haben, war uns schnell klar: Okay, das passt thematisch, dazu können wir etwas beitragen. Das Thema hat eine hohe gesundheitspolitische Relevanz, die wir auch in der täglichen Arbeit spüren.
Lena Walther: Als ich zu dem Projekt dazu gekommen bin, da gab es schon die erste Fassung des Antrags. Für mich war sofort die Interdisziplinarität, die Datengrundlage und die Ergänzung bzw. Abdeckung der Fragestellungen durch die verschiedenen Teilprojekte ansprechend.
EH: Und ihr hattet ja, Christian und du, schon vorab an einer ähnlichen Fragestellung mit Daten aus dem sozioökonomischen Panel (SOEP) in Zusammenarbeit mit dem DIW gearbeitet, oder?
CvS: Ja, Lena kam mit einem Hintergrund aus der Psychologie, aber Interesse an Fragestellungen, wie sie das Projekt untersucht, zu mir. Ich habe dann den Kontakt zur Charité hergestellt und dann hat sich das eigentlich glücklich gefügt.
LW: Ja, ich hatte sogar gleichzeitig bei der FU Berlin und der Charité nachgefragt – und dann hieß es: Ach ja, wir arbeiten schon gemeinsam an sowas.
Alle lachen.
Über die Zusammenarbeit von Psycholog*innen und Soziolog*innen
CvS: Na ja, ich glaube es gibt eine relativ klassische Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Psychologie. Die Psychologie – ach je, jetzt komm ich in Teufelsküche (lacht) – beschäftigt sich tendenziell eher mit Fragen, die auf der Ebene von Individuen angesiedelt sind, in unserem Projekt insbesondere mit Fragen von Krankheit und Stressempfinden. Die Soziologie nimmt eher Fragen in den Blick, die soziale Strukturen, Gruppen, Institutionen und dergleichen zum Gegenstand haben. Zwischen beiden Perspektiven gibt es etliche Schnittpunkte, wenn sich z.B. die Soziologie mit den Individuen befasst, ohne die Gruppen und Institutionen kaum denkbar sind. Dann tut man meines Erachtens gut daran, sich mit den Kollegen*innen zu unterhalten, deren Hauptgeschäft auf eben dieser Individualebene liegt. Und umgekehrt wäre ich so vermessen zu behaupten, dass auch die Psychologie gut daran tut, sobald es Richtung Kontext und gesellschaftlicher Faktoren geht, sich mit den Sozialwissenschaftler*innen zu unterhalten. Diese Verbindung wird aber bereits in zahlreichen Forschungskontexten gelebt und ist auch historisch in beiden Disziplinen angelegt. Für unser Projekt bietet sich das auch an, weil der Gegenstand die psychische Gesundheit und das Emotionserleben von Geflüchteten und deren soziale Bedingungen und Konsequenzen sind. Das ist ein gutes Beispiel, wie man diese Expertise zusammenbringen kann.
EH: Ich kann mich da Christian nur anschließen. Wenn man sich mit dem Thema, der Versorgung von Migrant*innen und Geflüchteten in der psychiatrischen Versorgung beschäftigt, dann kann man den Kontext von Migration und Flucht gar nicht ausblenden. Natürlich bestehen neben sozialen Bedingungen auch biogenetische Risikofaktoren oder psychologisch verstandene Verhaltensmuster. Aber die Ausprägung und die Wahrnehmung von psychischen Störungen wird, wie wir wissen, genauso maßgeblich durch soziale Umweltfaktoren geprägt. Mit Ausgrenzungserfahrungen, Diskriminierung oder Stereotypen konfrontiert zu werden – das sind typische und oft chronische Stressoren. Für uns Psychiater*innen ist dabei meist der/die Hilfe suchende Patient*in ein Ausgangspunkt. Auf die Gruppenebene von Gesellschaft und Gemeinschaft zu achten, ist wiederum kennzeichnend für soziologische Forschung und gleichzeitig wichtig für einen Therapieerfolg. Basierend auf der psychologischen Akkulturationsforschung wissen wir, dass sich die gleichzeitige Partizipation an bekannten kulturellen Praktiken und eine flexible Aneignung von Neuem günstig auf psychische Gesundheit auswirken. Jedoch wurde auch hier die affektive Dimension in einem Verständnis von „Affective Societies“ kaum betrachtet.
LW: Wir arbeiten gerade auch an einem gemeinsamen Glossar. Dort klären wir Begriffe, die in allen Teilprojekten genutzt werden. Dabei ist es sehr interessant zu sehen, wie Begriffe in den verschiedenen Disziplinen ähnlich, aber doch verschieden definiert sind und in unterschiedlichen Theoriegerüsten eingesetzt werden. Das Glossar dient also auch der Überbrückung dieser interdisziplinären Grenzen innerhalb unseres Projekts. Insgesamt glaube ich aber sowieso, dass Soziologie und Psychologie wunderbar zusammenspielen. Ich habe andere Kontexte erlebt, wie Philosophie und Neurowissenschaften, da sind oft die Fragen bereits sehr schwierig zusammen zu bringen.
EH: Neue Erkenntnisse werden oft erst aus einer Synthese mehrerer disziplinärer Perspektiven gewonnen, d.h. aus einem Ansatz heraus, Daten gemeinsam zu analysieren und zu interpretieren, was wir in diesem Verbund leisten wollen. Das ist natürlich bei einem so komplexen und politisch relevanten Thema wie Integration besonders bedeutsam.
Über politische Instrumentalisierung von Forschungsergebnissen
CvS: Ich war vor kurzem zur Diskussion einer ethnografischen Studie mit einer Mitarbeiterin aus dem SFB auf einer rechtspopulistischen Veranstaltung. Ich glaube, in fast jedem Vortrag wurde mindestens auf eine soziologische Publikation hingewiesen. Davor ist keiner gefeit. Kürzlich hat ein Kollege auf Twitter mitgeteilt, dass ein rechtspopulistischer Politiker sich ausführlich über kollektive Identität ausgelassen hat und eine seiner Hauptquellen ein Aufsatz eben jenes Kollegen war. Beim Verfassen dieses Aufsatzes hat sich sicher niemand denken können, dass dieser zehn Jahre später in einem gänzlich anderen und vor allem unwillkommenen Kontext Verwendung findet. Im Projekt arbeiten wir an der Analyse großer Datensätze und auch hier müssen wir vorsichtig sein. Zahlen und Tabellen lassen sich leicht aus dem Kontext reißen und erwecken dann schnell den Anschein des Wissenschaftlichen. Ich denke da vor allem an die Diskussion um ein Buch Thilo Sarrazins. Man muss sehr umsichtig sein, weil es politisch hoch sensible Themen betrifft.
EH: Ich sehe das ähnlich. Auch Wissenschaft ist in einer gewissen Weise politisch. Das können wir nicht ausblenden: populistische Strömungen nutzen wissenschaftliche Arbeiten, um die eigene Position zu untermauern. Ergebnisse und meist umsichtig formulierte Interpretationen werden dann nicht genau gelesen, sondern es wird nach eingängigen Schlagworten und Aussagen gesucht. Zumindest auf kurze Sicht können wir versuchen, dies ansatzweise vorherzusehen. Wir können uns einerseits bemühen, unsere Texte auch für die Öffentlichkeit gut verständlich zu schreiben und Fachjargon zu vermeiden. Oder Wissenschaftler*innen können selbst in den öffentlichen Diskurs treten, wie es Christian angedeutet hat, um die Ergebnisse in einen Kontext einzuordnen. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler*innen ist es, durch öffentliche Gelder erhobene Daten vernünftig und qualitativ hochwertig auszuwerten und unsere Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Unsere Arbeit kann so auch als Grundlage von politischen Handlungsempfehlungen dienen. Wenn Integration ein gesellschaftliches Ziel ist, sollten wir datenbasiert günstige Bedingungen identifizieren, die natürlich nicht nur neu Zugewanderte, sondern auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft betreffen.
LW: Wir wollen auch einen Abschlussbericht schreiben, der nicht nur dazu dient, die Perspektiven zusammenzubringen, sondern unsere Ergebnisse im Hinblick auf politische Handlungsspielräume zu besprechen. Mit dem DIW als Projektpartner haben wir auch Personen im Verbund, die Erfahrungen mit dieser Form der Politikberatung haben. Außerdem gibt es ja unser Teilprojekt, in dem Katja arbeitet und das sich mit den Einstellungen der einheimischen Bevölkerung beschäftigt, d.h. auch diese Perspektive gehört zum Verbundprojekt.
Katja Schmidt: Genau, im Teilprojekt am DIW beschäftigen wir uns auch damit, wie Ergebnisse von populistischen Parteien möglicherweise verwendet werden könnten. Wir merken schon bei der Datensammlung, wie sensibel das Thema ist. Für unsere Forschung möchten wir beispielsweise die Adressen der Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland nutzen. Da wir uns hierfür von jedem einzelnen Bundesland die Genehmigung bzw. die Adresslisten einholen müssen, gestaltet sich das schwieriger als erwartet. Es gibt seitens der Behörden die Sorge, dass die Adressen veröffentlicht werden könnten, und es dann möglicherweise Angriffe auf Unterkünfte geben könnte. Es geht bei dieser Frage also nicht nur um unbeabsichtigte Konsequenzen durch die Auswertung der Daten, sondern bereits die Bereitstellung solcher Daten kann populistischen Strömungen in die Hände spielen. Nichtsdestotrotz ist unser Anliegen, dass wir die Ergebnisse der Analysen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und schließlich auch politikberatend fungieren. Da sind gerade Informationen zu den Kommunen bzw. Unterkünften wichtig, um durch entsprechende Analysen auf lokaler Ebene moderieren zu können.
EH: Ich denke, dass sauber erhobene Daten sehr wichtig sind, da sonst die Gefahr besteht auf der Ebene von Vorannahmen zu bleiben. Ohne gut analysierte Ergebnisse als Grundlage für politische Entscheidungsträger*innen werden Stereotype bestärkt, die sich oft nicht durch Daten untermauern lassen. Am Ende liegt es in der Verantwortung von Wissenschaft zu solchen Entscheidungsprozessen beizutragen, die dann die Aufgabe der Legislative sind.
CvS: Wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, war wahrscheinlich von allen Beteiligten die Motivation zum AFFIN Projekt. Denn diese öffentliche Debatte wird sehr schrill geführt, aber man weiß immer noch vergleichsweise wenig über die von uns untersuchten Dimensionen bei Geflüchteten. Insofern besteht ein großer Bedarf an Informationen und Einblicken, den wir abdecken möchten.