Unser Projekt befasst sich mit der Frage, was es mit der Bezeichnung „deutsch-türkisches Kino“ auf sich hat – wo die Produktivität, wo aber auch die Schwierigkeiten dieses Begriffs zu suchen und zu entfalten sind. Wir verfolgen die These, dass eventuelle Gemeinsamkeiten der Filme, die unter diesem Label zusammengefasst werden, nicht auf der Ebene des Dargestellten aufzusuchen sind, sondern in der Art und Weise, in der sich die Filme innerhalb einer audiovisuellen Unterhaltungskultur positionieren. Es soll also nicht geklärt werden, ob bestimmte Filme die Realität „deutsch-türkischer“ Lebensverhältnisse angemessen repräsentieren. Vielmehr geht es darum, die Filme als Zeugnisse eines Sich-Bewegens in einer audiovisuellen Kultur, genauer: als Zeugnisse eines Filme- und Bilder-Sehens zu beschreiben.
Wir analysieren, wie die filmischen Bilder andere Bilder aufnehmen, sie aneignen, bearbeiten, umdeuten und transformieren. Auf diese Weise entsteht für jeden Film ein audiovisuelles Bezugsfeld, eine jeweils neue und eigene Wahrnehmung der Filmgeschichte. Auf dieser Ebene wollen wir danach fragen, ob und inwiefern die Filme, die man gemeinhin dem „deutsch-türkischen Kino“ zurechnet, miteinander kommunizieren.
Im Februar und März 2017 trafen wir (Hermann Kappelhoff, Nazlı Kilerci und Hauke Lehmann) uns zu drei Gesprächsrunden am Cinepoetics-Kolleg der Freien Universität Berlin. Gäste waren drei Filmemacher*innen – Buket Alakuş, Serkan Çetinkaya und Ayşe Polat –, deren Arbeit oft mit Bezug auf das erwähnte Label rezipiert wird; unterstützt wurden wir von einem Team wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen und Fellows des Kollegs. Unsere Arbeitsform war demnach keine Fokusgruppe im klassischen soziologischen oder kommunikationswissenschaftlichen Sinne; vielmehr sollte das Analysegespräch, eine in unserer filmwissenschaftlichen Arbeit etablierte und langjährig gepflegte Arbeitsform, als eine Art Forum für die Ausarbeitung und Ausformulierung unserer Thesen dienen. Das Analysegespräch ist eine weitgehend offene, nur begrenzt angeleitete Diskussionsform, die auf der Sichtung eines Films basiert. Dabei geht es nicht um Kategorien wie Gefallen oder Nichtgefallen, sondern darum, das filmische Bewegungsbild als einen Anstoß zum Denken aufzufassen: was ist die poetische Logik eines Films? Wie setzt er Raum und Zeit, Licht und Ton, Kadrierung und Montage zueinander ins Verhältnis? Wie ist die Welt organisiert, die sich im Bild zu sehen und zu hören gibt? Mit solchen und ähnlichen Fragen ist eine Diskursivität adressiert, die sich nicht im repräsentativen Aspekt der Bilder erschöpft, und die zudem nicht ohne weiteres auf die Ebene propositional verfasster Aussagen, also auf die Ebene sprachlicher Diskurse, rückführbar ist. Das Erleben von konkreten Zuschauer*innen ist vielmehr unabdingbarer Bestandteil der Bilder selbst, und es erfordert eine signifikante Anstrengung, diese Dimension angemessen – und immer nur näherungsweise – zu objektivieren. Die Filmemacher*innen verstehen wir diesbezüglich als eine Gruppe privilegierter Zuschauer*innen, die das Wahrnehmen von Bildern auf vergleichsweise direkte Art mit dem Hervorbringen von Bildern in Verbindung bringen.
Ziel dieser Veranstaltungen war es entsprechend, die Kernthese unseres Projekts – Filmemachen speist sich aus dem Akt des Filmesehens – in Gesprächen mit Filmemacher*innen zu untermauern und zu präzisieren: wie hängen diese beiden Tätigkeiten zusammen? In welchen audiovisuellen Diskursen bewegt man sich und wie transformieren sich die eigenen Erfahrungen beim Herstellen von Bildern? Inwieweit dient das Filmemachen einer expliziten Positionsbestimmung gegenüber anderen medialen Formationen (Hollywood, Autorenkino, deutscher Film, türkischer Film, Folklore, Fernsehen, Internet)? Diese und ähnliche Fragen sind es, die uns interessieren. Ausgangspunkt der Fokusgruppen-Gespräche war also das gemeinsame Schauen von durch die drei Gäste ausgewählten Filmen – dezidiert nicht solcher Filme, die dem Korpus zugerechnet werden, sondern solcher, die für das jeweilige künstlerische Schaffen als bedeutsam angesehen werden, ohne dass direkte Verbindungen im Sinne von Zitaten im Vordergrund des Interesses standen.
Der erste Film, ausgewählt von Ayşe Polat, war Wanda (Barbara Loden, USA 1970). Für jeden der ausgewählten Filme gab es einen kurzen analytischen Impuls unsererseits, an den sich eine ausführliche Diskussion anschloss. Der Impuls für Wanda befasste sich mit einem zentralen Konflikt des Films, der sich als Widerstreit abweichender Zeitlichkeiten beschreiben lässt: die Figur Wandas verkörpert ein Prinzip des Nicht-Hinterherkommens, des mitunter störrischen sich Sperrens gegen glatte und reibungslose Abläufe. Die Reflexion dieses Konflikts liegt jedoch nicht so sehr in der (rudimentären) Psychologie der Figur selbst begründet, sondern eher in einem Prozess, in dem diese Figur überhaupt erst „zur Welt kommt“, überhaupt erst zu einer Art und Weise findet, sich zur Welt zu verhalten. Dabei vermeidet es der Film konsequent, in allzu bekannte generische Muster abzugleiten, in denen der Platz dieser Frau immer schon festgelegt erschiene. Stattdessen gleicht die Inszenierung einer Suche nach der Möglichkeit, eine Figur, ein Gesicht in seinem eigenen Recht erscheinen zu lassen. Das Verhältnis zwischen generischer Form und partikularer Positionsbestimmung sollte auch für die folgenden Gespräche zu einem bestimmenden Thema werden.
Der zweite Film – Blood In, Blood Out (Taylor Hackford, USA 1993) – wurde von Serkan Çetinkaya ausgewählt. Stand bei Wanda die Frage nach dem Status der einzelnen Figur im Vordergrund, so ging es hier um Konflikte zwischen symbolisch überkodierten Ordnungen, verstanden als scharf unterschiedene, mögliche Weisen eines Zur-Welt-Seins, die auf der Ebene kollektiver Kommunikation operieren und sich schon nicht mehr auf individuelle Perspektiven zurückführen lassen. Diese Ordnungen sind emphatisch bezogen auf den Stadtraum mit seinen diversen Unterteilungen, die teils polizeilich durchgesetzt werden, zum weitaus größeren Teil aber aus den Verdrängungskämpfen zwischen rivalisierenden Straßengangs resultieren. Die Durchsetzung, Modulation und Transformation dieses Ordnungsprinzips, das sich wie ein Netz aus visuellen Markierungen (Tattoos, Wandmalereien, Farbarrangements, Straßenschilder) über den urbanen Raum legt, bildet die affektive Dramaturgie des Films, anhand derer das Publikum in die Entstehung eines Weltgefühls einbezogen wird. Anders als Wanda nutzt der Film offensiv Formen der Populärkultur (Musikvideos, Comics, Godfather-Folklore), um dieses Gefühl auf eine sehr spezifische historische Verortung (die LA-Riots der frühen 1990er Jahre) zu beziehen.
Für die dritte Woche wählte Buket Alakuş die Komödie The Infidel (Josh Appignanesi, GB 2010) und erweiterte damit nochmals das Spektrum der besprochenen Filme: während Wanda in cinéphilen Kreisen hohes Ansehen genießt (auch wegen seines Status als von der Filmgeschichte weitgehend vergessenem Film und zugleich Beispiel eines feministischen Kinos avant la lettre), gilt Blood In, Blood Out als eine Art Kultfilm in Migrant*innen-Communities weltweit, völlig unabhängig von spezifischer ethnischer Zugehörigkeit. The Infidel wiederum ist ein Beispiel für eine jüngere Spielart von Komödien, die sich explizit – auf der Ebene der repräsentierten Handlung – den Konflikten widmen, die sich in Einwanderungsgesellschaften ergeben können. In gewisser Hinsicht markiert der Film dabei eine Zwischenstellung zwischen den anderen beiden, insofern er sich der Frage widmet, wie kulturell zirkulierende rassistische Stereotypen und Klischees an Figuren sichtbar und ablesbar werden. Der Film inszeniert diese Konstellation als einen Balanceakt, der den Körper der Hauptfigur einspannt in ein Netz beurteilender und abwägender Blicke, welche ihrerseits durch geschicktes Fingieren und Fabulieren manipuliert werden können. Der fließende Übergang zwischen „authentischem“ Ausdruck und reproduziertem Klischee wird dabei in immer neuen Variationen vorgeführt. In der Logik des Films ist Identität nicht substantiell zu verstehen, sondern konstituiert sich stets nur in Kopplung an Aufführungssituationen, welche wiederum generisch moduliert sind.
Zum Abschluss der Gespräche wurde als letzter Film Yol (Yilmaz Güney, TUR 1982) gezeigt, ein Film, mit dem nicht nur das Kino aus der Türkei international sichtbar geworden ist, sondern der auch eine große Wirksamkeit für jene Filmemacher entfaltet hat, die sich auf dieses Kino als einen Kontext geteilter Erfahrung bezogen haben und noch beziehen. So konnten anhand der Diskussion über diesen Film die bereits angerissenen Themen und Fragen der Fokusgruppe um eine historische Tiefendimension ergänzt werden. Zugleich reißt der Film auf spezifische Weise noch einmal die Frage nach der Perspektive individueller Weltbezüge im Kontext hierarchischer Gesellschaftsordnungen auf, indem er die einzelnen, betont partikular verfassten narrativen Episoden einem gewaltsam durchgesetzten Regime von Zeitlichkeit unterstellt. Das Potential filmischer Bilder, die „Aufteilungen des Sinnlichen“ (Jacques Rancière) eines Gemeinwesens als einen Mechanismus politischer Herrschaft erfahrbar zu machen, der auf die vermeintlich intimsten Formen von Beziehung durchschlägt, wurde hieran nochmals eindrücklich deutlich.
Wie ist es möglich, Erfahrung zu teilen – und was bedeutet dieses Teilen? Um dieses Problem kreisten nicht nur unsere Gespräche in der Fokusgruppe; mit diesen Fragen ist auch ein ganzer Zweig aktueller politischer Theorie aufgerufen. Insofern diese Fragen nicht endgültig beantwortet werden können, handelt es sich im Sinne von Cornelius Castoriadis um „echte“, immer wieder neu zu stellende Fragen, die auf die historische Verfasstheit der Einrichtungen unseres Zusammenlebens abzielen. Wenn wir zu Beginn der Gespräche bereits davon ausgegangen sind, dass man die Erfahrung von Migration nicht als gemeinsamen Bezugspunkt für ein wie auch immer definiertes „deutsch-türkisches Kino“ ansetzen kann, so können wir die komplementäre Intuition nach diesen Gesprächen präzisieren und auf den größeren Kontext unserer Forschung beziehen: dass nämlich zunächst einmal gesellschaftliche Vorstellungen davon, was Migration sei, durch und durch medial vermittelt sind. Dies gilt nicht nur für jene von „uns“, die selbst nicht aus- oder eingewandert sind, sondern ebenso für jene, die dies tatsächlich von sich sagen können. Die Geschichte von Migration ist aufs Engste mit der Migration von Bildern und Tönen verknüpft: für die Menschen, die ihr Zuhause verlassen haben, wurde ein Mix aus auf Kassetten überspielter Musik, Fotos und alten Filmen, die man auf VHS-Kassetten aus der Videothek ausleihen konnte, zu einem neuen und anderen Zuhause.
Zuhause ist in dieser Perspektive nicht mehr eine vermeintlich einfache, biografische und strikt persönliche Lebenstatsache, sondern wird zu einem historischen Erfahrungsraum, der nicht nur mit anderen geteilt werden, sondern auch dazu genutzt werden kann, sich mit Bezug auf eine dominante audiovisuelle Kultur zu verorten, indem sich (imaginäre) Gemeinschaften auf Basis ästhetischer Urteile bildeten. In dieser Hinsicht nun stellt sich die Frage nach einem Zuhause völlig unabhängig von der Frage nach ethnischer, religiöser oder kultureller Zugehörigkeit; sie ist auf derselben Ebene angesiedelt wie die Frage danach, wie es sich anfühlt, Teil von etwas zu sein, das emphatisch nicht mit dem Mainstream gesellschaftlichen Empfindens zusammenfällt, sondern sich über eine mehr oder weniger schroffe Abweichung von einem solchen Konsens definiert (vgl. Rick Altman: Film/Genre). Eine solche Übereinstimmung in der Abweichung ist es, der wir in unseren Gesprächen nachzuspüren versucht haben.
An dieser Stelle ein ganz herzlicher Dank an die Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics, nicht nur für die hervorragende Organisation und logistische Unterstützung, sondern auch für die ungemein produktive inhaltliche Mitarbeit!
Weiterführend zu diesen Fragen:
Lehmann, Hauke. 2017. “How does Arriving feel? Modulating a Cinematic Sense of Commonality.” Transit 11 (1). Zugriff am 11.05.2017 (http://www. http://transit.berkeley.edu/2017/lehmann/).
Lehmann, Hauke. 2017. „Die Produktion des ,deutsch-türkischen Kinos‘. Die Verflechtung von Filme-Machen und Filme-Sehen in LOLA + BILIDIKID und Tiger – Die Kralle von Kreuzberg“. In: Ömer Alkın (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: VS Verlag, 275–297 (in leicht abgeänderter Form auch als Working Paper in der Reihe des Sfb Affective Societies erschienen).
Sekundärliteratur:
Altman, Rick. 1999. Film/Genre. London: British Film Institute.
Castoriadis, Cornelius. 2011. „Die griechische polis und die Schöpfung der Demokratie“. In: Ders. Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften Band 4. Lich: Verlag Edition AV 2011, S. 17–68.
Rancière, Jacques. 2006. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books.
Dr. Hauke Lehmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sfb Affective Societies an der Freien Universität Berlin. Er hat Filmwissenschaft studiert und 2013 mit einer Arbeit zum New Hollywood promoviert: „Affektpoetiken des New Hollywood. Suspense, Paranoia und Melancholie“ (De Gruyter 2016). Gegenwärtig arbeitet er an seiner Habilitation zum Thema Poiesis, Politik und ästhetische Erfahrung.