Theater in Zeiten von Corona I :

Sag mir, wo du stehst

** Achtung, Spoiler-Warnung: Bitte (noch) nicht lesen, wenn Sie ein Ticket für eine der kommenden Aufführungen gebucht haben! **

Angenommen eine Person hätte sich ein utopisches Projekt erdacht, eine Lebensform, die als Alternative zu bestehenden Verhältnissen ein sozial gerechteres Gesellschaftsmodell erprobt. Wären Sie gern Teil dieses Experiments? Oder würden sie zumindest gern mitbestimmen, wer dabei sein darf? Nach welchen Kriterien würden Sie die Teilnehmer*innen auswählen?

Dieses Szenario bildet die fiktive Versuchsanordnung von „Der Kreisky-Test“, der neuen Produktion des queeren Kollektivs Nesterval aus Wien. Sie wurde von brut Wien und dem europäischen Kunst- und Kulturförderprogramm Be SpectACTive!, welches dezidiert Zuschauer*innen involvierende Formate fördert, ko-finanziert und wurde angesichts der Corona-Krise kurzfristig zur ersten interaktiven „Stay-at-Home“-Online-Performance umkonzipiert.

Zur Geschichte von Gertrud Nesterval

Nesterval ist der Name einer fiktiven deutsch-österreichischen Familiendynastie, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Neben den Aufführungsformaten ist eine umfassende fiktive Ahnenforschung konstitutiver Teil des künstlerischen Schaffens des gleichnamigen Kollektivs. Diese Familien-Geschichte ist dann immer auch mit den narrativen Welten ihrer Inszenierungen verknüpft. So basiert „Der Kreisky-Test“ auf der Geschichte von Dr. Gertrud Nesterval und ihrem Sohn Jonas. 1970, als Jonas vier Jahre alt war, verließ Gertrud die Familie. Erst Jahrzehnte später, nach dem Tod des Vaters, ist Material aufgetaucht, entlang dessen Jonas – mit Unterstützung des fiktiven Nesterval Fonds für kreative Zwecke – nun versucht, die Geschichte seiner Mutter zu rekonstruieren.

Gertrud Nesterval (Astôn Matters) in der filmischen Rückschau ©Lorenz Tröbinger

Bildmaterial zeigt sie in Serbien, Italien und Spanien und eine Film-Botschaft an die „Kamerad*innen“ zeugt von ihrer politischen Haltung: Unter „Genosse“ Kreisky (Parteivorsitzender der SPÖ und Österreichs Bundeskanzler von 1970 bis 1983) sei die sozialistische Idee für ein modernes Österreich in Gefahr. Um der realpolitischen Katastrophe einer unzureichenden Sozialdemokratie zu entgehen, entwickelte Gertrud Nesterval die Utopie einer alternativen sozialistischen Gemeinschaft mit Namen „Goodbye Kreisky“. Da Plätze und Mittel zunächst begrenzt waren, erdachte sie den sog. „Kreisky-Test“, um Teile der Bevölkerung aktiv mitbestimmen zu lassen, wer auf die „Insel der Seligen“ darf und wer nicht. Jonas Nesterval hat sich nun in den Kopf gesetzt, ihre Arbeit fortzusetzen. Soweit der Rahmen.

Einstimmen auf das Testverfahren

Vor diesem Hintergrund – über den wir Zuschauer*innen innerhalb der Online-Aufführung durch Film- und Bildmaterial entsprechend aufgeklärt werden – und der Tatsache, dass in Europa ein gefährliches Virus ausgebrochen ist, welches alle in häusliche Quarantäne zwingt, versammeln wir uns für die Test-Durchführung via Internet in einem Zoom-Meeting. 16 Zuschauer*innen („Tester*innen“) treffen dabei auf acht Performer*innen („Kandidat*innen“) und werden von vier Test-Leitenden („Analyse“) durch insgesamt sechs Phasen begleitet.

In der Einlass-Phase lerne ich meinen Mit-Tester Markus aus Wien kennen. Im Hintergrund läuft bezeichnenderweise eine Cover-Version des Songs „What’s up“ von 4 Non-Blondes, in dem Frustration über den gesellschaftlichen Ist-Zustand zum Ausdruck gebracht wird. „I pray every single day for a revolution.” Das Lied bereitet gleichsam den diskursiv und affektiv besetzten Boden für das bevorstehende Testverfahren. Ich frage Markus und zwei weitere Tester*innen, ob ich während der Aufführung Screenshots machen dürfe. Während sie zustimmen, interveniert zeitlich verzögert die Stimme der Analyse, um es mir zu untersagen. Wir sind hier also nicht unter uns, alles, was wir besprechen, wird mitgehört.

Vier nach Farben sortierte Teams à zwei Personen unterziehen sich dem Test für eine Teilnahme am „Goodbye Kreisky“-Experiment. Wir werden drei der acht Kandidat*innen kennenlernen, indem wir ihnen vorgegebene Fragen stellen. Pro Tester*innen-Team haben wir drei virtuelle Münzen zur Verfügung, mit denen wir nach Phase 3 und 6 für einen Kandidaten abstimmen dürfen. Es gehe um die Intelligenz der Gruppe: Wen lassen wir mit? Wer steht mit seinen Werten auf der ‚richtigen‘ Seite?

Abstimmen über Moritz, Davide und Valerie

Alle Kandidat*innen sitzen jeweils in einem leeren Raum mit Gertrud-Fotografie und einer dem Team entsprechenden Wandfarbe. Sie haben einen rot gemalten Streifen über der Augenpartie. Für Moritz aus Team Rot sei „Goodbye Kreisky“ ein absoluter Traum. Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität sind die Werte, die ihm wichtig sind. Wenn er mit einer beliebigen Person essen gehen könnte, so fiele seine Wahl auf Rosa Luxemburg. Davide vom Team Weiß gibt sich als rationaler, analytischer Mensch. Sein ganzer Stolz sind seine Familie und seine Rolle als Hausmann. Würde sein Haus in Flammen aufgehen, würde er als liebsten Gegenstand das Diplom seiner Frau retten. Verdächtig macht er sich, als er zustimmt, in eine rechte Partei einzutreten, wenn Gertrud es für das Projekt als strategisch wichtig erachten würde. Obwohl unsere Wahl in der Abstimmung auf Moritz fällt, kommt Davide in die nächste Runde.

Die 8 Kandidat*innen mit Gertrud Nesterval in der Mitte © Rita Brandneulinger

Hier lernen wir auch Valerie aus Team Grau kennen. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Blanca hegt sie einen Kinderwunsch. Dass sie dies beim Eignungstest nicht wahrheitsgemäß angegeben haben, wird den beiden als Geheimniskrämerei ausgelegt. Valerie fragt auch uns Tester*innen nach unserem Leben und Befinden. Sie wirkt wie eine sympathische Kämpferin für Gleichberechtigung und Solidarität und wird zum Tester*innen-Liebling.

In Phase 6 treffen sich zum ersten Mal alle 16 Zuschauer*innen für knappe drei Minuten in einem gemeinsamen virtuellen Raum. Hier erfährt man kurz etwas über die anderen Kandidat*innen und wie die Tester*innen sie einschätzen. Währenddessen läuft „Bella Ciao“ im Hintergrund. Im Original ein Protestlied von Arbeiter*innen, wurde es vor allem als Lied der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus bekannt, bevor es 2018 durch die Netflix-Serie „Haus des Geldes“ neuerlich zum Hit wurde. Soll hier gewinnen, wer gegen das System ist? Team Grau gewinnt.

Vom Testenden zum Getesteten oder: Worum geht es hier eigentlich?

Nach der Entscheidung richtet sich Jonas Nesterval, der selbst im Team Rot aktiv ist, nochmal an uns. Er gratuliert: Wir hätten die ‚richtige‘ Wahl getroffen. Im Kreisky-Test sei es gar nicht um die Kandidat*innen gegangen, sondern um uns. Wir sollten nun schnell das Nötigste einpacken, da wir in Kürze abgeholt werden würden. Er ist ganz aufgeregt und freut sich, während in aufpoppenden Zoom-Fenstern Performer*innen bereits dabei sind, sich abzuschminken. Der Davide-Performer (Niklas-Sven Kerck) raunt ihn an „Das ist doch alles nur ein Hirngespinst“, die Valerie-Performerin (Laura Hermann) verlangt nach der ausstehenden Gage. Künstler*innen, die im Allgemeinen eher für linke Utopien zu haben sind, interessierten sich hier offenbar primär fürs Geld. Oder wissen sie mehr? Wissen sie, dass hinter dem Projekt etwas anderes als ein sozialistisches Lebens(re)formmodell steht? Oder ist es ihnen schlicht zu autoritär?

Die Vision von der alternativen Gemeinschaft „Goodbye Kreisky“ bleibt für die Zuschauer*innen inhaltlich weitgehend leer und abstrakt. Vielleicht steht sie für ein sozialistisches Utopie-Projekt, vielleicht verweist sie aber auch nur auf die gegenwärtige visionäre Leere sozialdemokratischer Parteiprogramme? SPD und SPÖ haben ihre Rolle als Volkspartei in den vergangenen Jahren verloren, scheinen angesichts einer globalisierten und digitalisieren Welt nicht mehr genau zu wissen, für was und für wen sie eigentlich stehen.

Wir Tester*innen sollen Menschen als geeignet/ungeeignet für etwas auswählen, das wir im Kern also weder kennen noch genau verstehen. Grundlage der Auswahl sollen die ‚richtigen‘ Werte sein, die in sehr pauschaler und stereotyper Weise von den Kandidat*innen implizit repräsentiert oder explizit artikuliert werden. Die Rede von den ‚richtigen‘ Werten suggeriert dabei, dass wir wissen was ‚richtig‘ ist, dass wir Teil dieser Wertegemeinschaft sind. Aber kann man davon ausgehen? Kriterien und Grundlage einer Abstimmung über Menschen, die man lediglich ein paar Minuten hat sprechen hören, sind äußerst fragwürdig – und trotzdem tun wir es. Kleinste Äußerungen werden schnell in die Schubfächer rechts und links einsortiert.

Können wir uns als vermeintlich eher linkes Kulturpublikum am Ende auf die Schulter klopfen, weil wir das eher linke, liberale, lesbische Team Grau gewählt haben und damit als Sieger*innen aus dem Test hervorgehen? Wie sollen sich Zuschauer*innen fühlen, die bestimmte Facetten von Kandidat*innen, die in unserer Testrunde als rechts disqualifiziert wurden, so nicht interpretiert haben und dadurch ihrerseits unter Verdacht geraten, mit rechtem Wertegut zu sympathisieren? Wie reagiert ein Zuschauer*innen-Kollektiv, wenn es in Phase 6 hört, dass Dalibor aus Team Schwarz von einem Tester als Repräsentant des linksradikalen Antifa-Flügels gedeutet wurde, während er eine andere Testerin eher an einen rechtsgesinnten Politiker der FPÖ erinnert hat. Was sagen vorschnelle Einsortierungen ins rechte und linke Spektrum über die Menschen aus, die diese Einsortierungen vornehmen?

Möglich wäre auch, dass das alles nur eine Scheindebatte ist und es beim Kreisky-Test im Kern lediglich darum ging, im Mantel eines Unterhaltungsformats Daten über uns abzugreifen, die irgendwann gegen uns verwendet werden. Lose Hinweise darauf gab es in dem Gespräch mit Valerie, die sich bei der „Analyse“ massiv über den unzureichenden Datenschutz beschwerte.

Dass die Produktion all diese Überlegungen, Fragen und Interpretationsansätze aufwirft, ist die große Stärke von Nestervals „Der Kreisky-Test“. Das Kollektiv hat hier aus der Not buchstäblich eine Tugend gemacht. Das Online-Format funktioniert sowohl technisch als auch inhaltlich einwandfrei. Die Phasendramaturgie, das eingespielte Filmmaterial, das synchrone Interagieren mit den Performer*innen, die Lenkung durch die „Analyse“ – all das geht voll auf und lässt die in Corona-Zeiten zunehmend theater- und kunsthungrige Zuschauerin danach überraschend glücklich, inspiriert und frohen Mutes zurück. Von wegen die Kunst ist dieser Tage nicht systemrelevant!

 

„Der Kreisky-Test“ von Nesterval – online vom 15. April bis 12. Mai 2020, Restkarten ggf. hier.