In Tanger, das sich im äußersten Norden Afrikas an der Straße von Gibraltar erstreckt, treffen vermeintliche Gegensätze aufeinander. Hier liegen Afrika und Europa einander gegenüber, hier strömen Mittelmeer und Atlantik ineinander. Tanger ist eine Stadt der Begegnungen. Als solche erweist sie sich als idealer Austragungsort für die internationale Konferenz „Performing Tangier“.
Es ist Sonntagnachmittag an einem Wochenende im September, ich stehe im Wind auf den felsigen Erhebungen der Nekropole in Tanger und blicke auf das Meer hinaus, das sich tiefblau vor mir erstreckt. Über der Wasseroberfläche liegt nebliger Dunst, in der Ferne ist schemenhaft die spanische Küste auszumachen. Hier in Tanger, das sich im äußersten Norden Afrikas an der Straße von Gibraltar erstreckt, treffen vermeintliche Gegensätze aufeinander. Hier liegen Afrika und Europa einander gegenüber, hier strömen Mittelmeer und Atlantik ineinander, hier verschmilzt arabischer Städtebau mit Architektur im französischen Kolonialstil. Tanger ist eine Stadt der Begegnungen.
Als solche erweist sie sich als der ideale Austragungsort für die internationale Konferenz „Performing Tangier“, an der ich vom 15. bis zum 19. September teilgenommen habe. Hier treffen jährlich akademische Forschung und künstlerisches Arbeiten aufeinander und werden in einen fruchtbaren Dialog gebracht. Ausgerichtet wird die Konferenz von dem im Jahr 2007 gegründeten „International Centre for Performance Studies“, das mit dem an der Freien Universität Berlin beheimateten Forschungscenter „Interweaving Performance Cultures“ kooperiert. Die atmosphärisch ohnehin sehr eindrückliche Konferenz wurde in diesem Jahr besonders persönlich: sie stand im Zeichen der Würdigung des international renommierten Theaterwissenschaftlers Marvin Carlson, der mit seiner Forschung zur Theatertheorie von der Antike bis ins 21. Jahrhundert ein ungewöhnlich breites Interessenspektrum abdeckt und dessen neuestes Buch sich mit dem Theater in Marokko und Algerien beschäftigt. Am Eröffnungsabend der Konferenz, zugleich Carlsons Geburtstag, wird er vom Konferenzpublikum geehrt und mit einer Foto-Torte gefeiert, die wir dann alle genüsslich gemeinsam verspeisen.
Das Konferenzprogramm in den folgenden Tagen umfasst Vorträge von Wissenschaftler*innen aus aller Welt, die simultan wahlweise in englisch, französisch oder arabisch übersetzt werden – was das Verständnis allerdings nicht zwangsläufig erleichtert. Es finden außerdem Buchvorstellungen, Filmvorführungen, Workshops, Podiumsdiskussionen und eine Vielzahl abendlicher Aufführungen an unterschiedlichen Orten in Tanger statt. Anstatt die vier Tage an einem Veranstaltungsort zu verbringen, wandern wir in kleinen und größeren Gruppen zwischen dem Musée de Kasbah, dem Chellah Hotel, der University of New England oder dem Tabadoul hin und her. So erleben wir nicht nur eine ganz eigene Begegnung mit der Stadt Tanger und ihren vielfältigen kulturellen Angeboten; auch die Orte selbst ziehen weiteres Publikum an und begünstigen eine ständige Fluktuation.
Die Konferenz widmet sich unter dem Titel „The Narrative Turn in Contemporary Theatre“ dem Bedeutungswandel, den das Erzählen auf der Bühne gegenwärtig erlebt und immer wieder erlebt hat – auch wenn Dramatik und Epik zumindest im europäischen Theaterverständnis oft als einander ausschließende Gattungen angesehen wurden. Anhand von beispielorientierten Analysen und eher theoretisch oder historisch ausgerichteten Vorträgen werden unterschiedliche Ausgestaltungen des Erzählens im Theater präsentiert. Schnell wird dabei klar, dass nicht von einem „Narrative Turn“ die Rede sein kann; vielmehr müssen unterschiedliche, parallel ablaufende Verschiebungen und Neubewertungen des Narrativen in Tanz, Drama und Performance auch unter Einbezug ihrer historischen und politischen Bedingungen in den Blick genommen werden.
Zwei Aspekte rücken in den Vorträgen, vor allem aber in den Diskussionen auffallend häufig in den Vordergrund: Zum einen werden Praktiken der wechselseitigen Aneignung, Umdeutung und Transformation des Erzählens auf der Bühne engagiert und durchaus kritisch diskutiert. Eine rege Debatte, die sicherlich von der Begegnung von europäischer (bzw. westlicher) und arabischer Theaterforschung profitiert, da Erzählvorgänge im arabischen Theater durchaus eine lange Tradition haben. So zeigt sich in den Vorträgen von Bouchra Saidi, Raed Ben bachir Khadraoui oder Abdeladim Hinda einmal mehr die Dichte der Verflechtungen von vermeintlich getrennt verlaufenden theaterhistorischen Entwicklungen, die es weiter zu erforschen gilt.
Zum anderen wird wiederholt thematisiert, inwiefern gerade das Erzählen als theatrale Strategie der Sichtbarmachung und der Ermächtigung gelten kann. Mit einem besonderen Fokus auf Praktiken der Verkörperung werden in diesem Zusammenhang beispielhaft die Theaterarbeit mit Geflüchteten (Marwa Abidou, Friederike Oberkrome, Anastasia Remoundou-Howley), die (Re-)Präsentation von Frauenbildern in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen (Zakian Benamar, Elaine Haston, Katherine Hennessy, Eiman Mohammed Said Tursi) sowie die Herausforderungen postkolonialer Wirklichkeiten diskutiert (Gabriele Brandstetter, Heike Gehring). Wiederkehrendes Prinzip solcher Arbeiten scheint die Unterbrechung von kohärenten Erzählweisen: in multimedialen Performances teilt sich das Erzählen beispielsweise auf unterschiedliche sinnliche Ebenen auf, die miteinander konkurrieren und in Widerstreit geraten. Mehrere Vorträge betonen außerdem, dass das Erzählen auf der Bühne nicht allein aus dem Hier und Jetzt der Aufführungssituation heraus wirkt, sondern in steter Verbindung mit dem Abwesenden (etwa dem Vergangenen oder dem Unterdrückten) steht.
Sicherlich bleiben solche Eindrücke angesichts des unglaublich reichen Tagungsprogramms fragmentarisch. Und ebenso fragmentarisch bleiben die nicht minder wichtigen Aufführungen im Gedächtnis, die meist in arabischer Sprache stattfanden und teilweise parallel gezeigt wurden. Die Arbeit „Shouka“ orientiert sich beispielsweise an einer von Scheherazades Geschichten aus 1001 Nacht und wird von einer Darstellerin mit lebensgroßer Handpuppe und einer Sitar-Spielerin realisiert. Besonders eindrücklich für mich als nicht arabisch Sprechende ist das ausdrucksstarke Spiel der jungen Darstellerin, die die unterschiedlichen Charaktere der Geschichte verkörpert. Sie wechselt mühelos zwischen kauziger Hausfrau, machohaftem Jugendlichen und tatterndem Greis hin und her und bespielt zwischendrin die Handpuppe, die sich, wie ich später erfahre, als der eigentliche Erzähler der Geschichte entpuppt. Obwohl die Handlungszusammenhänge mir verborgen bleiben, erzählt sich mir durch Gestik, Mimik und die unterschiedlichen Kostümierungen der Darstellerin – also quasi durch die Sprache des Theaters selbst – eine ganz eigene Geschichte.
Vollständig ohne gesprochenen Text kommt die zeitgenösische Tanz-Performance „Blasmia“ („Ohne Namen“) der Gruppe Daha-Wassa („Hier und Jetzt“) aus, was aufgrund der Sprachbarrieren auf diesem internationalen Festival gut ankommt. „Blasmia“ setzt sich zusammen aus Szenen mit rituellem Gesang und Anklängen an traditionellen arabischen Tanz sowie energetischer Körperarbeit und Videosequenzen, die die Bewegungen der Tänzer*innenkörper fragmentarisch und vergrößert auf Leinwand projizieren. Dieses teilweise improvisierte Zusammenspiel lässt erneut die besondere Stellung marokkanischer Theaterarbeit in einem Grenzraum zwischen westlichen und arabischen Theaterkulturen erfahrbar werden.
Insgesamt illustrieren die Aufführungen die Bandbreite von narrativen Erzählmustern im gegenwärtigen Theater Marokkos, die um Arbeiten aus Frankreich oder Ägypten ergänzt wurden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich einmal mehr, dass gerade die dialogische und transkulturelle Auseinandersetzung mit theatraler Narration, die diese Konferenz aufgegriffen und vorangetrieben hat, von immenser Wichtigkeit und noch lange nicht an ein Ende gelangt ist. Es gibt noch viel zu erzählen, sowohl im als auch über das Theater.