Vor genau einem Jahr, am 13. November 2015, verübten islamistische Attentäter eine Serie von koordinierten Anschlägen an fünf unterschiedlichen Orten in Paris. Zu den Anschlägen, durch die 130 Menschen starben und über 350 verletzt wurden, bekannte sich die Terrorgruppe „Islamischer Staat“. In den Tagen nach den Anschlägen berichteten die Medien von einem Sturm von Entsetzten, Angst, Trauer und Mitgefühl. Heute, ein Jahr nach den Anschlägen, sind der Anlass und die Distanz gegeben, nochmals an diesen bewegten Moment und seine Mediatisierung zurückzudenken. Ein Versuch, die Blackbox „Emotion“ zu öffnen.
Mag es früher als unangemessen gegolten haben, seinen Gefühlen in der Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen, so lässt sich das heute kaum noch behaupten. Im Gegenteil, die Berichterstattung nach den Ereignissen des 13. November war voll von Gefühlen. Vom Staatsoberhaupt bis zum kleinen Mann auf der Straße, alle waren traumatisiert vom Terror – entsetzt, geschockt, sprachlos. Und gleichzeitig voller Trauer für die Opfer der Anschläge und Mitgefühl für die Angehörigen, ja, für die Franzosen überhaupt. Die Zeitungen präsentierten Bildstrecken von ernsten, ergriffenen oder tränenüberströmten Gesichtern. Vor den französischen Botschaften türmten sich die Blumen und leuchteten die Kerzen, und die Wahrzeichen der Welt waren in blau-weiß-rot angestrahlt.
Nun kann man niemandem eine emotionale Reaktion auf ein solches Ereignis absprechen. Aber das sollte uns auch nicht davon abhalten, wenn wir uns über die Bedeutung der Ereignisse austauschen, über die argumentative Sackgasse von „das hab ich nun mal so gefühlt“ hinauszugehen. Eine der möglichen Fragen beschäftigte die Öffentlichkeit einige Tage nach den Anschlägen. Gegeben unsere Anteilnahme für die Opfer von Paris, müssen wir denn nicht auch für die libanesischen, türkischen und palästinensischen Opfer der kurze Zeit später verübten Anschläge in der Türkei und im Libanon trauern? Na klar, lautete die Antwort derer, die sich fortan auch mit Ankara und Beirut solidarisierten. Andere waren skeptischer und argumentierten, es sei „natürlich“, unterschiedlich viel Trauer zu empfinden. Schließlich seien uns Paris und seine Bewohner näher im Lebensstil und Weltverständnis und wir empfänden nun mal mehr Trauer für das Nahestehende. Dann können aber noch weitere Fragen gestellt werden: Waren wir eigentlich im gleichen Maße traurig, als 2004 in Madrid und 2005 in London Anschläge auf öffentliche Verkehrsmittel verübt wurden? Reagieren wir immer ähnlich auf Terroranschläge? Wo kommen diese Gefühle her? Und was bewirken sie?
Die Emotion nicht als innere Stimme, sondern als menschliche Beziehung
Die Kulturtheoretikerin Sara Ahmed hat sich in ihrem Buch The Cultural Politics of Emotion (2014) mit der Bedeutung von Emotionen für Öffentlichkeit beschäftigt und eröffnet eine ungewöhnliche Reflexionsperspektive. Ahmed versteht Emotion nicht als das individuelle Empfinden des Einzelnen, sondern als eine Relation zwischen Körpern – Personen, Kollektiven oder Ideen. Eine Emotion ist nach ihrem Verständnis nicht, was in unserem Inneren geschieht, sondern sie bestimmt, wie wir uns zur Außenwelt hin orientieren. Emotion findet zwischen Menschen statt, sie bewegt Menschen und setzt sie zueinander in Bezug – ganz im Sinne ihrer etymologischen Herkunft – emovere. Dabei entstehen Emotionen nicht spontan, sondern funktionieren über Stereotypen, als Ketten der Erfahrung und Assoziation mit Dingen und Personen.
Vor allem interessiert Ahmed, wie Emotionen „Körper aneinander binden“ und darüber Kollektive schaffen. Gezielte Emotionalisierungsstrategien zur Gemeinschaftsbildung sind seit jeher ein politisches Mittel. Schon Machiavelli räsonierte, ob wohl die Furcht oder die Liebe das verlässlichere Instrument zur Herrschaftssicherung sei. Man darf Ahmed allerdings nicht so verstehen, als sei eine Emotion stets auf die Intention eines manipulatorischen Kopfes zurückzuführen. Die Kulturtheoretikerin verwendet den Begriff der affektiven Ökonomien, um zu beschreiben, wie die Zirkulation von Emotionen eine eigene Dynamik entwickelt. Sie untersucht, wie Emotionen symbolisiert und in der Öffentlichkeit ausgetauscht werden, ohne dass jemand diesen Austausch gezielt kontrollieren kann, der mit den Verbreitungsmöglichkeiten des Internets eine neue Intensitätsstufe erreicht hat.
Übertragen wir Ahmeds Überlegungen auf die Berichterstattung im Anschluss an die Anschläge in Paris vor einem Jahr, so können wir sehen, wie unterschiedliche Gruppen über Emotion zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Die Anschläge in Paris haben uns manchen nähergebracht und uns von anderen entfernt.
„Wir“ und „die“ nach den Anschlägen
Welcher Art sind also die emotionalen Konstellationen? Da ist zunächst unser gemeinsam empfundenes Entsetzen gegenüber der barbarischen und gleichsam perfide organisierten Brutalität. Dieses Entsetzen funktioniert über ausführliche Beschreibungen, mit der wir das Ereignis Terroranschläge immer wieder neu schaffen. Obwohl die meisten von uns nicht dabei waren, können wir den Horror auf diese Weise nacherleben und entsetzt sein. Unser Entsetzten überträgt sich mit der Zeit auf die Urheber der Grausamkeit, die Attentäter von Paris: fünf französische, vier belgische und zwei irakische Staatsbürger. Ihre Motivation bleibt uns unverständlich, wir können ihnen gegenüber nur Abscheu empfinden. Und doch beginnen wir uns für ihre Biographien zu interessieren – in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, in Kleinkriminalität verwickelt, radikalisiert. Diese Mischung aus Abscheu und Neugier hält die wahren und die potentiellen Attentäter auf großer Distanz und richtet gleichzeitig den Blick auf sie. Sie machen uns Angst.
Dann sind da die in Europa lebenden Muslime. Wir setzen sie nicht gleich mit den Terroristen, nein, wir sind sensibilisiert für ihre schwierige Lage nach den Anschlägen und verstehen ihre Angst, Opfer von islamophoben Übergriffen in Deutschland zu werden. Dabei fühlen wir uns ihnen umso näher, wenn sie sich uns anschließen in der Trauer um Paris. Und wenn sie sich öffentlich distanzieren von diesen anderen Muslimen, die die Botschaft des Propheten falsch verstanden haben. Wir sind ihnen verbunden, wenn sie sich in ihrer Liebe und Loyalität zur Menschlichkeit und Offenheit bekennen, die alle religiösen Gegensätze aufhebt. In diesem Sinne bekräftigen wir, der Islam gehört zu Deutschland, es lebe die Vielfalt, und bleiben doch gleichzeitig wachsam.
Aber wer ist eigentlich dieses „Wir“? Wir sind die, die alle Angst haben vor terroristischen Anschlägen, die uns unser Leben kosten könnten. Wir sind die Gemeinschaft des gemeinsamen Risikos und empfinden Solidarität mit denen, die die Unsicherheit mit uns teilen. Sind wir doch alle, wie es so oft betont wurde, von den Anschlägen in Paris betroffen. Wie aber können wir mit unserer Verletzlichkeit umgehen? George W. Bush verkündete nach den Anschlägen vom 11. September, die amerikanische Nation habe keine Angst vor dem Terror, sie sei stark. Wir sind solchem demonstrativen Machtgepolter gegenüber kritisch eingestellt. Die politische Reaktion aus dem Élysée-Palast, Notstand im Inneren und Vergeltungsluftangriffe nach außen, wird die Sache nicht besser machen. Und dennoch setzen die Anschläge eine Zäsur. Wir müssen kurz innehalten, um zu überlegen, worum es hier eigentlich geht, bevor es uns einfällt: Das liberté, égalité, fraternité ist auf den Pariser Terrassen angegriffen worden. Und damit unser aller demokratische Werte, von denen wir überzeugt sind und die uns stark machen: die Freiheit, jenseits vom Dogma zu denken, die Freiheit, unser Leben genau so zu gestalten, wie wir es möchten; die Freiheit, sorglos in einer offenen Gesellschaft zu leben – frei von Repression und Terror. Und die lassen wir uns nicht nehmen, dafür stehen wir geeint ein. Wir, die westliche Welt, wir Europa, wir Deutschland – wir, du und ich?
Es kann nicht darum gehen, die Legitimität von Emotionen zurückzuweisen, das Leid der Opfer und die Trauer der Angehörigen zu unterschlagen. Noch ist dies ein Aufruf, zur Ratio zurückzukehren. Aber um sich bewusst zu werden, wie Emotionen Gemeinschaften bilden und Grenzen ziehen, muss die emotionale Brille von Zeit zu Zeit abgesetzt, betrachtet und nach ihren Sehstärken beurteilt werden. Gefühle sind nicht nur unsere intimen Begleiter, sie agieren auch da draußen. Deshalb brauchen wir eine kritische Lektüre der Gefühlswelten, deren Teil wir alle sind.
Literatur:
Ahmed, Sara. 2004. The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Quellennachweis:
“Nous Sommes Unis” by Sandro Schroeder
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